Silikonimplantat und Kriegsprothese: Arno Bertina

Körperpolitik am Hotelpool

Arno Bertinas Roman Des obus, des fesses et des prothèses („Granaten, Hintern und Prothesen“, éd. Verticales, 2025) entwirft ein ebenso groteskes wie aufschlussreiches Panorama menschlichen Leidens und Überlebens an einem unwahrscheinlichen Ort: einem luxuriösen Hotelpalast in Gammarth, unweit von Tunis, angesiedelt ein bis zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis und inmitten des libyschen Bürgerkriegs. Dieses Setting bildet den Rahmen für eine bemerkenswerte Konstellation von Gästen, die, obgleich scheinbar disparat, in ihrer Körperlichkeit und ihrer existentiellen Verfassung auf eigenwillige Weise miteinander verbunden sind. Der Romantitel „Granaten, Hintern und Prothesen“ verkörpert die zentrale Dichotomie des Romans, indem „Granaten“ die kriegsbedingten Verstümmelungen und Traumata der libyschen Soldaten symbolisieren, während „Hintern“ die Schönheitsoperationen der Frauen repräsentieren, die ihre Körper vergrößern und als Konsumgut inszenieren. Das verbindende Element der „Prothesen“ umfasst sowohl die medizinischen Ersatzteile für verlorene Gliedmaßen der Männer als auch die Silikonimplantate der Frauen, wodurch die künstliche Rekonstruktion und Modellierung des menschlichen Körpers in den Vordergrund gerückt wird. Der Titel fasst somit die umfassende Körperpolitik des Romans zusammen, der den Körper als Schnittpunkt von Gewalt, Schönheitsterror und der Kommodifizierung des Selbst in einer fragmentierten Welt analysiert.

Auf der einen Seite beherbergt das Hotel schwer verstümmelte Männer, Überlebende des brutalen Libyen-Krieges, deren Körper von Granaten und Kugeln gezeichnet sind. Auf der anderen Seite finden sich Frauen ein, die sich ästhetischen Operationen unterzogen haben und nun, von Verbänden und Hämatomen gezeichnet, ihre Genesung abwarten. Diese beiden Gruppen, deren Körper auf unterschiedliche Weisen „beschädigt“ oder „modifiziert“ wurden, begegnen sich am Rand eines stillgelegten Swimmingpools, was eine Atmosphäre des Unbehagens, der Absurdität und einer stillen Konfrontation schafft, die über die gesamte Erzählung hinweg schwebt. Der Palast, dessen Slogan „Luxe, calme et mojito“ sich als „ausgebrannte Glühbirne“ erweist, wird zum allegorischen Raum einer Gesellschaft, die mit den Nachwirkungen von Krieg, politischem Umbruch und einer konsumorientierten Schönheitsindustrie ringt. Aus den vielstimmigen Perspektiven von Rafika (einer Hotelangestellten), Madjed (einem blinden, verstümmelten Chirurgen), Naïma (einer Frau mit unkonventionellen Schönheitswünschen) und Hassen (einem jungen Hotelangestellten) entfaltet sich die Suche nach einem Ausweg aus diesem „morbiden Ort“ und der Versuch, die Lebensfreude wiederzugewinnen.

Bertina thematisiert den schmutzigen Krieg („guerre sale“) in Libyen und die Rolle internationaler Ölkonzerne bei der Finanzierung verschiedener Kriegsfraktionen. Der Krieg wird als tief verwurzelt in geopolitischen und ökonomischen Interessen gezeigt. Obwohl der Roman auch andere Themen wie Körperpolitik, Schönheitschirurgie und Identität behandelt, ist der Krieg das unbestreitbare Fundament, auf dem all diese Narrative aufgebaut sind und ohne das die spezifischen Leiden der Charaktere nicht verstanden werden könnten. Wir können nur hoffen, dass der wehrfähigen Generation in Deutschland und Frankreich massenhafte versehrte Soldatenkörper vergleichbar denen in Arno Bertinas Roman erspart bleiben. Im Jahr 2025 wurden angesichts der Weltlage Änderungen zur Wehrfähigkeit der deutschen Bundeswehr beschlossen, mit einer verpflichtenden Wehrerfassung junger Männer. Diese Reform ermöglicht auch eine verpflichtende Einberufung in Notfällen, die unabhängig vom Spannungs- oder Verteidigungsfall vom Kabinett und Bundestag beschlossen werden kann. 

