„Fus-je coupable ou victime ? Je ne saurais le dire…“ (chap. „Enfance“) – dieser Satz am Anfang des fast 500-seitigen Romans ist kein beiläufiger Zweifel, sondern der Grundton einer Erzählung, die moralische Eindeutigkeit verweigert. Die Form, ein „journal en désordre“, ist nicht nur eine ästhetische Entscheidung: Erinnerungen sind nicht linear, sie sind eruptiv, wiederholen sich, springen zwischen Zeiten. Die Erzählung ist in den Ersten Weltkrieg eingebettet, der nicht nur das gesellschaftliche Gefüge von Besançon, sondern auch die intime Welt des Protagonisten zerstört. Die erste Hälfte des Romans zeigt eine vergleichsweise geschützte Kindheit, die zwar von kleinen Verlusten (abwesender Vater, Entwurzelung Mariettes) geprägt ist, aber dennoch Kontinuität und Vertrautheit bietet. Hier lebt er mit seiner Mutter, hier spielt er mit Mariette, der Nachbarstochter, deren Präsenz er in lakonischen Szenen umreißt – das gemeinsame Radfahren, das leise Berühren einer Hand, das Fehlen eines Versprechens beim Abschied.
Die schöne Besprechung von Oriane Jeancourt für Transfuge (September 2023) gab mir entscheidende Hinweise, dass man dieses Buch nicht nur als posttraumatische Grenzerfahrung, sondern auch spielerisch lesen kann, sie nennt den Protagonisten anfangs einen perfekten Candide in der leicht perversen Welt von Dreyfus. (Man lese Dreyfus‘ vorangegangene Bücher, um zu verstehen, was sie mit dieser Andeutung meint, etwa das Journal sexuel d’un garçon d’aujourd’hui von 2021, eine über 2.300 Seiten lange autobiografische Mischung aus Tagebuch, literarischem Experiment, Sexualprotokoll, Selbstanalyse und Gesellschaftsporträt, die fünf Jahre seines Lebens in radikal offener Form dokumentiert – und zwar fast ausschließlich durch minutiöse Schilderungen seiner sexuellen Begegnungen mit Männern, ergänzt durch Reflexionen, Alltagsbeobachtungen, Gespräche mit Freunden und literarische Bezüge.) Jeancourt betont für ihre Rezension die Metamorphose, das immer neue Sich-Verstellen, als Monster, Libertin und als Magier. Jeancourt fühlt sich beim Lesen erinnert an Günter Grass und einige seiner Bücher, von Die Blechtrommel bis zum Steinbutt, bei denen man nie weiß, ob er Anleihen bei mitteleuropäischen Geschichten oder seiner eigenen satirischen Fantasie nahm. Die Hand, die unserem Paul Marchand anwächst, ist ausgerechnet die Hand eines deutschen Mannes mit Namen Hans, in einem fantasievollen Wachsfigurenkabinett eines 19. Jahrhundert-Horrors. Ist dieses Buch also doppelt codiert?
Mit dem Krieg bricht die Kontinuität der Kindheit, nicht nur durch patriotische Indoktrination und soziale Umwälzungen: Der Tod des Vaters markiert den endgültigen Bruch in der Familie und führt indirekt zum Alkoholismus der Mutter. Der Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg – nicht als heroische Schlacht, sondern als plötzliche Abwesenheit – reißt eine erste Lücke. Die Schule wird unter Frère Robert zur militärischen Vorbereitungsanstalt: „Tout à l’école ne devint que guerre, guerre, guerre“ (chap. „Frère Robert“). Hier beginnt der Roman die Parallele zu zeichnen, die er im Labor Gottschalks vollendet: der Mensch als formbares Material, geformt entweder durch Drill oder durch Chirurgie. Die kindliche Perspektive registriert diese Veränderungen ohne moralische Kommentierung – ein Verfahren, das Dreyfus mit präziser Neutralität verbindet: das Notieren des Absurden, als wäre dieses Ende der Kindheit selbstverständlich. Die Stadt füllt sich mit Flüchtlingen, Männer verschwinden, Versorgungslücken entstehen – der Erzähler muss mit 15 zum Ernährer werden. Der Krieg wird dabei nicht heroisch inszeniert, sondern als Mechanismus der Zerstörung von Körpern, Bindungen und Identitäten gezeigt. Er bereitet den Boden für das spätere „wissenschaftliche“ Grauen.
