Gärten der Verwandlung: Marivaux und Emmanuelle Bayamack-Tam

Maskerade und Begehren: drei Texte über den Triumph der Liebe

L’amour triomphe de tout, je le sais d’autant mieux que j’ai assisté à son triomphe sur la folie de mes parents, sur leur sociopathie, leur aboulie, leurs humeurs suicidaires, leurs états dépressifs, leurs phobies polymorphes, leur incapacité à élever une enfant comme à se projeter dans quelque avenir que ce soit. Aimés par Arcady et guidés par lui, je les ai vus défroisser leurs petites âmes roulées en boule jusqu’à devenir des adultes fréquentables – encore que leur maturité laisse beaucoup à désirer, mais bon, je m’y suis faite et j’ai de la maturité pour trois. (Bayamack-Tam, Arcadie, Farah über Arcady und ihre Eltern.)

Die Liebe siegt über alles, das weiß ich umso besser, als ich ihren Triumph über den Wahnsinn meiner Eltern, über ihre Soziopathie, ihre Willensschwäche, ihre Selbstmordgedanken, ihre Depressionen, ihre vielfältigen Phobien und ihre Unfähigkeit, ein Kind großzuziehen und sich eine Zukunft aufzubauen, miterlebt habe. Von Arcady geliebt und von ihm begleitet, habe ich gesehen, wie sie ihre kleinen, zusammengekauerten Seelen entfalteten und zu erwachsenen Menschen wurden – auch wenn ihre Reife noch zu wünschen übrig lässt, aber nun ja, ich habe mich daran gewöhnt und habe Reife für drei.

Was geschieht, wenn eine junge Frau beschließt, eine geschlossene Welt zu unterwandern – nicht mit Waffen, sondern mit List, Begehren und Verwandlung? Diese Grundkonstellation verbindet drei auf den ersten Blick höchst unterschiedliche Texte: Pierre de Marivaux’ Komödie Le Triomphe de l’amour (1732), 1 Emmanuelle Bayamack-Tams queere Theateradaption von Marivaux, À l’abordage (Éditions P.O.L., 2021), und ihren vorangegangenen Roman Arcadie (Éditions P.O.L., 2018). Zwischen höfischer Intrige, subversivem Spiel und psychologischer Selbstsuche entfaltet sich in allen drei Werken eine Dramaturgie des Eindringens: in einen Garten, ein Haus, eine Ordnung – oder in ein Selbst.

Clare Peploe, The Triumph of Love (2001), produziert und mitgeschrieben von Bernardo Bertolucci.

Die soziale Relevanz und die zeitgenössischen Anpassungen von Marivaux‘ zeitloser psychologischer Analyse menschlicher Gefühle, die bei ihm im Wesentlichen in einer konventionellen antiken Welt angesiedelt ist, wird in Bayamack-Tams À l’abordage! reinterpretiert, „résolument dans notre présent le plus contemporain“, sie behandelt „problématiques très actuelles“. Dies zeigt sich in der Sprache, den Anspielungen auf „no-sex“-Bewegungen, „mariage pour tous“ und „marche des fiertés“. Der Roman Arcadie schließlich ist konkreter in der Gegenwart verankert, indem er auch die Ängste der modernen Gesellschaft thematisiert: Elektrosensibilität, Klimawandel, digitale Kontrolle, Parfüms, Glyphosat. Liberty House ist eine „zone blanche“, ein bewusster Rückzugsort aus dieser als bedrohlich empfundenen Welt. Auch die Flüchtlingskrise spielt eine entscheidende Rolle, indem sie die idealistischen Prinzipien der Gemeinschaft auf die Probe stellt und deren Heuchelei offenbart.

Marivaux‘ Rebellion ist die des individuellen Herzens gegen gesellschaftliche Zwänge. À l’abordage! inszeniert eine kollektive Rebellion der sexuellen Freiheit. Farah in Arcadie durchläuft eine persönliche Rebellion gegen die Isolation ihrer Gemeinschaft und ihre engstirnigen Ansichten. Ihr Weg führt sie aus der vermeintlichen Sicherheit des Paradieses in die „Welt“, um dort eine neue Form des Aktivismus zu finden, der sich den Fehlern der alten Utopie bewusst ist und eine „brigade volante“ für eine offene, fluide und gerechtere Zukunft bilden will.

Was sich dabei verschiebt, ist nicht nur die Sprache und Form, sondern auch die literarische Anthropologie: Wer handelt, wer begehrt, wer verwandelt sich? Während Marivaux noch mit dem Motiv der Maskerade spielt – einer reversiblen Täuschung zur Wiederherstellung einer politischen Ordnung –, rückt Bayamack-Tam das queere Begehren selbst ins Zentrum: als produktive Störung, als performative Kraft und zugleich politische Forderung. Besonders im Roman Arcadie geht die Transformation über jede Rolle hinaus – sie wird zum existenziellen Prozess.

Die drei Texte erlauben einen exemplarischen Blick auf den Wandel von Genderbildern, Körperpolitiken und Liebessemantiken in der französischen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Dabei stellen sich zentrale Fragen, die diese vergleichende Untersuchung leiten: Wie verschiebt sich das Motiv der Maskerade im Übergang von Marivaux zu Bayamack-Tam – von der strategischen Verkleidung zur Verkörperung von fluidem Begehren? Welche Ordnungen werden jeweils unterwandert, und was tritt an ihre Stelle: eine neue Gemeinschaft, ein Paar, ein radikalisierter Individualismus? Ist das Begehren in diesen Texten subversiv, utopisch, zerstörerisch – oder etwas Drittes? In welcher Weise sind die Figuren Spiegel ihrer Zeit – und wie brechen sie aus diesen Spiegelbildern aus? Und zuletzt: Lässt sich Le Triomphe de l’amour heute noch als harmloses Lustspiel lesen – oder eröffnet gerade seine queere Weiter- und Umschrift durch Bayamack-Tam neue Lesarten seines ursprünglichen Subtextes?

Marivaux zeigt den Triumph der Liebe über die strikte, liebesfeindliche Philosophie Hermocrates. Marivaux‘ Stück mündet in die klassische Hochzeit der Liebenden, die die soziale Ordnung wiederherstellt. Bayamack-Tam greift dieses Schema in À l’abordage! auf, indem Sasha die abstinente Doktrin Kinbotes stürmt. Gleichzeitig aber präsentiert Arcadie eine Gemeinschaft, die auf der freien Liebe basiert, nur um deren interne Heucheleien und Scheitern aufzuzeigen. Dies etabliert einen kritischen Dialog über die Grenzen jeder utopischen Dogmatik, sei sie liebesfeindlich oder liebesverherrlichend. À l’abordage! erweitert Marivaux‘ Hochzeit zu einer radikalen Feier des „mariage pour tous“ und der queeren Liebe, die alle Normen sprengt. Der Höhepunkt ist ein „mariage pour tous, festif et féérique, encourage le désir transgénérationnel, et se conclut sur une marche des fiertés jouissive et spectaculaire“. Diese radikale Erweiterung des Liebesbegriffs und die Feier queerer Identitäten sprengt die traditionellen Grenzen der Komödie. Es ist ein Aufruf zu umfassender Akzeptanz und Freiheit des Begehrens. In Arcadie ist der Ausgang viel tragischer und desillusionierender. Die Utopie scheitert an ihren eigenen Widersprüchen. Die Gemeinschaft, die sich dem Schutz und der Liebe verschrieben hat, zeigt sich intolerant gegenüber Migranten und fällt schließlich einem kollektiven Selbstmord zum Opfer. Die Protagonistin Farah überlebt und schmiedet Pläne für eine neue, offenerer und nomadenhaftere Gemeinschaft. Die Botschaft ist nuancierter: Utopien sind zerbrechlich, und wahre Nächstenliebe erfordert mehr als nur idealistische Prinzipien. Liebe allein triumphiert nicht, wenn sie nicht universell und bedingungslos ist. Arcadie kulminiert im tragischen kollektiven Selbstmord der Gemeinschaft und Farahs schmerzhafter Einsicht in deren Scheitern. Dies führt zu einer tiefergehenden Reflexion über die Brüchigkeit von Utopien und die Notwendigkeit, eine neue Form der Gemeinschaft zu denken, die inklusiver und anpassungsfähiger ist.