Die libyschen Soldaten, die im Hotel untergebracht sind, haben schwere Amputationen erlitten. Madjed fehlt ein Arm und ein Bein, er ist blind, und seine Zunge ist geschwollen. Saïf hat zerfetzte Beine. Ihre Körper sind „verminderte“ oder „degradierte“ Körper („hommes qui n’en sont plus — ou si dégradés qu’on doit forcer l’imaginaire“). Rafika beschreibt das fehlende Bein und den fehlenden Arm des Patienten der „Balle Perdue“. Die Patienten sind „polycriblés“ (vielfach durchlöchert). Madjed erlebt Phantomschmerzen und die Qualen seines verstümmelten Körpers. Er fühlt sich wie eine „umgedrehte Schildkröte“, deren Beine vergeblich strampeln. Seine Albträume breiten sich auf andere Patienten aus. Madjed hat nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Namen verloren und wird nur als „l’homme de la 12“ (der Mann von Zimmer 12) oder „Balle Perdue“ (verirrte Kugel) bezeichnet. Die körperlichen Verluste werden als eine Art Abstieg aus dem „Tierreich“ beschrieben. Rafika erlebt Ekel vor den Verletzungen, aber auch eine tiefe Empathie und Faszination für die „unglaubliche Hitze“ des Stumpfes des Patienten, der das pulsierende Herz zu enthalten scheint. Sie sieht darin eine Metapher für das „fragile Leben“, das sich weigert aufzugeben. Hassen beschreibt die Libyer als „Affen mit Maschinengewehren“.

Die Frauen im Hotel haben sich Nasenkorrekturen, Brustvergrößerungen und dem Einsetzen von Po-Implantaten unterzogen. Ihre Körper sind mit Verbänden, Pflastern und Blutergüssen bedeckt („piétinées par une escouade de brutes épaisses“; „couvertes d’ecchymoses et de bandelettes“). Die Frauen sind auf der Suche nach einem „glorreichen Körper“, der bei einigen durch Influencer-Videos und Schönheitsideale geprägt ist. Sie wollen „wie Sherine“ (volle Lippen) oder „Angelina Jolie“ (Brüste) aussehen. Doch die Realität ist oft eine andere: Narben und Schwellungen bleiben. Die Schönheitsoperationen führen nicht immer zum gewünschten Ergebnis oder zu innerem Frieden. Naïma beschreibt, wie die Operation das Gesicht ihres Mannes entfremdet hat, es sei „fade“ geworden und habe seine Singularität verloren. Viele Frauen sind „verängstigt“ und „fiebrig“, gefangen in der Angst, dass ihre Träume vom perfekten Körper manipuliert wurden. Trotz der offensichtlichen Unterschiede sind beide Gruppen von Angst geplagt. Die Frauen, die versuchen, ihre Schönheits-OPs zu überwinden, werden von den Albträumen der Männer „infiziert“, die durch die Hotelwände dringen. Das Hotel wird zu einem Ort, an dem sich die „verletzte Menschheit“ versammelt. Die Narben der Männer und Frauen sind unterschiedliche Zeichen ihrer jeweiligen „Kämpfe“.

Der Roman Des obus, des fesses et des prothèses lässt sich als ein politischer Roman der Körper interpretieren, in dem der menschliche Körper zu einem zentralen Schauplatz von Krieg, gesellschaftlichem Druck und Identitätskampf wird. Ein scharfer Kontrast der schwer verstümmelten libyschen Soldaten und der Frauen, die sich von umfangreichen Schönheitsoperationen erholen: Körper, sei es durch Gewalt verstümmelt oder durch ästhetische Eingriffe optimiert, von äußeren Kräften geformt, dienen als Orte der politischen und sozialen Kommentierung. Die Szenographie dieser Konfrontation spiegelt die zugrunde liegenden Ängste und Heucheleien einer traumatisierten Welt wider.

D’un côté de la piscine il y a les hommes diminués, de l’autre les femmes augmentées. Dès que je m’arrête une seconde pour souffler, entre deux chambres, c’est l’image de la piscine qui s’impose à moi : à droite les hommes auxquels il manque des bras, des jambes, leur chose ; et à gauche des femmes truffées d’implants et de prothèses en silicone. Le doux, le rond et le liquide c’est encore pour les femmes, quand les hommes ont des vis et des plaques en titane et restent tranchés, anguleux, sacrifiés au dieu de la Guerre — on dirait que tout est en ordre, hein ? En apparence, oui, mais en apparence seulement car toutes ne rient pas comme votre groupe de cinq ou six qui est bien identifié ; les autres clientes semblent avoir été battues, elles sont fébriles. On leur a promis un corps glorieux et à vivre trois semaines dans le voisinage des Libyens elles font le plein d’angoisses. Elles n’ont que des individus morcelés sous les yeux, comment pourraient-elles se rassembler, faire corps avec leurs prothèses ?