Das zentrale Motiv ist der Körper, sowohl als Träger der Identität wie als manipulierbares, verletzliches Objekt. Eine Explosion verwundet den Erzähler schwer, doch die Verletzung ist nicht nur physisch, sondern auch identitär: Der Körper wird ihm fremd gemacht. Die Explosion, die Paul aus dem Alltäglichen herausreißt, geschieht während eines Botengangs für eine Bauernfamilie – kein heroischer Einsatz, sondern eine beiläufige, fast triviale Handlung. Hier spürt man die Nähe zu Kafkas Prozess: Die Katastrophe ereignet sich ohne Grund, der Protagonist ist plötzlich in einem unverständlichen Geschehen gefangen. Nach der Explosion erwacht Paul in einem fensterlosen Keller: „Trois murs grisâtres, couleur chauve-souris… aucune lumière ne s’immisçait dans l’espèce de cave où je me trouvais“ (chap. „Vers mes entrailles“). Ist dieser Raum ebenso wenig ein Krankenhaus wie der Gerichtssaal bei Kafka ein Ort der Gerechtigkeit ist? Ist es ein Raum der Kontrolle, der Entindividualisierung, ein Raum, in dem ein anderes Gesetz gilt? Oder ist es ein Ort der Freiheit zur Transgression?
Mit schweren Bauchverletzungen erwacht, trifft Paul auf Camille Gottschalk, eine androgyn inszenierte und in seinen medizinischen Fantasien entgrenzte Figur, die in einem hermetischen Labor grausame Experimente an Menschen und Tieren betreibt. Aus dem Bauch des Protagonisten wächst ein fremder Arm – die titelgebende „dritte Hand“ –, das Resultat einer grotesken Transplantation. Die Entdeckung dieser Veränderung wird zur Erfahrung radikaler Entfremdung vom eigenen Körper, der nicht länger als autonome Einheit erscheint, sondern als Schlachtfeld, auf dem fremde Eingriffe ihre Spuren hinterlassen. Die dritte Hand verkörpert medizinische Grenzüberschreitung und Verlust der körperlichen Autonomie. Gottschalks Experimente verdeutlichen, dass der Körper im Krieg (und im Namen der Wissenschaft) wie Material behandelt wird, austauschbar und formbar. Der Erzähler bleibt zerrissen zwischen Abscheu und pragmatischer Akzeptanz: Die Hand rettet ihm das Leben, ist aber auch ein monströses Stigma.
Die Beschreibung ist chirurgisch genau, fast sachlich, und gerade dadurch umso verstörender: „un ourlet de peau rosâtre, luisante et potelée… ne m’appartenaient assurément pas“ (chap. „Tout le long de ma panse“). Die „dritte Hand“ ist hier Symbol einer radikalen Hybridität – nicht nur körperlich, sondern auch moralisch und existenziell. Sie gehört ihm und gehört ihm nicht, sie rettet ihn und macht ihn zum Fremdkörper in der Welt. Diese Ambivalenz erinnert an Shelleys Monster, das zugleich Kind und Geißel seines Schöpfers ist: eine Existenz im Zwischenraum, definiert durch das Paradox der Zugehörigkeit und Fremdheit.
Gottschalk, der „Arzt“, der Pauls Leben rettet, verkörpert er den wissenschaftlichen Wahnsinn im Gewand des Fortschritts? Er reiht sich ein in eine literarische Tradition, die von Mary Shelleys Frankenstein bis zu den grotesken Figuren Batailles reicht: Forscher, die sich nicht von moralischen Skrupeln aufhalten lassen, weil sie glauben, im Dienst einer höheren Wahrheit zu handeln. Gottschalks Labor ist eine Arche des Monströsen: „truffe de renard greffée sur l’anus d’un rat… deux chats inanimés, la patte de l’un traversant la poitrine de l’autre“ (chap. „Le Triomphe de la Mort“). In dieser Parade der Chimären klingt die barocke Ästhetik des Kuriositätenkabinetts an, verbunden mit der Grausamkeit moderner Vivisektion. Hier schimmert Batailles Faszination für das „forme informe“ durch: das Körperliche, das aus seiner Form gerissen und neu zusammengesetzt wird, verliert seine ursprüngliche Bedeutung und wird zum rohen Material.