Pierre de Marivaux, Le Triomphe de l’amour

Pierre de Marivaux’ Komödie Le Triomphe de l’amour (1732) ist ein klassisches Beispiel der französischen Komödientradition des 18. Jahrhunderts, in der Liebe, Maskerade und soziale Ordnung auf raffinierte Weise ineinandergreifen. Das Stück vereint gesellschaftliche Satire mit psychologischer Feinzeichnung und ist zugleich ein scharfsinniges Spiel mit Geschlechterrollen und Machtverhältnissen.

Triumph der Liebe von Pierre Carlet de Marivaux, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 1985, Regie: Luc Bondy, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Leontine: Libgart Schwarz, Phokion: Jutta Lampe, © Ruth Walz.

Die Handlung kreist um Prinzessin Léonide, die erfährt, dass ein junger Mann namens Agis, rechtmäßiger Thronfolger, vom Philosophen Hermocrate versteckt gehalten wird, um ihn von der Welt und der Monarchie fernzuhalten. Hermocrate, ein entschiedener Gegner der Monarchie, will Agis in den Idealen der Vernunft und Tugend erziehen, fern jeder Leidenschaft – vor allem der Liebe. Léonide, zugleich neugierig und fasziniert, beschließt, Agis kennenzulernen und ihn für sich zu gewinnen. Um Zutritt zu Hermocrates abgeschottetem Haus zu erlangen, verkleidet sie sich als junger Mann namens Phocion. Ihre Zofe Corine begleitet sie in Männerkleidung.

Léonide gelingt es durch eine Kette von Lügen und Verführungen, das Vertrauen von Hermocrates Schwester Léontine zu gewinnen, ebenso wie das von Hermocrate selbst – beide verlieben sich in die vermeintliche männliche Gestalt. Die Komödie kulminiert in einem Netz wechselseitiger Täuschungen, bei dem Léonide nicht nur ihre eigene Identität mehrfach maskiert, sondern auch die Gefühle anderer instrumentalisiert, um ihr Ziel zu erreichen. Schließlich gibt sie sich zu erkennen und gewinnt Agis’ Liebe – der durch diese Wendung auch politisch „zurückerobert“ wird. Die Liebe triumphiert: Léonide erhält Agis, und mit ihm den zukünftigen Thron.

Le Triomphe de l’amour ist ein virtuos gebautes Verkleidungsspiel, das auf den ersten Blick wie eine harmlose Komödie erscheint, in Wahrheit aber eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Themen Macht, Geschlecht, Gefühl und Manipulation ist. Die Figur der Léonide steht im Zentrum: Sie ist eine radikal aktive Heldin, die alle Regeln der weiblichen Passivität und Tugend durchbricht. Sie lügt, verführt, führt andere bewusst in die Irre – und das nicht aus Bosheit, sondern im Namen der Liebe.

Marivaux dekonstruiert mit subtiler Ironie die Geschlechterrollen seiner Zeit: Léonide tritt als „Phocion“ auf, übernimmt männliche Handlungsmacht, während die Männer – Hermocrate, Agis, sogar die gelehrte Léontine – entweder passiv, getäuscht oder emotional überfordert sind. Gleichzeitig stellt das Stück die Frage, ob Liebe ein legitimes Mittel zur Machtausübung ist. Léonides Triumph ist ambivalent: Er zeigt die Macht des Gefühls über die Vernunft, aber auch die Gefahr einer „instrumentellen Liebe“, die andere bloß benutzt.

Die Sprache Marivaux’ – der berühmte marivaudage – ist von psychologischer Feinheit, rhetorischer Eleganz und ständiger Verschiebung geprägt. Dialoge werden zu tänzerischen Duellen, in denen Wahrheit und Täuschung kaum zu trennen sind. Gerade darin liegt der Reiz des Stücks: Die Liebe erscheint nicht als naturhafte Kraft, sondern als rhetorische, soziale und performative Praxis.

Insgesamt ist Le Triomphe de l’amour ein komödiantisches Kammerspiel, das in seiner Modernität überrascht: Es thematisiert Gender als Rolle, Liebe als soziale Strategie und Macht als Spiel mit Identitäten – Themen, die in heutigen queeren Lesarten (wie z. B. in À l’abordage) neue Relevanz gewinnen.

À l’abordage von Bayamack-Tam

À l’abordage, eine freie Theateradaption von Marivaux’ Le Triomphe de l’amour, überträgt die Struktur der klassischen Komödie der Masken und Verkleidungen in eine zeitgenössische, queere Gemeinschaft. Im Zentrum steht Sasha, eine junge Frau voller Energie und sexueller Selbstgewissheit, die sich in Ayden verliebt – einen ebenso schönen wie entrückten Jungen, der in einer abgeschotteten, asketischen Gemeinschaft lebt. Diese wird von dem autoritären Kinbote und seiner Schwester Théodora geführt, die jegliche Liebe, Sexualität und äußere Einflüsse aus ihrer „reinen“ Welt verbannt haben.

Sasha beschließt, in diese hermetisch abgeschottete Gemeinschaft einzudringen, um Ayden zu „erwecken“ und die Welt der Liebe und Sinnlichkeit in das Herz der Abgeschiedenheit zu tragen. Gemeinsam mit Carlie, ihrer Freundin, schmiedet sie einen Plan: als Jungen verkleidet, geben sie sich als Wanderstudenten auf Sinnsuche aus, um am spirituellen Seminar Kinbotes teilzunehmen. Sasha ist getrieben von einer Mischung aus Aufklärungsdrang, erotischem Begehren und revolutionärem Gestus: Sie will die Ordnung der Enthaltsamkeit mit den Waffen der Liebe zerschlagen – „À l’abordage !“, ruft sie aus, der Schlachtruf einer Piratin der Lust.

Die Komödie lebt von Verkleidung, Verstellung und rhetorischer Gewitztheit – ganz in der Tradition von Marivaux. Zugleich ist Bayamack-Tams Stück ein kluges Spiel mit Genderrollen, sexueller Identität und der politischen Dimension von Lust. Sasha und Carlie sind weder eindeutig weiblich noch männlich, sondern verkörpern eine fließende, queere Subjektivität, die sich bewusst den binären Normen entzieht. In der Gemeinschaft stoßen sie auf eine fragile Ordnung, in der Spiritualität als Abwehrmechanismus gegen Begehren funktioniert – ein Rückzugsraum vor den Zumutungen der Welt, der aber in Bigotterie und Kontrolle umschlägt.

Die Sprache ist witzig, temporeich, oft zotig, dann wieder poetisch aufgeladen. Der Text hinterfragt auf humorvolle Weise die Logik asketischer Weltflucht und stellt ihr eine Lebenshaltung entgegen, die Lust, Leidenschaft und affektive Nähe als Quellen von Wahrheit und Erkenntnis begreift. Sasha wird dabei zur Verkörperung einer queeren Ethik des Begehrens, die gegen alle „Ordnung“ aufbegehrt und durch subversive Verstellung eine neue, wahrhaftigere Ordnung herstellt – im Sinne einer Entfaltung des Selbst.

Arcadie von Bayamack-Tam

In Arcadie erzählt Emmanuelle Bayamack-Tam die Geschichte der jungen Farah, die mit ihren Eltern in einer abgeschiedenen, selbsternannten utopischen Kommune namens Liberty House lebt. Diese Gemeinschaft an der französisch-italienischen Grenze versteht sich als Rückzugsort für Menschen, die sich dem modernen Leben mit seinen technologischen, gesellschaftlichen und normativen Zumutungen entziehen wollen. Geführt wird die Kommune von dem charismatischen und ambivalenten Arcady, einer Art Guru, der sowohl Schutz als auch Macht ausstrahlt. In dieser Umgebung wächst Farah auf, zunächst in einem Zustand kindlicher Bewunderung und devoter Hingabe an Arcady, später jedoch zunehmend kritisch und selbstreflexiv.