Auf der einen Seite des Pools sitzen die eingeschränkten Männer, auf der anderen die erweiterten Frauen. Sobald ich zwischen zwei Zimmern kurz innehalte, um durchzuatmen, drängt sich mir das Bild des Pools auf: rechts die Männer, denen Arme, Beine oder ihr Ding fehlen; und links die Frauen, die mit Implantaten und Silikonprothesen gespickt sind. Das Weiche, Rundliche und Flüssige ist wieder den Frauen vorbehalten, während die Männer Schrauben und Titanplatten haben und zerklüftet, kantig bleiben, dem Gott des Krieges geopfert – man könnte meinen, alles sei in Ordnung, nicht wahr? Oberflächlich betrachtet ja, aber nur oberflächlich, denn nicht alle lachen wie Ihre Gruppe von fünf oder sechs, die gut zu erkennen ist; die anderen Kundinnen scheinen geschlagen worden zu sein, sie sind fieberhaft. Man hat ihnen einen herrlichen Körper versprochen, und nach drei Wochen in der Nachbarschaft der Libyer sind sie voller Ängste. Sie sehen nur zerbrochene Menschen vor ihren Augen, wie könnten sie sich sammeln, mit ihren Prothesen eins werden?

Die Szene präsentiert die zentrale Metapher: „hommes diminués“ (eingeschränkte Männer) durch den Krieg, die ein Opfer für den „Kriegsgott“ darstellen, im Gegensatz zu „femmes augmentées“ (erweiterte Frauen) durch Silikonimplantate. Die suggerierte oberflächliche Ordnung ihrer Anordnung um den Pool wird sofort von der Erzählerin untergraben, die offenbart, dass die Frauen, obwohl sie einen „glorious body“ anstreben, fieberhaft („fébriles“) und voller Ängste sind. Ihre Unfähigkeit, mit ihren Prothesen eins zu werden („faire corps avec leurs prothèses“), deutet auf eine tiefere Diskrepanz hin: dass beide Formen der körperlichen Veränderung – ob gewaltsam erlitten oder bewusst gewählt – zu einer fragmentierten, traumatischen Erfahrung führen. Das Sanfte, Runde und Flüssige („le doux, le rond et le liquide“), das mit den Implantaten der Frauen assoziiert wird, steht in scharfem Kontrast zu den Schrauben und Titanplatten („vis et des plaques en titane“) der Männer, doch beides sind Produkte einer Welt, die die menschliche Form entstellt, wenn auch zu unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen, politischen Zwecken.

Der Roman politisiert den „erweiterten“ Körper weiter, indem er seine direkte Verbindung zu globaler Ökonomie und Konflikten aufzeigt. Während einer inszenierten Konferenz erklärt eine Expertin provokativ:

Les prothèses de la chirurgie esthétique c’est LE plan caché. La silicone c’est du plastique et le plastique vient du pétrole. Ce qu’on tire du sous-sol ou des forages offshore, oui monsieur, ça va servir à repulper les lèvres de votre épouse. Rien de neuf, vous savez ? Depuis des dizaines d’années, la Silicon Valley invente le monde d’après. Sans doutes possibles, l’homme du vingt et unième siècle sera siliconé ou ne sera pas.

Prothesen in der Schönheitschirurgie sind DER geheime Plan. Silikon ist Kunststoff, und Kunststoff wird aus Erdöl hergestellt. Was wir aus dem Untergrund oder aus Offshore-Bohrungen gewinnen, jawohl, wird dazu verwendet, die Lippen Ihrer Frau aufzupolstern. Das ist nichts Neues, wissen Sie? Seit Jahrzehnten erfindet Silicon Valley die Welt von morgen. Ohne jeden Zweifel wird der Mensch des 21. Jahrhunderts silikonisiert oder gar nicht sein.

Diese Aussage verbindet die scheinbar persönliche Wahl der Schönheitschirurgie kühn mit der globalen Ölindustrie und ihren politischen Implikationen. Der „silikonisierte“ Körper wird zur Ware, zu einer neuen Rendite für eine Industrie, die zuvor auf Treibstoff fokussiert war, und verknüpft die Eitelkeit des Konsumenten mit den geopolitischen Ressourcenkämpfen, die die Männer verstümmeln. Der Roman stellt Körper nicht nur als individuelle Einheiten dar, sondern als umkämpfte Territorien, die größere gesellschaftliche Narrative von Krieg, Konsumismus, Patriarchat und der unerbittlichen Kommodifizierung des Selbst widerspiegeln. Durch diese scharfen Darstellungen körperlicher Veränderungen und des Kampfes der Charaktere, sich mit ihren neuen Formen auseinanderzusetzen, bietet Des obus, des fesses et des prothèses eine starke Kritik daran, wie sich zeitgenössische politische und ökonomische Systeme direkt am menschlichen Körper manifestieren und Identität, Handlungsfähigkeit und die Definition von Menschlichkeit selbst prägen.