Camille Gottschalk lässt sich zugleich als bewusst androgyne Selbstinszenierung lesen – und zwar nicht nur äußerlich, sondern auch in der Art, wie Dreyfus die Figur zwischen Geschlechtern, Rollen und Symbolfeldern changieren lässt. Einerseits inszeniert Gottschalk sein Äußeres als Überschuss an Geschlechtsmarkern: Lippen- und Wangenrot, lange purpurne Tücher um die Hüften wie eine Toga, ein Canotier-Hut, hundert klimpernde Muschelarmbänder – Attribute, die weder „rein männlich“ noch „rein weiblich“ konnotiert sind, sondern ein bewusstes Überspielen der Kategorien darstellen. Das passt zur beschriebenen Faszination für Hybridität und Transplantation: Gottschalk bastelt nicht nur an Körpern herum, er bastelt auch an sich selbst, macht den eigenen Körper zum Experimentierfeld. Andererseits ist seine Stimmführung („au mitan du timbre des deux sexes“) und sein Verhalten ebenfalls doppeldeutig: mütterliche Fürsorge kippt ins sadistisch-väterliche Überwachen, kokette Selbstverehrung mischt sich mit fanatischer Wissenschaftsgläubigkeit. In dieser Schwebe wirkt er wie eine lebendige Verkörperung der „Zwischenstufen“ im Sinne Magnus Hirschfelds – eine Figur, die sich außerhalb der binären Geschlechterordnung verortet, aber dieses „Dazwischen“ theatralisch auflädt, um Macht und Anziehung auszuüben. Gerade in der grotesken Überhöhung des Textes gewinnt diese Androgynität einen burlesken Zug: Gottschalk ist nicht einfach „uneindeutig“, er ist eine Art Gesamtkunstwerk, das sich performativ aus Übertreibung, Doppeldeutigkeit und Lust an der Grenzverletzung zusammensetzt.
Die zweite Hälfte des Romans entfaltet ein doppeltes Monstrositätsthema zwischen Gottschalk und dem Erzähler: Gottschalk ist „Monstrum“ nicht nur durch sein exzentrisches Äußeres, sondern durch seine radikale Missachtung von moralischen und natürlichen Grenzen. Seine „Labor-Küche“ ist eine Mischung aus anatomischem Kabinett, Folterkammer und Schlachthaus. Der Erzähler als „Monstrum“ ist nicht mehr rein Mensch, sein Körper trägt ein fremdes, lebendiges Organ. Der Text fragt: Ist Monstrosität eine Frage des Aussehens, der Herkunft oder der Absicht? Gottschalk ist nicht nur ein Monstrum in moralischer Hinsicht, sondern auch der Spiegel für den Erzähler, der selbst zum Träger eines monströsen Merkmals wird. Die Monstrosität ist hier nicht einfach eine Frage des Aussehens, sondern berührt die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Eigenem und Fremdem. Der Körper wird im Krieg wie im Labor zu Material, das sich nach Belieben formen, kombinieren und instrumentalisieren lässt. Während der Erzähler zwischen Abscheu und pragmatischer Nutzung dieser dritten Hand schwankt, verschiebt sich das Grauen vom Schützengraben in den Operationsraum, ohne an Brutalität zu verlieren.
Doch Dreyfus treibt das Motiv weiter: Die Hand ist nicht passiv. In einer Szene befreit sie Paul aus seinen Fesseln und weist ihm den Fluchtweg: „m’indiqua d’un doigt la direction de l’escalier“ (chap. „Un geste inexplicable“). Später attackiert die dritte Hand Gottschalk tödlich. Diese Eigenmächtigkeit verwandelt den Körperteil in einen Akteur, der zwischen Schutzengel und Dämon schwankt. Freud hätte hierin das Unheimliche erkannt: das ehemals Vertraute – die Hand – wird fremd, belebt, unabhängig. Es ist die Umkehrung des Verlusts der Gliedmaßen im Krieg: Hier wird etwas hinzugefügt, das nicht „fehlt“, sondern überzählig ist – und gerade dadurch die Integrität des Selbst bedroht. In diesem Moment stellt sich die Frage, ob der Erzähler selbst der Täter ist oder nur Werkzeug einer fremden, in ihm verankerten Willenskraft. Das Überleben, das in einem klassischen Flucht-Narrativ als rein positive Auflösung erscheint, ist hier untrennbar mit Schuld und Unsicherheit verknüpft. Die Hand wird zur ambivalenten Verbündeten, Retterin und Mörderin zugleich.