Die Handlung entfaltet sich durch Farahs Ich-Erzählung, die in einem poetischen, oft ironisch gebrochenen Ton ihre Kindheit und Jugend schildert. Farah beschreibt sich selbst als unansehnlich und vom sozialen Leben ausgeschlossen. In Liberty House aber findet sie einen Raum, in dem sie, so glaubt sie zumindest, angenommen wird. Sie verehrt Arcady, der für sie eine Vaterfigur, ein Heiler und möglicherweise ein zukünftiger Liebhaber ist. Zwischen kindlicher Schwärmerei, erotischer Aufladung und Machtasymmetrie entwickelt sich eine Beziehung, die immer wieder auf der Schwelle zum Inzestuösen und Missbräuchlichen balanciert.

Die scheinbare Utopie Liberty House beginnt jedoch zu bröckeln, als sich Farah weiterentwickelt und erkennt, wie selektiv und repressiv die Werte der Gemeinschaft in Wirklichkeit sind. Trotz der proklamierten Toleranz und Libertinage herrschen implizite Normen, Ausgrenzung und eine autoritäre Führungsstruktur. Dies wird insbesondere deutlich in der Frage des Umgangs mit Sexualität, Genderidentität und Migration: Während Liberty House einerseits queere Identitäten akzeptiert, bleibt es in anderen Bereichen – etwa der Aufnahme von Geflüchteten – abweisend oder widersprüchlich.

Die Identitätsfindung Farahs steht im Zentrum des Romans. Im Laufe der Handlung durchläuft sie eine körperliche, sexuelle und politische Emanzipation. Ihre Transition zur transidenten Person ist kein linearer Prozess, sondern spiegelt die komplexen Bedingungen wider, unter denen Selbstwerdung im Spannungsfeld von Norm, Begehren, Macht und Selbstbestimmung geschieht. Farah lehnt zunehmend die Bevormundung durch Arcady ab und beginnt, für ihre eigene Wahrheit einzustehen – sei es im Umgang mit ihrem Körper oder in ihrem politischen Engagement für Migranten.

Emmanuelle Bayamack-Tam über Arcadie.

Bayamack-Tam entwirft in Arcadie keine klassische Utopie, sondern eine subtile Dystopie, die sich hinter dem Versprechen von Freiheit und Liebe verbirgt. Die vermeintliche Idylle ist durchzogen von Machtmissbrauch, sozialen Ausschlüssen und paternalistischer Kontrolle. Der Roman stellt dabei radikal die Frage, ob eine Gesellschaft, die individuelle Entfaltung predigt, diese auch wirklich ermöglicht – oder ob sie nicht vielmehr neue Formen der Normierung und Unterdrückung hervorbringt.

Mit großer sprachlicher Intensität, Ironie und einer klarsichtigen psychologischen Durchdringung erzählt Arcadie nicht nur eine persönliche Coming-of-Age-Geschichte, sondern reflektiert zugleich über die politischen und ideologischen Bruchlinien der Gegenwart: Gender, Körper, Begehren, Migration und das Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung. Farahs Weg ist dabei ein emanzipatorischer Akt der Selbstbehauptung gegen eine Gemeinschaft, die sich als Arcadie ausgibt, in Wirklichkeit aber einen Garten mit hohen Mauern darstellt.

Vergleich von À l’abordage und Arcadie

Sowohl À l’abordage als auch Arcadie erzählen von geschlossenen Gemeinschaften, die sich von der Welt abkehren, um ein vermeintlich reines Leben zu führen – sei es aus spirituellen, ökologischen oder therapeutischen Gründen. Beide Werke entlarven die autoritären Tendenzen solcher Utopien und kontrastieren sie mit jugendlicher Rebellion und einem affirmativen, oft queeren Begehren. Sasha in À l’abordage und Farah in Arcadie sind Figuren der Verwandlung: Sie unterwandern autoritäre Strukturen, hinterfragen starre Genderordnungen und fordern ein Recht auf Liebe, Körper und Identität. Während Arcadie jedoch introspektiver und melancholischer die ambivalenten Mechanismen von Macht, Liebe und Selbstwerdung schildert, wählt À l’abordage die Form der komödiantischen Offensive: Hier wird das Begehren nicht nur als Problem, sondern als Lösung gefeiert. Beide Werke setzen damit je auf ihre Weise eine queere Poetik der Befreiung gegen den Zwang der Reinheit.

Trotz ihrer unterschiedlichen Gattungen – Roman und Theaterstück – zeigen Arcadie und À l’abordage frappierende strukturelle Parallelen in der Figurenkonstellation, die sich um eine geschlossene Gemeinschaft und deren subversive Infiltration durch eine queere Hauptfigur gruppiert.

Farah (Arcadie) und Sasha (À l’abordage): Beide sind junge, queere Protagonistinnen, die sich als Außenseiterinnen in einem repressiven System behaupten. Farah verehrt zunächst den charismatischen Anführer Arcady, beginnt aber später, seine Autorität zu hinterfragen. Sasha hingegen kommt von außen und ist von Beginn an eine Kämpferin gegen die asketische Herrschaft Kinbotes. Beide verkörpern eine lustvolle, widerständige Kraft, die das System von innen heraus destabilisiert.

Arcady (Arcadie) und Kinbote (À l’abordage): Beide sind autoritäre Führungsfiguren mit spirituellem oder moralischem Anspruch. Arcady wirkt väterlich und verführerisch, Kinbote dogmatisch und abweisend – doch beiden wohnt ein repressiver Zug inne: Sie regeln das Begehren anderer und beanspruchen Kontrolle über Körper und Moral. Kinbote ist dabei eine dunkle, asketische Variante des narzisstisch-liberalen Arcady.

Victor (Arcadie) und Théodora (À l’abordage): Beide sind „rechte Hände“ der Autoritätsfiguren – Victor als Arcadys Partner, Théodora als Kinbotes Schwester. Sie stabilisieren die bestehende Ordnung, wirken kalt, distanziert, geschlechtslos. Beide verkörpern ein asketisches Ideal der Unterdrückung von Begehren.

Carlie (À l’abordage) und Kirsten (Arcadie): Carlie ist die zynischere, nüchternere Begleiterin von Sasha – wie Kirsten in Arcadie eine Figur mit scharfem Blick auf die Verhältnisse. Beide sind ironisch gebrochene Komplizinnen, die zwischen Unterstützung und Distanz pendeln.

Ayden (À l’abordage) und Farah (als Objekt) / Victor (als Spiegel) (Arcadie): Ayden entspricht nicht direkt einer Person in Arcadie, fungiert aber ähnlich wie Farah als Projektionsfläche für das Begehren – nur umgekehrt: In À l’abordage wird Ayden von Sasha „erweckt“, während in Arcadie Farah selbst die Begehrende ist. Ayden steht wie Victor für eine passive Männlichkeit, die unter dem Einfluss repressiver Systeme entmachtet wurde.

In beiden Texten wird eine geschlossene, utopisch konstruierte Gemeinschaft von innen oder außen in Frage gestellt – durch das Begehren, durch das Spiel mit Gender, durch Lust und Liebe. Die Konstellationen sind Varianten desselben Konflikts: Ordnung versus Begehren, Kontrolle versus Transformation.

Alle drei Werke – Marivaux’ Le Triomphe de l’amour, Bayamack-Tams Roman Arcadie und ihre Theateradaption von Marivaux À l’abordage – teilen eine strukturelle Grundkonstellation: Eine junge, entschlossene Hauptfigur dringt in eine abgeschottete Welt ein, um Liebe (oder Begehren) gegen eine asketische, kontrollierende Ordnung durchzusetzen. In dieser wiedererkennbaren Grundform ergeben sich zugleich bedeutsame Abweichungen, die Bayamack-Tams Verhältnis zu Marivaux aufschlussreich beleuchten.

FunktionLe Triomphe de l’amourÀ l’abordageArcadie
Verkleidete Infiltratorin, getrieben von LiebeLéonide (→ Phocion)Sasha (in Männerkleidung)Farah (nicht verkleidet, aber sich wandelnd)
Zurückgezogener junger Mann, Objekt der BegierdeAgisAyden(Inversion) Farah selbst ist Objekt und Subjekt
Rationalist, kontrollierende AutoritätsfigurHermocrateKinboteArcady
Gefährliche alte Jungfer / kontrollierte SchwesterfigurLéontineThéodoraVictor (als entsexualisierter, autoritärer Partner)
Dienerin / Komplizin mit Abstand zur HauptfigurCorineCarlieKirsten

Bayamack-Tams Stück À l’abordage ist eine direkte, queere und politisierte Hommage an Marivaux’ Komödie – nicht ihre Entsorgung. Die Rollen sind nicht zerstört, sondern transformiert: Sasha ist wie Léonide klug, energisch und bereit zu lügen und zu verführen, aber sie ist auch sexuell explizit, selbstironisch und queerer, nicht auf eine Hetero-Konstellation beschränkt. Das klassische Motiv der Maskerade wird aktualisiert: Die Gender-Verkleidung ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck einer fluideren, post-binären Identität. Ayden wiederum ist kein idealisierter Erbprinz, sondern ein verunsicherter junger Mann, von seiner Umwelt entsexualisiert – eine Art queere Dryade. Kinbote ist die Karikatur eines spätbürgerlichen Hermocrate: weniger philosophisch, mehr sektiererisch, seine Weltanschauung repressiv statt aufklärerisch.