Im Zentrum der Erzählung stehen die individuellen Traumata und inneren Konflikte der Protagonisten, die exemplarisch für die größeren gesellschaftlichen Verwerfungen stehen. Madjed, an sein Krankenbett gefesselt und durch Amputationen und Blindheit seiner Identität als Chirurg beraubt, ringt um seine Würde und kämpft gegen die Verzweiflung, die durch seine körperliche Entstellung und die Gleichgültigkeit des Personals ausgelöst wird. Seine Welt wird auf Geräusche und Erinnerungen reduziert, wodurch das Wiedererkennen der Stimme seiner ehemaligen Geliebten Nour, die nun als „Kriegspatin“ Saïf besucht, eine schmerzhafte Rückkehr der Vergangenheit bedeutet. Naïma hingegen sucht durch ihre radikale Schönheitsoperation – sie wünscht sich tragische und bizarre Züge, wie das herabhängende Auge von Forest Whitaker – eine neue Authentizität und Freiheit von gesellschaftlichen Erwartungen. Ihre Begegnung mit dem Arzt Douieb und ihre komplizierte Beziehung zu Oumar sowie zum jungen Hassen spiegeln ihre Suche nach einem Selbst wider, das über Konventionen hinausgeht. Rafika, die als Zimmermädchen und Lehrerin arbeitet, bewegt sich zwischen Ablehnung und widersprüchlicher Empathie für die Libyer, während sie gleichzeitig die Grobheit ihrer Kolleginnen und die Obsessionen der operierten Frauen kritisiert. Hassen schließlich, der Madjed mit seinen Geschichten unterhält, wird zum Bindeglied zwischen den Welten des Hotels und der Straße, und seine Beobachtungen bieten einen oft rohen, unverstellten Blick auf die Situation.

Die Verflechtung dieser individuellen Schicksale durch das gemeinsame Setting und die übergreifende Thematik körperlicher und seelischer Verletzungen offenbart die zentrale Botschaft des Romans. Das Hotel entpuppt sich als ein Spiegelkabinett, in dem die Gesellschaft ihre Wunden und Obsessionen zur Schau stellt. Die „normalen“ Frauen, die auf Schönheitsoperationen bestehen, um einem idealisierten Bild zu entsprechen, sind in ihrer inneren Zerrissenheit den kriegsversehrten Männern, die unfreiwillig entstellt wurden, oft näher, als sie wahrhaben wollen. Doch inmitten dieser Groteske entstehen auch Momente unerwarteter Solidarität und menschlicher Verbindung. Die Frauen und einige der verwundeten Männer organisieren eine karnevaleske Parade durch die Stadt, bei der sie ihre „entstellten“ Körper und Verbände offen zeigen, um die Normalität zu stören und eine eigene Form von Stärke und Lebensfreude zu finden. Dieser Akt der subversiven Menschlichkeit, der sich dem Zynismus entgegenstellt, macht das Hotel zu einem Mikrokosmos, in dem die Auswirkungen von Krieg, gesellschaftlichem Druck und der Suche nach Identität in all ihrer Groteske und zutiefst menschlichen Tragikomik zusammenlaufen.

Die Verflechtung der Körperpolitik mit Ressourcenkämpfen verdeutlicht, dass die Körper beider Gruppen Waren in einem größeren System sind. Die Erzählerin äußert den Wunsch nach „Hippopotamitude“ als Metapher für eine uneigennützige, mitfühlende Haltung, die der menschlichen Grausamkeit und Selbstsucht entgegensteht. Schließlich kulminiert die Metaphorik in der Idee des „Karnevals“ und der „Parade der Freaks“, die die Frauen und einige Soldaten planen. Hier werden die „estropiés“ (Verkrüppelten) und „femmes sans figure“ (Frauen ohne Gesicht) nicht versteckt, sondern öffentlich zur Schau gestellt, um gesellschaftliche Normen herauszufordern und die Ablösung der Götter durch die Clowns („relève des dieux par les pitres“) anzukündigen. Dieser Akt der Subversion dient als Metapher für die Rückeroberung der eigenen, vermeintlich „unnormalen“ Körper und Identitäten aus den Zwängen einer wertenden und verwertenden Welt.