Auf der Flucht durch den Wald, ohne Kleidung und mit einer halben Pelerine als notdürftigem Schutz, begegnet er einem Butler, der ihn mitnimmt, aber misstrauisch nach seiner Identität fragt. Die Maxime, man solle die Ambiguität nicht auflösen, wird zur neuen Lebensstrategie: Der Erzähler verschweigt die Wahrheit, um das eigene Überleben zu sichern. Dieses Schweigen markiert den Beginn einer zweiten Existenz, die auf Geheimhaltung und dem bewussten Verbergen der körperlichen und biografischen Abweichung beruht. Nach der Flucht aus Gottschalks Gewalt steht der Erzähler vor der Frage, wer er noch ist. „Qui êtes-vous ?“ – Diese Frage des Butlers wird zur existenziellen Prüfung. Die Antwort ist bruchstückhaft, an biografische Eckpunkte gebunden, nicht an eine innere Gewissheit. Die Maxime „On ne sort de l’ambiguïté qu’à ses dépens“ (man verlässt die Mehrdeutigkeit nur zu seinem Schaden) wird zu einer Überlebensstrategie: Der Erzähler verschweigt seine monströse Veränderung und wahrt Schweigen als Schutzschild. Die neue Identität formt sich aus einem Gleichgewicht zwischen Verbergen (der körperlichen Abweichung) und Weiterleben (trotz des Wissens um das eigene „Andere“).
Überleben ist im Roman nie rein positiv besetzt: Der Erzähler empfindet sich als „miraculé“, weil er Gottschalks Experimenten entkam – aber diese Rettung ist erkauft durch die Integration eines fremden Körpers. Die „dritte Hand“ wird zum ambivalenten Verbündeten: Sie befreit ihn, aber auch durch Mord. Das wirft die Schuldfrage auf – ist der Erzähler Täter, Mitläufer oder Werkzeug? Überleben bedeutet, das Erlebte nicht zu erzählen oder nur selektiv zu offenbaren. Schweigen wird zum Preis der Freiheit. Parallel dazu entfaltet Dreyfus ein Motiv des Sehens und Nichterkennens. Paul weiß nicht, wem der Arm gehörte. „Où l’on voit comme il est facile de sortir de l’humanité le membre dépourvu de visage“ (chap. „Sortir de l’humanité“). Ohne Gesicht wird der Körperteil zum anonymen Objekt, wie die Tiere in den Käfigen des Labors, wie die Soldatenleichen im Schützengraben. Die Dehumanisierung, die der Krieg leistet, setzt Gottschalk mit chirurgischen Mitteln fort. Hier berührt der Roman Kafkas Technik des „Verschwindens“ von Identität: Figuren verlieren ihre Namen, ihre Gesichter, und damit ihre Unverwechselbarkeit.
Der Titel La troisième main steht für das körperliche Fremde, für das Hybride und erzwungene Transformationen – zugleich Werkzeug, Stigma und Lebensretter. Brueghels „Triomphe de la Mort“ dient als visueller Referenzrahmen für Gottschalks Labor, wo Menschen und Tiere zu grotesken, toten Collagen verschmelzen. Biblische und religiöse Motive werden ironisch gebrochen (Gottschalk nennt den Erzähler „Jésus“), wodurch sich ein Spannungsfeld zwischen „Erlösung“ und „Verstümmelung“ öffnet.