In Arcadie wird die Struktur komplexer aufgebrochen: Farah ist zugleich Heldin und Ziel der Begierde, Erzählerin und Subjekt einer tiefgreifenden Transformation. Es gibt keine Maskerade mehr – Farah ist selbst „Verwandlung“. Arcady wiederum erscheint ambivalenter als Kinbote oder Hermocrate: nicht nur ein Dogmatiker, sondern ein narzisstischer, charismatischer Vater-Ersatz mit subtilen Missbrauchstendenzen. Die Gewalt des Systems ist hier intimer, emotionaler – und schwieriger zu fassen.

Rationalismus und Herzenssache

Marivaux, als Vertreter der französischen Frühaufklärung (1715-1750), konkretisiert, problematisiert und löst in seinen Theaterstücken und literarischen Texten auf verschiedene Weise den Gegensatz von Herz und Vernunft. Marivaux nimmt eine differenzierte Stellung zum Gegensatz von Cœur und Raison ein, die sich deutlich von der rationalistischen Tradition unterscheidet. Im Gegensatz zu Descartes‘ Rationalismus betont Marivaux die Priorität der inneren Erfahrung gegenüber abstrakten Prinzipien, auch die religiöse Wahrheit ist Herzensangelegenheit und nicht rationale Deduktion. Marivaux geht davon aus: Jeder Mensch hat Gefühle; daher hat er auch den Schlüssel zu allen Gemütern: Nur er allein dringt in sie ein und erhellt sie.

In Le Jeu de l’amour et du hasard (1730) wird der Konflikt zwischen Herz und Vernunft durch die Verkleidungsstrategie dramatisiert. Silvia und Dorante sind „tiraillés entre cœur et raison“ aufgrund ihrer Gefühle für Personen, die sie für gesellschaftlich niedriger stehend halten. Der Konflikt äußert sich in inneren Widersprüchen (Die Protagonisten kämpfen gegen Gefühle an, die ihrer gesellschaftlichen Vernunft widersprechen.), in sprachlicher Verwirrung (Das Herz spricht, bevor der Verstand begreift.) und in sozialen Barrieren (Die scheinbaren Standesunterschiede schaffen rationale Hindernisse für emotionale Wahrheit.)

Auch in der sozialen Komödie L’Île des esclaves (1725) wird der Gegensatz durch den Rollentausch problematisiert. Marivaux zeigt, wie rationale Gesellschaftsordnung und menschliche Gefühle in Konflikt geraten: Trivelin repräsentiert eine aufgeklärte Vernunft, die zur Humanisierung führen soll, die „morale du cœur“ wird als Lösung für soziale Ungerechtigkeit präsentiert, schließlich löst sich der Konflikt eher durch emotionale Einsicht als durch rationale Argumentation.

In Les Fausses Confidences (1737) wird der Gegensatz durch Manipulation der Sprache konkretisiert. Der doppelte Sprachgebrauch zeigt Dubois als Manipulator, der rationale Strategien für emotionale Ziele nutzt. Araminte muss zwischen gesellschaftlicher Vernunft und Herzensneigung wählen. Der Konflikt „entre cœur et raison“ wird internalisiert.

Das Experimentalstück La Dispute (1744) zeigt den Konflikt in einem quasi-wissenschaftlichen Setting. Die isoliert aufgewachsenen jungen Menschen erleben die première rencontre mit Liebe und Eifersucht ohne gesellschaftliche Konditionierung. Hier konkretisiert Marivaux den Gegensatz natürlicher Gefühlsregungen vs. ersten rationalen Überlegungen, die Rolle des Narzissmus und des amour-propre als Vermittlungsinstanzen, schließlich die Unvermeidlichkeit emotionaler Reaktionen trotz rationaler Überlegungen.

Marivaux identifiziert die Selbstliebe („amour-propre“) als zentrale Problematik. Sie wird zu einer ambivalenten Instanz, die Liebe sowohl ermöglicht, als auch verhindert: positiv wirkend als Grundlage für Selbsterkenntnis und authentische Gefühle, negativ als Quelle von Eitelkeit, Manipulation und emotionaler Blindheit. Philosophisch bildet Selbstliebe das Fundament der Subjektivität in aufklärerischem Denken. In seinen Journaux entwickelt Marivaux eine Kritik an abstrakter Rationalität.

Marivaux problematisiert, wie gesellschaftliche Vernunft authentische Gefühle überformt. Seine Protagonisten müssen soziale Vorurteile überwinden, Standesschranken emotional durchbrechen, Authentizität gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen behaupten. Marivaux entwickelt keine einfache Hierarchie, sondern eine dynamische Synthese. Das „sentiment“ wird zum „sentiment raisonnable“, emotionale Intelligenz, so dass Gefühle durch Erfahrung verfeinert werden, reflexive Sensibilität, wobei das Herz lernt, sich selbst zu verstehen, schließlich praktische Weisheit, hierbei dient Vernunft der Verfeinerung, nicht der Unterdrückung der Gefühle. Auch in seinen Romanen (La Vie de Marianne, Le Paysan parvenu) zeigt Marivaux eine solche evolutionäre Entwicklung: Marianne lernt, ihre Gefühle zu analysieren und zu artikulieren, Jacob entwickelt durch Körpererfahrung eine empirische Weisheit. Beide Protagonisten erreichen eine Integration von Herz und Verstand.

Marivaux sieht in der Sprache das Medium der Synthese. Marivaudage ist eine Technik, das Unbewusste bewusst zu machen, die fausses confidences sind eine Methode, wahre Gefühle zu enthüllen, und der Dialog ist ein Prozess der emotionalen Selbsterkenntnis. Marivaux‘ Technik der double énonciation macht den Konflikt sichtbar, als bewusste und unbewusste Kommunikation gleichzeitig, so erkennen Zuschauer den Konflikt vor den Protagonisten, aus der Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem entsteht Erkenntnis, Komik, Ironie. Die „surprise de l’amour“ dient als dramaturgisches Mittel zur Problematisierung des Gegensatzes: Unerwartete Gefühle durchbrechen rationale Pläne, Selbsterkenntnis erfolgt durch emotionale Schocks, Ironie entsteht aus der Diskrepanz zwischen Absicht und Gefühl. Marivaux verwendet quasi-wissenschaftliche Settings, in L’Île des esclaves ein Gesellschaftsexperiment, in La Dispute ein Naturzustandsexperiment und in Le Jeu de l’amour et du hasard ein Identitätsexperiment.

Marivaux löst den Gegensatz von Cœur und Raison nicht durch einfache Hierarchisierung, sondern durch eine komplexe Synthese, die empiristische Erkenntnistheorie, aufklärerische Vernunftkritik und christliche Moralphilosophie verbindet. Seine Position kann als „Empirisme du cœur“ charakterisiert werden: Die Vernunft wird nicht negiert, aber dem Gefühl wird eine epistemologische Priorität zugestanden, da es authentischere Selbst- und Welterkenntnis ermöglicht. Diese Synthese macht Marivaux zu einem wichtigen Vertreter der frühen Aufklärung, die noch nicht die radikale Vernunftgläubigkeit der Spätaufklärung zeigt, sondern eine humanistische Balance zwischen verschiedenen Erkenntnisformen sucht. Seine dramaturgischen Innovationen und psychologischen Einsichten haben die Entwicklung des modernen psychologischen Theaters maßgeblich beeinflusst.