Die sexuelle Dimension der dritten Hand lässt sich als radikale Zuspitzung des zentralen Motivs der Alterität im eigenen Körper verstehen – als Metapher für intime Invasion und unentrinnbare Nähe. Die Hand, die zu Hans gehört, entwickelt sich im Verlauf der Handlung nicht nur zu einem parasitären, sondern auch zu einem sexuell aktiven Teil des Protagonisten. Paul erlebt Lust über einen Körperteil, der ihm nicht gehört, und zwar doppelt entfremdet: physisch, weil er anatomisch fremd ist, und psychisch, weil die Quelle der Lust eine halbautonome Persönlichkeit ist. Dadurch wird seine sexuelle Autonomie aufgehoben; er verliert die Kontrolle, da Hans ihn zu Prostituierten zwingt und selbst die Initiative übernimmt. Paul ist dabei zugleich Täter und Opfer – er stellt seinen Körper zur Verfügung, ohne aktiv zu handeln, und spürt dennoch Lust. Diese Lustempfindung überschreitet die Grenzen von Ich und Du, denn wenn Paul die Lust des Hans fühlt, verschmelzen ihre Empfindungswelten. So entsteht eine Zwischen-Identität, in der sexuelle Erfahrung nicht mehr eindeutig einer Person zugeordnet werden kann. In psychoanalytischer Lesart spiegelt dies eine Entgrenzung zwischen Selbst und Anderem, die zugleich befreiend und bedrohlich ist. Sexualität erscheint im Roman nicht als romantische Verschmelzung, sondern als physische Zwangsgemeinschaft, in der die Lust zu einem ambivalenten Bindemittel wird: Sie verstärkt die Abhängigkeit, weil sie in der erzwungenen Nähe auch Befriedigung findet. Gleichzeitig subvertiert Dreyfus traditionelle Körper- und Geschlechtergrenzen, indem ein männlicher Körperteil, zugleich tot und autonom, Lust im Protagonisten erzeugt. Die Quelle der Lust ist ein Fragment, das weder hetero- noch homosexuell eindeutig fassbar ist, sondern eine hybride, queere Körpererfahrung verkörpert. So wird Sexualität zum zentralen Schauplatz einer Erkundung des Fremden im Eigenen, in der Lust zur treibenden Kraft einer fortschreitenden Auflösung der Identität wird.
Denken wir den eingangs erwähnten Lektürehinweis von Oriane Jeancourt einmal konsequent weiter, dann ergibt sich ein anderes Farbspektrum des Buchs als die düsteren Erdfarben von Krieg und Trauma: Arthur Dreyfus’ La Troisième main lässt sich in seiner traumatisierenden Wendung mit dem unheimlichen dritten Arm lesen, aber eben auch als ein grotesk-opulenter Totentanz, der das Körperliche nicht nur ins Absurde, sondern auch ins lustvoll Perverse steigert. Der Erzähler taumelt in eine Welt, in der die Regeln der Anatomie und Moral wie Seifenblasen zerplatzen: eine dritte Hand wächst aus seinem Bauch, ein Androgyn in purpurnen Tüchern und Muschelarmbändern pflegt ihn mit einer Mischung aus sadistischer Fürsorge und narzisstischer Schöpferpose. Wie bei Grass’ Oskar Matzerath gibt es einen unerschütterlichen, fast kindlich kecken Blick auf die Katastrophe, der das Schreckliche in burleske Szenerien verwandelt – das Labor als Kuriositätenkabinett, die chirurgische Anomalie als bizarr intime Körpererweiterung. Dabei schiebt sich das Erotische immer wieder in den Text, jedoch verschoben und verfremdet: die berührende Nähe zwischen Erzähler und „dritter Hand“ trägt Züge einer körperlich-intimen Komplizenschaft, in der Abhängigkeit und Lust verschwimmen. Gottschalk selbst, zwischen „maman“-Anrufungen und penibler Lippenbemalung, wirkt wie eine Travestie der sexualwissenschaftlichen Zwischenwelten, wie sie Magnus Hirschfeld entworfen hat – eine Figur, die Geschlecht und Begehren dekonstruiert, während sie ihre Opfer neu zusammenmontiert. Die Szenen changieren zwischen zarter homoerotischer Anmutung und freakshowartiger Übertreibung. Dreyfus’ Text tänzelt auf der Grenze zwischen makabrer Parabel und sexualisiertem Jahrmarktspektakel, in dem der Körper zugleich Opfer, Akteur und Attraktion ist – und gerade in diesem schillernden Übermaß an Perversion und Spiel gewinnt er seine anarchische Freiheit.