Hermocrate, raison et cœur

Hermocrate verkörpert in Marivaux‘ Triomphe de l’amour den Typus des aufklärerischen Philosophen, der die Vernunft über alle Gefühle stellt. Er lebt zurückgezogen mit seiner Schwester Léontine und dem jungen Agis in einer Art philosophischen Enklave, die vollständig der Wissenschaft und der Weisheit gewidmet ist. Hermocrate hat den jungen Agis systematisch dazu erzogen, „die Usurpatorin und Mörderin Leonidas, ihre Nachkommen und alle Frauen zu hassen“. Diese Erziehung zur Frauenfeindlichkeit predigt die „Gefahren, die das andere Geschlecht repräsentiert“ und hat sowohl sich selbst als auch seine Schutzbefohlenen vor der „Irrationalität der Liebe“ zu bewahren gesucht.

Marivaux nutzt Hermocrate als Verkörperung einer extremen rationalistischen Position, die typisch für bestimmte Strömungen der Aufklärung war. Der Philosoph repräsentiert jene Denkrichtung, die Gefühle als Störfaktoren der reinen Vernunft betrachtet. Seine Bibliothek wird zur Metapher für eine geordnete, aber leblose Welt der Abstraktion. Das Theaterstück zeigt Marivaux‘ kritische Haltung gegenüber einer Philosophie, die das Menschliche zugunsten des rein Rationalen verleugnet. Hermocrates Niederlage durch Léonides Verführungskünste demonstriert, dass auch der vernünftigste Mensch nicht vor den menschlichen Leidenschaften gefeit ist. Die Szene, in der „die Bücher zu Boden fallen“, symbolisiert den Zusammenbruch seiner rationalen Ordnung unter dem Ansturm der Gefühle.

Marivaux entlarvt durch Hermocrates Charakter die Heuchelei einer Philosophie, die vorgibt, über menschliche Schwächen erhaben zu sein. Der Philosoph, der jahrelang gegen die Liebe gepredigt hat, erliegt selbst binnen kurzer Zeit den Reizen „Aspasies“ (Léonides weiblicher Identität). Diese Wandlung vom „misanthropen und misogynen“ Denker zum „zukünftigen Bräutigam“ zeigt die fundamentale Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und Praxis.

Das Stück zeigt letztendlich den Triumph der menschlichen Natur über künstliche Konstrukte. Hermocrates Kapitulation vor der Liebe demonstriert, dass selbst die elaboriertesten philosophischen Systeme scheitern, wenn sie die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse ignorieren. Seine Niederlage ist sowohl komisch als auch exemplarisch – sie entlarvt die Grenzen einer rein rationalistischen Weltanschauung. Marivaux will zeigen, dass wahre Menschlichkeit die Integration von Vernunft und Gefühl erfordert. Das Theaterstück plädiert nicht für die Abschaffung der Vernunft, sondern für ihre Versöhnung mit den menschlichen Leidenschaften. Hermocrates Wandlung vom rigiden Philosophen zum verliebten Mann symbolisiert diese notwendige Balance zwischen „raison“ und „cœur“.

Die Figur des Hermocrate dient Marivaux somit als Vehikel für eine fundamentale Kritik an einseitigen Weltanschauungen und als Demonstration der unwiderstehlichen Kraft menschlicher Authentizität gegenüber künstlichen Dogmen – eine zutiefst aufklärerische, aber auch zutiefst menschliche Botschaft.

Ablehnung der Liebesverneinung

Parce que l’amour, c’est bien joli, surtout dans les chansons, mais c’est surtout extrêmement nocif. Et contrairement à toi, je sais de quoi je parle. Durant toute la première partie de ma vie, l’amour a été mon principal sujet d’investigation et de documentation. Et tu veux que je te livre le résultat de toutes ces années d’observation ? (Bayamack-Tam, À l’abordage !, Kinbote spricht zu Sasha)

Weil Liebe zwar schön ist, vor allem in Songs, aber vor allem extrem schädlich. Und im Gegensatz zu dir weiß ich, wovon ich rede. In der ersten Hälfte meines Lebens war Liebe mein Hauptthema, das ich erforscht und dokumentiert habe. Und du willst, dass ich dir das Ergebnis all dieser Jahre der Beobachtung verrate?

Hier formuliert Kinbote eine explizite und detaillierte Kritik an der Liebe, die weit über Hermocrates Zurückhaltung hinausgeht. Er sieht Liebe als „extremement nocif“ und führt sogar „petits crimes ordinaires“ wie Lügen und Schönheitswahn als Beweis an. Diese Passage zeigt, wie Bayamack-Tam die philosophische Position der Gegenspieler vertieft und rationalisiert, um einen stärkeren Widerstand gegen die triumphierende Liebe zu schaffen, was das Konfliktpotenzial des Stücks erhöht und es aktueller macht, indem es eine bewusste Anti-Liebes-Haltung in den Mittelpunkt stellt, die in unserer romantisierten Gesellschaft ungewöhnlich ist.

Die Figuren Kinbote in À l’abordage ! und Arcady in Arcadie lassen sich als moderne Varianten des Hermocrate aus Marivaux’ Triomphe de l’amour lesen. In beiden Fällen geht es um charismatische, patriarchal auftretende Führungsfiguren, die abgeschottete Gemeinschaften anleiten, in denen das Gefühl unterdrückt, die Liebe reguliert oder gar verboten ist. Wie Hermocrate sind sie Vertreter einer Weltanschauung, die auf Distanz zur Welt, auf Rationalität, Kontrolle und Reinheit beruht – und die gerade deshalb an der Realität scheitert.

Die Neuinterpretationen von Emmanuelle Bayamack-Tam, insbesondere À l’abordage! und der Roman Arcadie, nehmen Marivaux‘ Grundgerüst und füllen es mit radikal neuen Bedeutungen und zeitgenössischen Sensibilitäten. Der philosophische Kern der Gemeinschaft in Marivaux‘ Le Triomphe de l’amour betrifft den Philosophen Hermocrate, seine Gemeinschaft um die Ablehnung von Liebe und Geschlechtervermischung herum aufgebaut hat. Seine Prinzipien sind streng und auf die Vermeidung emotionaler „Verwirrungen“ ausgerichtet. In Bayamack-Tams À l’abordage! Hier wird Marivaux‘ Prämisse beibehalten und sogar akzentuiert. Kinbote führt eine „communauté d’abstinents“, die sich dem Wunsch entzieht und die Liebe als „extremement nocif“ betrachtet. Die Protagonistin Sasha tritt an, um diese Ideologie aufzubrechen („pulvériser“). Diese Adaption ist eine direkte, aber radikalisierte Umkehrung des Marivaux’schen Originals, in dem die Liebe die starre Vernunft überwinden soll. Im krassen Gegensatz dazu ist Liberty House in Bayamack-Tams Arcadie eine Gemeinschaft, die auf dem Prinzip der „amour libre et du désir sans entraves“ (freien Liebe und des ungezügelten Begehrens) gegründet ist. Arcady, der charismatische Anführer, predigt „jouissance sans entraves ni conditions“ (Genuss ohne Hemmungen oder Bedingungen). Er glaubt, dass die Liebe alles überwindet („l’amour triomphe de tout“), und rettet die Mitglieder vor ihren psychischen und sozialen Problemen. Dies ist eine „figur inversée“ zu Marivaux‘ und Kinbotes Anti-Liebes-Position und schafft einen komplexeren Raum für die Untersuchung der Grenzen einer solchen Utopie.

Kinbote als parodierter Hermocrate in À l’abordage !

In Bayamack-Tams Theateradaption tritt Kinbote als eine direkte Fortschreibung von Hermocrate auf – ironisiert, vergroteskt, aber mit der gleichen Grundstruktur. Er lebt mit seiner Schwester Théodora und dem Zögling Ayden in einer abgeschlossenen, „gereinigten“ Welt, die jede Form emotionaler Unordnung – insbesondere die Liebe – ausschließt. In der Beschreibung dieser Welt klingt Marivaux’ „Enklave der Vernunft“ deutlich an: „Pas de femme, pas de viande, pas de technologie, rien que des livres, des fleurs et des arbres.“ (À l’abordage !) Wie Hermocrate glaubt Kinbote, seine Zöglinge durch Askese und geistige Schulung von den Gefahren der Leidenschaften befreien zu können. Er ist, wie Hermocrate, ein „rationalistischer Erzieher“, der seine Autorität aus einem scheinbar höheren Ideal bezieht: Ordnung, Kontrolle, Vernunft.

Doch Bayamack-Tam bringt Kinbotes Figur ins Groteske: Die Welt, die er erschaffen hat, wirkt nicht wie ein Hort der Weisheit, sondern wie eine karikaturhafte Sekte. Kinbotes Autorität erscheint lächerlich, sein Misstrauen gegenüber der Liebe wie eine neurotische Projektion. Sasha, die weibliche Intrigantin und Verführerin, zielt genau darauf: Sie tritt – wie Léonide bei Marivaux – in Verkleidung in die Gemeinschaft ein und hebt deren scheinbare Ordnung durch Liebe, Begehren und Täuschung aus den Angeln.

Wie Hermocrate erliegt Kinbote nicht nur der emotionalen Übermacht, sondern wird ideologisch entlarvt: Nicht die Liebe ist gefährlich, sondern ihre Unterdrückung. Sasha sagt: „Kinbote et Théodora méritent une punition à la hauteur de leur crime, qui est un crime contre l’humanité.“ Die „Erziehung zur Liebesverweigerung“ wird hier – wie bei Hermocrate – als Verbrechen an der Menschlichkeit dargestellt. Sasha übernimmt das Recht, dieses Regime durch Leidenschaft und Eros zu sprengen. À l’abordage ! wird so zur explizit anti-hermocratischen Farce.

Arcady als charismatischer Hermocrate in Arcadie

Anders als Kinbote tritt Arcady nicht als Asket oder Feind der Liebe auf, sondern als libertärer Heilsbringer – eine komplexere, viel ambivalenter gestaltete Figur. Dennoch lässt sich auch er als Hermocrate-Figur begreifen – allerdings nicht im rationalistischen Sinn, sondern als messianisch aufgeladener Autoritätscharakter, der sich dem „Schutz“ seiner Schutzbefohlenen verschreibt, dabei aber ebenfalls Kontrolle, Ausschluss und Dogmen installiert. Arcady schafft mit Liberty House einen scheinbar offenen Raum, der die Verwundeten der Gesellschaft aufnehmen will – Hypersensible, Marginalisierte, psychisch Kranke. Doch diese Utopie ist fragil, denn auch sie lebt von Abgrenzung – räumlich (Zone blanche), gesellschaftlich (Anti-Internet, Anti-Staat), moralisch (strikte Rituale, Namensänderungen, sexuelle Regeln). Wie Hermocrate spricht Arcady von Freiheit, praktiziert aber eine Form der Herrschaft, die die Selbstbestimmung seiner Mitglieder in paternalistischer Weise lenkt.

Auch bei Arcady ist die Ordnung auf Verleugnung der Realität gegründet: Der Welt wird nicht begegnet, sondern sie wird ausgeschlossen. Die Flüchtlingsthematik bringt diese Widersprüche ans Licht (siehe vorherige Analyse): Arcady predigt Menschlichkeit, verweigert aber den Migranten den Zutritt – ein Widerspruch, der sein System entlarvt, so wie Hermocrates rationales Weltbild durch seine Verliebtheit kollabiert. Farah erkennt mit zunehmender Reife, dass auch Arcady nicht über menschliche Schwächen erhaben ist. Seine Fürsorge hat narzisstische Züge, seine spirituelle Leitung erweist sich als Kontrollmechanismus – besonders in den Szenen, in denen sein sexuelles Interesse an Farah durchschimmert. Auch hier fällt die Maske: Der „Vater“ ist zugleich Verführer, der Philosoph auch Mensch mit Begehren.

Vergleich: Hermocrate – Kinbote – Arcady

MerkmalHermocrate (Marivaux)Kinbote (À l’abordage !)Arcady (Arcadie)
FunktionPhilosoph, ErzieherIntegrist, SektenguruLibertärer Anführer, Heilsprediger
Haltung zur LiebeAblehnung, MisstrauenVerbot, repressivAmbivalent: predigt Freiheit, lebt Kontrolle
Geschütztes UmfeldPhilosophische EnklaveAntiliebes-Kommune„Zone blanche“
AutoritätsstrategieRationalismus, IsolationDogmen, AskeseCharisma, Spiritualität
StörmomentLéonideSashaFarah + Realität (z.B. Flüchtlinge)
Entlarvung durchVerführung, LeidenschaftInfiltration, BegehrenWiderspruch zwischen Ethos und Praxis
Finale Einsicht / ScheiternEingeständnis der GefühleLächerlich gemacht, bloßgestelltEntzauberung durch Farah
Der Sturz der falschen Väter

In beiden Werken Bayamack-Tams fungieren Kinbote und Arcady als Figuren patriarchaler Autorität, die – wie Hermocrate – an der Kraft des Lebendigen, des Begehrens und der Wahrheit des Körpers scheitern. Die Autorin wiederholt damit Marivaux’ zentrale Botschaft: Jede Ideologie, die sich über die menschlichen Leidenschaften erhebt, läuft Gefahr, zur Verleugnung des Lebens zu werden – und damit zur Karikatur ihrer selbst. Durch Sasha und Farah treten starke weibliche Figuren in Aktion, die – wie Léonide – nicht mit Gewalt, sondern mit List, Verführung, Aufklärung das starre System der „Väter“ stürzen. In À l’abordage ! geschieht dies mit überbordender Komik, in Arcadie mit melancholischer Klarheit. Beide Werke führen so Marivaux’ aufklärerisches Projekt in die Gegenwart weiter – als feministische, queere, radikal humane Dekonstruktion autoritärer Systeme.

Dies hat auch Folgen für die Rolle der Verkleidung und die Thematisierung von Geschlecht und Identität: Bei Marivaux (Léonide als Phocion) ist die Verkleidung als Mann ist ein strategisches Mittel der Frau, um Zugang zu Agis zu erhalten. Sie ist ein traditioneller Komödientropus, der für Situationskomik und „confusion des genres“ sorgt, ohne die Geschlechtsidentität der Figur selbst in Frage zu stellen. Die Enthüllung ihrer wahren Identität ist der dramatische Höhepunkt. Auch bei Bayamack-Tam (À l’abordage!, Sasha) verkleidet sich Sasha als Junge, aber ihr „travestissement“ ist „davantage qu’un stratagème : il introduit un trouble dans le genre“. Die Geschichte greift die zeitgenössische Diskussion um Geschlechterfluidität auf. Der Akt der Verkleidung ist nicht nur eine List, sondern ein Mittel, um gesellschaftliche Normen und Erwartungen zu unterlaufen. Schließlich wird in Bayamack-Tams Roman Arcadie mit Farah die Frage der Geschlechtsidentität zur zentralen, existenziellen Erfahrung der Protagonistin. Farah ist intersexuell geboren und erlebt eine physische Transformation, die sie weder eindeutig als Mann noch als Frau erscheinen lässt. Sie bezeichnet sich als „chimère dotée d’ovaires et de testicules d’opérette, une entité inassignable, un esprit libre, un être humain intact“. Ihr Ringen mit ihrer „dysmorphismes“ und der Wunsch, ihre „féminité“ zu bewahren, auch wenn sie männliche Züge entwickelt, ist ein radikaler Bruch mit Marivaux‘ binärer Geschlechterdarstellung und eine tiefgreifende Erweiterung des Themas Identität.

Exkurs: Entlarvung der arkadischen Utopie

In Emmanuelle Bayamack-Tam’s Arcadie spielt die Flüchtlingsthematik eine zentrale Rolle – nicht nur im politischen Sinn, sondern auch als ästhetisches und ideologiekritisches Moment: Die Flüchtlinge sind das Reale im Symbolischen, ihre Anwesenheit entlarvt das utopisch-libertäre Setting der Liberty House-Gemeinschaft als zutiefst ambivalent und konfrontiert die vermeintliche Idylle mit einer Realität, die sie weder integrieren noch ignorieren kann, ohne ihre eigenen Grundsätze zu verraten.