Mariette, die Freundin der Kindheit, ist das Gegengewicht zu all dem. Sie steht für eine Zeit, in der Berührung noch unschuldig war, in der der Körper nicht von außen definiert wurde. Ihre Abreise ohne Worte, das Zurückbleiben ihres Fahrrads an der Hauswand (chap. „Le vélo de mon amie“), ist ein Bild von fast biblischer Schlichtheit: Das Verlassene wird zum Denkmal des Verlusts. In der Konstellation der Figuren ist Mariette eine Erinnerung daran, dass es ein „Vorher“ gab – und dass es nicht zurückkehrt. Der Roman wechselt zwischen linearem Erinnern (Kindheit, Mariette, Krieg) und verstörender Gegenwartserfahrung (Gefangenschaft, Flucht). Der Erzähler schwankt in der Tonalität zwischen nüchternem Bericht, ironischer Distanz und lyrischer Bildhaftigkeit. Vergangenes wird immer wieder kommentierend eingeholt, wodurch ein Reflexionsraum entsteht, der das Erlebte nicht abschließt, sondern offen lässt. Der Schluss des Romans ist von einer leisen Resignation geprägt. Der Chauffeur Joseph Prudhomme hört Pauls Geschichte, glaubt ihr nicht oder will sie nicht glauben, und bietet ihm Schweigen als Lösung an. „On ne sort de l’ambiguïté qu’à ses dépens“ (chap. „Sortir de l’ambiguïté“). Paul nimmt an. Dieses Einverständnis mit dem Schweigen ist kein Verrat an der Wahrheit, sondern eine Anerkennung ihrer Unvermittelbarkeit. Bataille hätte darin den „schweigenden Exzess“ erkannt: die Erfahrung, die nicht sagbar ist, weil sie außerhalb der Sprache liegt. So endet La troisième main nicht mit einer Rückkehr in die Gesellschaft, sondern mit einer Selbstverortung im Zwischenraum. Paul lebt, aber er lebt als Hybrid, definiert durch eine Erfahrung, die weder vollständig mitgeteilt noch vergessen werden kann. Die „dritte Hand“ bleibt sein Geheimnis, sein Stigma und auch seine Rettung.
La troisième main ist ein hybrider Roman zwischen Kriegsnarrativ, Körperhorror und existenzieller Erzählung. Krieg liefert den Kontext der Verwundung, die Medizin das Werkzeug der Monstrosität, und die Flucht öffnet den Raum für Fragen nach Identität und Schuld. Der Protagonist überlebt, aber dieser Überlebensakt ist untrennbar mit dem Verlust einer eindeutigen Menschlichkeit verbunden. Der Text lotet damit aus, wie Körper, Gewalt und Fremdheit zusammenwirken, um ein Leben unwiderruflich zu verändern. Wie Kafkas Gregor Samsa erwacht Paul in einem Körper, der nicht mehr sein eigener ist; wie Shelleys Kreatur des Frankenstein ist er Produkt einer Hybris, die sich als Fortschritt tarnt; wie bei Bataille ist der Körper ein Ort der Grenzüberschreitung, an dem das Humane ins Unbestimmte kippt. Brueghels „Triomphe de la Mort“ dient als visuelles Echo für Gottschalks Labor, das wie eine perverse Mischung aus Anatomiesaal, Schlachthaus und Folterkammer beschrieben wird. Religiöse Motive, ironisch gebrochen, unterstreichen die Ambivalenz zwischen vermeintlicher Erlösung und tatsächlicher Verstümmelung. Die Erzählung bleibt durchzogen von einer doppelten Spannung: dem Bedürfnis, die eigene Geschichte zu bekennen, und der Notwendigkeit, sie zu verschweigen, um weiterleben zu können. So entsteht das Porträt eines Überlebenden, der sich nicht als Held, sondern als zufälliger Miraculé versteht – gerettet, aber unwiderruflich verändert.