Liberty House wird von Arcady als alternativer Lebensraum für „fragile“ oder „inadaptierte“ Menschen konzipiert, die den Zumutungen der modernen Welt entfliehen möchten: technologische Überforderung, Leistungsdruck, Entfremdung. Auch Farahs Familie flüchtet sich dorthin – aus Angst, aus Krankheit, aus dem Wunsch nach Schutz. Diese Gemeinschaft entwirft sich selbst als Paradies, als Arcadia im ursprünglichen Sinn: ein Ort jenseits der Gesellschaft, naturverbunden, antiautoritär, „weiß“ im Sinne einer „zone blanche“, frei von elektromagnetischer Strahlung, Technologie, Gewalt, Staat und Kapitalismus.

Doch gerade in diesem Anspruch auf Reinheit und Abgrenzung verbirgt sich die ideologische Blindheit: Arcadie reproduziert – in neuem Gewand – exklusive Strukturen.

Die Gemeinschaft liegt an der Grenze zur italienischen Alpenregion, also an einem realen Brennpunkt der europäischen Flüchtlingspolitik. Die Migranten erscheinen im Roman zunächst als „Schattenwesen“, als flüchtige Gestalten im Wald, als nächtliche Störungen im Paradies. Farah beobachtet, wie einige Mitglieder der Gemeinschaft angesichts dieser Menschen ins Schwanken geraten – andere wiederum schließen rigoros die Türen. Diese Spannung enthüllt die Doppelmoral des utopischen Projekts: Einerseits wird bedingungslose Gastfreundschaft propagiert (im Inneren der Gemeinschaft), andererseits wird der Zugang von außen verwehrt – genau denen, die am stärksten von Flucht, Gewalt und Ausschluss betroffen sind. Die Flüchtlinge werden zur Figur des Realen im Sinne Lacans: Sie stören das „symbolische System“ der Arcadier, sie können nicht integriert werden, ohne dieses zu zerstören – sie stellen seine Grundannahmen in Frage.

Im Licht der Flüchtlingsthematik erscheint Liberty House nicht mehr als Schutzraum, sondern als abgeschottete Enklave des westlichen Privilegs, als Mikrokosmos einer saturierten Gesellschaft, die sich selbst als widerständig stilisiert – und dabei doch nichts riskiert. Die Weigerung, die Migranten aufzunehmen, markiert im Text den Moment der Selbstentlarvung: Die vielbeschworene Liebe, Toleranz und Öffnung entpuppt sich als konditioniert, klassenbewusst und exklusiv. Die Gemeinschaft praktiziert Gastfreundschaft nur unter bestimmten Voraussetzungen: Gesundheit, Friedfertigkeit, kulturelle Nähe, emotionale Kompatibilität.

Die Protagonistin Farah erkennt mit zunehmendem Alter diese Widersprüche. Ihr Coming-of-Age ist gleichzeitig ein politisches Erwachen: Sie erkennt die Grenzen der Toleranz, den Paternalismus von Arcady, die Maskerade der Offenheit. Die Flüchtlingsthematik wirkt hier als Katalysator einer ideologiekritischen Reifung – sowohl für Farah als auch für den Leser. Insofern sind die Flüchtlinge in Arcadie keine bloßen Randfiguren – sie sind die Schwachstelle der Utopie. Ihr Erscheinen entlarvt Liberty House als ein System, das sich auf Ausschluss gründet, während es Inklusion predigt. Die Flüchtlingsthematik fungiert damit als Prüfstein für die moralische und politische Glaubwürdigkeit des gesamten Settings – und deckt dessen Widersprüche schonungslos auf.

Fazit: Hommage durch Subversion

Bayamack-Tams Relektüre von Le Triomphe de l’amour ist keine Entsorgung, sondern eine radikale Aktualisierung durch queere Umcodierung. In À l’abordage wird Marivaux’ Intrigenspiel mit Lust und List ins Heute transponiert, ohne seinen dramaturgischen Kern aufzugeben – der Triumph der Liebe bleibt, aber er ist nun sexuell offensiv, genderfluid, widerständig. Arcadie geht noch einen Schritt weiter: Die klassische Komödienstruktur wird zur tragikomischen Entwicklungserzählung verschoben. Die Konstellationen lösen sich in ambivalente Verhältnisse auf, Macht wird nicht mehr in klaren Rollen verteilt, sondern durchzieht die Gemeinschaft subtil. Die Liebe triumphiert hier nicht einfach – sie muss sich selbst erst neu definieren. In beiden Fällen ehrt Bayamack-Tam Marivaux, indem sie ihn weiterdenkt – nicht durch Wiederholung, sondern durch produktive Verfremdung.

Farah ist zugleich Heldin und Ziel der Begierde, Erzählerin und Subjekt einer tiefgreifenden Transformation. Es gibt keine Maskerade mehr – Farah ist selbst „Verwandlung“. Die These trifft den Kern von Emmanuelle Bayamack-Tams Arcadie und markiert zugleich einen entscheidenden Wendepunkt in der literarischen Verarbeitung von Identität, Gender und Begehren – ein Wendepunkt, der sich durch den Vergleich mit Marivaux’ Le Triomphe de l’amour und Bayamack-Tams Adaption À l’abordage besonders deutlich herausarbeiten lässt.

Je ne sais toujours pas ce que je suis, mais la liste de mes envies est infinie – et celle de mes détestations ne l’est pas moins. Hors de question que je vive comme tout le monde et que je consacre l’essentiel de mon temps à me remplir de nourritures industrielles, d’images ineptes et de musiques dépourvues d’âme. […] Je suis ce que tu ne t’autoriseras jamais à être : une fille aux muscles d’acier, un garçon qui n’a pas peur de sa fragilité, une chimère dotée d’ovaires et de testicules d’opérette, une entité inassignable, un esprit libre, un être humain intact. (Bayamack-Tam, Arcadie, Farah über ihre eigene Identität.)

Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin, aber die Liste meiner Wünsche ist endlos – und die meiner Abneigungen nicht weniger. Es kommt für mich nicht in Frage, wie alle anderen zu leben und den Großteil meiner Zeit damit zu verbringen, mich mit industriell hergestelltem Essen, sinnlosen Bildern und seelenloser Musik vollzustopfen. […] Ich bin das, was du dir niemals erlauben würdest zu sein: ein Mädchen mit stählernen Muskeln, ein Junge, der keine Angst vor seiner Zerbrechlichkeit hat, eine Chimäre mit Eierstöcken und Operettenhoden, ein unzuordenbares Wesen, ein freier Geist, ein unversehrter Mensch.

Dieser Auszug ist ein Manifest Farahs komplexer, nicht-binärer Identität. Sie lehnt die einfache Kategorisierung ab („Je ne sais toujours pas ce que je suis“) und definiert sich als eine „chimère“ – eine Mischung aus gegensätzlichen Merkmalen („fille aux muscles d’acier“, „garçon qui n’a pas peur de sa fragilité“, „ovaires et testicules“). Dies ist kein Verkleidungsspiel mehr, sondern eine tiefgreifende, gelebte Realität und ein zentrales Thema des Romans. Es geht nicht um die Aufdeckung einer weiblichen Identität unter männlicher Kleidung, sondern um die Behauptung einer fluiden und einzigartigen Identität, die sich jeder simplen Zuweisung entzieht. Farahs Identität ist untrennbar mit ihrer rebellischen Natur und ihrer Kritik an der konformistischen Außenwelt verbunden. Dies zeigt die Verschiebung von einer komödiantischen Täuschung zu einer tiefen, modernen Auseinandersetzung mit dem Selbst und der Norm.

Das Ende der Travestie

In Marivaux’ Komödie ist die Maskerade das zentrale dramaturgische Mittel: Léonide verkleidet sich als junger Mann, um in den abgeschotteten Garten des Philosophen Hermocrate einzudringen und Agis, den legitimen Thronerben, durch listige Verführung zurückzuerobern. Die Maskerade ist doppelt funktional: Sie sichert Léonide Handlungsmacht in einer patriarchalen Ordnung und ermöglicht ihr, Begehren auszuleben, ohne es offen zu benennen. Agis seinerseits ist passiv, vergeistigt und fremdbestimmt – ein Objekt, das Léonide durch aktive Lüge zur Liebe „erzieht“. Die Verwandlung ist äußerlich, strategisch, reversibel.