Pradelles Rezension betont Dreyfus‘ stilistische Exzentrik: Der Text ist überbordend, widersprüchlich, voller formaler Experimente und bewusst unwahrscheinlich. Er lässt sich nicht klar auf ein Genre oder Thema festlegen und changiert zwischen Kriegserzählung, grotesker Fabel, Bildungsroman, psychologischem Porträt, Farce und philosophischem Text. Dreyfus’ bekannte Themen – Geschichte, Erinnerung, Sexualität, Normen, Monstrosität – verschmelzen hier zu einem literarischen „Kaleidoskop“, das ihn an Frankenstein, Hugo, Marcel Aymé oder surréalistische Prosa erinnert. – Dreyfus‘ Text wird von Juliette Einhorn in Le Monde des livres als pikareskes, formal überbordendes „Carnet“ beschrieben, das verschiedenste Gattungen mischt: Aphorismen, moralische und libertine Fabel, Abenteuer- und Kriegsroman, Gothic Erzählstoff. Die typografische Gestaltung (Zwischenrufe wie „Stop“, kursiv gesetzte Einschübe, Exkurse, Brüche) legt die literarische „Nahtarbeit“ offen und strukturiert das Übermaß an Eindrücken. Inhaltlich wechselt das Buch zwischen Groteske und Emotionalität, etwa wenn Paul die leiblichen Eltern von Hans trifft, ohne ihre Sprache zu sprechen. – L.-HLR schließlich schlägt für Lire im November 2023 eine ähnlich übermütige Lesart wie Oriane Jeancourt vor: „Man muss auch wissen, wie man den Wollknäuel entwirrt – was Dreyfus hier auf fast 500 pikaresken Seiten brillant gelingt, oft urkomisch, dann düsterer und berührender, je näher wir dem Ende kommen. Diese Hand ist unerträglich! Sie lässt Paul in einer Bolzenfabrik glänzen, dann als Zauberer, sie spielt göttlich Bach, zeichnet wundervoll japanische Stiche; andererseits kann sie aber auch einen Passanten erwürgen wollen oder von anstößigen Ideen durchkreuzt werden … Mit Frauen wird Paul alles erleben: Eine wilde Verlobte wird ihn verlassen, erschrocken von seiner Eigenart, eine erfahrenere Kokotte wird in seiner Gesellschaft ein beispielloses Vergnügen finden. Ohne jemals schwerfällig zu sein, ist der Roman, wie wir verstanden haben, eine Reflexion über unsere mehr oder weniger unterdrückten Impulse, über unser Unterbewusstsein, über den abwechselnd leuchtenden und dunklen Teil, der sich trotz allem in uns regt.“ 1
Dreyfus’ Leistung liegt darin, diese Figur nicht als reines Kuriosum auszustellen, sondern als so unheimliches wie burlesk überbordendes Modell menschlicher Existenz unter Extrembedingungen. Das Groteske wird schließlich zum Modus des Überlebens: das Monströse, das andere an ihm sehen, wird vom Erzähler nicht nur ertragen, sondern als eigene Bühne genutzt. In dieser Welt aus Käfigtieren, Leichenteilen und theatralischen Gesten ist Identität immer ein Hybrid aus Selbst und Fremdem, Begehren immer ein Spiel mit Gefahr. Der Roman fragt: Was bleibt vom Ich, wenn es mit dem Anderen verwachsen ist? Die „dritte Hand“ ist irritierendes Teil des Selbst und bleibt Fremdkörper, der nicht mehr verschwindet. Sie ist die sichtbarste Narbe und zugleich ein Werkzeug des Überlebens. In ihr bündeln sich die zentralen Themen des Romans – Hybridität, Ambiguität, Körperlichkeit, Unheimlichkeit – zu einer Figur, die sich der Eindeutigkeit entzieht, zwischen entfremdetem Körpergrauen und opulenter Lust an der dritten Hand.
Anmerkungen- „II ne suffit pas d’être touché par la grâce de l’inspiration : encore faut-il savoir ensuite dérouler la pelote – ce que Dreyfus fait ici avec brio pendant près de 500 pages picaresques, souvent tordantes, puis plus sombres et touchantes alors qu’on s’approche de la fin. C’est qu’elle est intenable, cette main ! Elle permet à Paul de briller dans une usine de boulons puis comme magicien, elle joue divinement Bach, dessine à merveille des estampes japonaises; mais d’un autre côté, elle peut avoir envie d’étrangler un passant, ou être traversée d’idées scabreuses… Avec les femmes, Paul connaîtra tout : une fiancée farouche le fuira effrayée par sa bizarrerie, une cocotte plus expérimentée trouvera en sa compagnie un plaisir inédit. Sans que cela ne pèse jamais, le roman est, on l’aura compris, une réflexion sur nos pulsions plus ou moins refoulées, sur notre inconscient, sur la part tour à tour lumineuse et noire qui s’agite en nous malgré nous.“ L.-HLR, Lire, November 2023.>>>