Auch Sasha in À l’abordage nutzt eine Verkleidung als Mittel zur Infiltration. Sie schlüpft in eine männliche Identität, um die asketische Welt Kinbotes zu unterwandern und Ayden zu verführen. Doch hier beginnt bereits ein Bruch mit Marivaux: Sasha spielt nicht nur eine Rolle, sondern destabilisiert mit ihrer Performance das ganze System binärer Geschlechter. Die Maskerade wird subversiv – nicht nur Täuschung, sondern performative Kritik.

In Arcadie entfällt schließlich die Maskerade – weil Farah selbst das Medium der Verwandlung ist. Sie verkleidet sich nicht, sondern verändert sich. Der Roman beschreibt keinen Rollentausch, sondern eine körperliche, psychosexuelle, sprachliche und politische Transition. Farah ist keine listige Heldin im Sinne Marivaux’, sondern eine tiefgreifend transformative Figur: Sie ist nicht nur diejenige, die handelt, sondern auch diejenige, an der gehandelt wird – durch ihre Umwelt, durch Sprache und Ideologien, durch Begehren.

Farah ist gleichzeitig Subjekt und Objekt: Sie liebt, wird begehrt, schreibt über sich, ist Medium und Material der Geschichte. In der Spannung zwischen Hingabe und Widerstand, zwischen Anpassung und Subversion entfaltet sich eine komplexe Selbstwerdung, die nicht als Lösung, sondern als Prozess verstanden werden muss. Sie ist „Heldin“, weil sie sich behauptet; sie ist „Ziel der Begierde“, weil sie sich sichtbar und lesbar macht; sie ist „Erzählerin“, weil sie ihre Geschichte schreibt – nicht abschließend, sondern tastend; und sie ist „Verwandlung“, weil sie sich nicht festlegt.

Diese Lesart wirkt zurück auf Agis (Triomphe) und Ayden (À l’abordage). Beide sind zunächst Projektionen: Agis als Träger einer verlorenen Monarchie, Ayden als Hüter einer vergeistigten Reinheit. Doch während Agis am Ende „zurückerobert“ wird – durch Léonides Liebe und durch seine Einwilligung – bleibt Ayden ambivalenter: Sein Begehren wird geweckt, doch er bleibt ein Rätsel. Er verkörpert nicht das Wiedererlangen einer Ordnung, sondern deren Auflösung.

In dieser Perspektive werden Agis und Ayden zu Vorformen von Farah – nicht in ihrer aktiven Rolle, sondern in ihrer Position als „Grenzfigur“ zwischen normativer Ordnung und affektiver Offenheit. Farah hingegen vereinigt beide Positionen in sich: diejenige, die ein System unterwandert, und diejenige, die von diesem System geformt wird.

Die Entwicklung von Léonide über Sasha zu Farah markiert den Weg vom Spiel mit Identität zur existenziellen Poetik der Selbstwerdung. Während Marivaux noch mit stabilen Begriffen wie „Liebe“, „Geschlecht“ und „Vernunft“ spielt, lässt Bayamack-Tam diese Begriffe in Arcadie ineinanderfließen. Farah ist keine Heldin der Verkleidung, sondern der Verwandlung. Die Maske fällt – nicht, um eine feste Wahrheit freizulegen, sondern um zu zeigen, dass Identität selbst ein prozesshaftes, fragiles Werden ist. So ist Farah die queere Antwort auf Marivaux’ Aufklärungsmodell: Nicht der Triumph der Liebe über die Vernunft, sondern der Triumph der Veränderung über jede festgelegte Form.

Vergleichende Interpretation der Werkschlüsse

Die drei Werke – ein klassisches Lustspiel (Le Triomphe de l’amour), eine queere Adaption (À l’abordage) und ein zeitgenössischer Roman (Arcadie) – schließen je auf charakteristische Weise ab: mit einem Triumph der Liebe, einer strategischen Auflösung in Begehren oder einer ambivalenten, offenen Zukunft. Im Zentrum steht stets ein Aufbrechen eines geschlossenen Systems durch ein affektiv motiviertes Eindringen – doch der Umgang mit diesem Bruch und dessen Konsequenzen ist je verschieden und aussagekräftig für das Menschen- und Gesellschaftsbild der jeweiligen Zeit.

Drei Schlüsse, drei Modelle von Veränderung

WerkSchlussformSiegStatus
Le Triomphe de l’amourKlassisch, geschlossenLiebe als Mittel der RestaurationOrdnung wiederhergestellt
À l’abordageOffen, komödiantisch-subversivLust als DestabilisierungOrdnung erschüttert
ArcadieAmbivalent, introspektivIdentität als SelbstermächtigungOrdnung verlassen

Der Schluss von Marivaux’ Komödie folgt der Logik des Komödienmodells des 18. Jahrhunderts: Nach einer Reihe von Verwechslungen, Täuschungen und Maskeraden legt Léonide ihre Verkleidung ab, offenbart ihre Identität – und gewinnt Agis’ Liebe. Der Widerstand des Philosophen Hermocrate ist gebrochen, die „vernünftige“ Ordnung besiegt, das Begehren hat gesiegt: le triomphe de l’amour. Doch dieser Triumph ist nicht rein romantisch, sondern auch strategisch-politisch: Léonide sichert durch die Heirat mit Agis ihren Anspruch auf den Thron. Der Schluss stellt somit die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung dar – eine Monarchie, vereint mit der Liebe. Die Maskerade war Mittel zum Zweck, die Auflösung bringt Klarheit, Legitimation, Zukunft.

Im Gegensatz dazu endet À l’abordage nicht mit einer Restauration, sondern mit einer Störung: Sasha erobert Ayden zwar, aber nicht im Sinne einer stabilen Paarbildung oder gesellschaftlichen Anerkennung. Der Schluss bleibt offen, ein Moment des Begehrens, keine festgefügte Ordnung. Der Garten Kinbotes ist entweiht, das asketische System durchbrochen, doch es gibt kein „Zurück“ zu einer heilen Welt – vielmehr öffnet sich ein Möglichkeitsraum: Lust, Nähe, Freiheit. Die Auflösung bleibt bewusst provisorisch: Die Figuren sind aufgewühlt, entlarvt, unsicher. Der Komödienton wird nicht durch eine romantische Hochzeit eingefangen, sondern in einem Moment des Schwebezustands gehalten. Das Begehren verändert, ohne zu stabilisieren. Der Schluss wirkt wie ein performativer Ausbruch: Kein „Sieg“ im klassischen Sinn, sondern eine radikale Verunsicherung der Ordnung – zugunsten der Lust.

Arcadie bricht noch stärker mit der klassischen Komödienstruktur. Der Schluss ist offen, melancholisch, aber emanzipatorisch. Farah erkennt die dysfunktionale Struktur von Liberty House, emanzipiert sich von Arcady, geht ihren eigenen Weg – als transidentes Subjekt, als politische Figur, als Erzählerin ihres eigenen Lebens. Es gibt keine romantische Vereinigung, kein gesellschaftliches Happy End, sondern den Bruch mit der Utopie und die Rückeroberung des eigenen Körpers und Begehrens. Farah verlässt eine Gemeinschaft, die sich als Ort der Freiheit ausgab, aber in Wahrheit kontrollierte. Der Schluss ist ein Moment der Selbstermächtigung – aber ohne Heilsversprechen. Farahs Weg ist offen, verletzlich, aber notwendig. Der Triumph ist kein äußerer, sondern ein innerer: die Souveränität der eigenen Verwandlung.

Während Marivaux den Triumph der Liebe mit einer Rückkehr zur gesellschaftlichen Ordnung verbindet, entkoppelt Bayamack-Tam in ihren beiden Texten Liebe und Begehren von institutioneller Stabilität. À l’abordage öffnet die Komödie hin zum Queeren und Unbestimmten. Arcadie geht weiter: Es ersetzt das theatrale Spiel der Masken durch eine existentielle Poetik der Transformation – Farahs Abschied von Liberty House ist kein Happy End, aber ein radikaler Schritt in ein eigenes, noch ungeschriebenes Leben.

Marivaux, Le triomphe de l’amour, Création du Collectif Platok, filmé au Théâtre Berthelot de Montreuil Mai 2014, mise en scène de Laurent Le Doyen.
Anmerkungen
  1. Das Beitragsbild: Veronica Renner and Edward Im in Triumph of Love at Shotgun Players, Berkeley, 2023. Photo Credit: Robbie Sweeny.>>>

Neue Artikel und Besprechungen


rentrée littéraire
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.