Werküberblick Bertina

Arno Bertina, ein Autor, der sich über verschiedene Gattungen hinweg – vom Roman über die dokumentarische Erzählung bis zur biographischen Hypothese – bewegt, setzt sich mit sozialen, politischen und persönlichen Themen auseinader. Sein Werk ist geprägt von einer kritischen Betrachtung der Welt, der Machtstrukturen und der Rolle der Literatur selbst.

Die dokumentarische Erzählung Ceux qui trop supportent (2021, Die zu viel ertragen), die sich über vier Jahre erstreckt (2017-2021), schildert den Kampf der ehemaligen GM&S-Arbeiter, eines Automobilzulieferers, gegen Unternehmensgier und politische Gleichgültigkeit. Das Buch würdigt die Intelligenz und Würde der Arbeiterklasse angesichts neoliberaler Politik, die darauf abzielt, sie zu spalten und zu entmachten. Es übt eine scharfe Kritik an der „toten Sprache der Medien“ und politischen Rhetorik und plädiert für eine nuancierte und authentische Darstellung sozialer Kämpfe. Bertina reflektiert auch die ethischen Herausforderungen des Schriftstellers, der solche Realitäten dokumentiert. Der Text zeigt auf, wie massenhafte Arbeitslosigkeit zur sozialen Kontrolle genutzt wird und wie die „Lepénisation der Geister“ die Arbeiter entlang identitärer Linien spaltet. Wie der jüngste Roman Des obus, des fesses et des prothèses kritisiert Ceux qui trop supportent die Gewalt der Welt und neoliberale Systeme. Beide befassen sich mit dem Leiden und seinem Ausdruck und erkunden die Rolle der Sprache bei der Gestaltung von Realität und Widerstand. Ceux qui trop supportent ist eine dokumentarische Erzählung, die sich auf einen kollektiven, äußeren sozialen Kampf konzentriert, während Des obus, des fesses et des prothèses hauptsächlich individuelle, interne psychologische und Identitätskämpfe beleuchtet, wenn auch vor dem Hintergrund von Krieg und gesellschaftlichem Druck. Ersteres feiert kollektiven Stolz und Handlungen, während letzteres individuelle „Verbitterung“ und die Suche nach persönlicher Befreiung hervorhebt.

Wolfgang Asholt stellt in seinem Aufsatz „Fabrikbesetzungen heute und vor 20 Jahren“ 1 Bertinas Ceux qui trop supportent in eine Traditionslinie mit François Bon und der Literatur des „Écrire le travail“. Sein Zugriff auf Bertina ist doppelt: einerseits eine Einordnung in den historischen und poetologischen Kontext von Arbeiterliteratur, andererseits eine präzise Profilierung von Bertinas Eigenart im Verhältnis zu Bon und zur Gruppe Inculte. Bertina erscheint bei Asholt als paradigmatische Figur des „engagierten Schriftstellers“ der Gegenwart. Im Gegensatz zu Bons „ästhetischer“ Bearbeitung von Arbeiterkämpfen, die über Polyphonie, Fragmentstruktur und literarische Verfahren eine Ästhetik des Widerstands generiert, sieht Asholt in Bertina einen Vertreter des Kunst-Aktivismus. Das heißt: Bei ihm ist Literatur nicht nur Darstellung oder Zeugenschaft, sondern performativer Teil des Kampfes. Seine récits documentaires sollen nicht allein Bewusstsein schaffen, sondern unmittelbar politisch wirken. Asholt verweist auf Bertinas Selbstverständnis, Literatur sei eine Antwort auf „la vie humiliée“ und ein Mittel, „denen eine Stimme zu geben, die sonst in der offiziellen Narration der Welt nicht vorkommen“. Charakteristisch ist dabei die Ambivalenz, die Asholt herausarbeitet: Bertina ringt um die Balance zwischen literarischer Intelligenz und aktivistischem Impuls. Er bekennt selbst Unsicherheit, ob sein Buch eher „livre de deuil“ als „livre de combat“ sei. Hier setzt Asholt eine wichtige Differenz zu Bon: Wo Bon eine spezifisch literarische Ästhetik entwickelt, bleibt Bertina stärker im Diskurs des Engagements, selbstkritisch und auf die Gegenwart bezogen. Seine Literatur soll keine Traditionslasten (Rabelais, Artaud, Novarina) tragen, sondern „ganz auf das Zeitgenössische gerichtet“ sein.

Auch die Zugehörigkeit Bertinas zur Gruppe Inculte (mit Claro, Mauvignier u.a.) wird von Asholt kontextualisiert. Diese Kollektivexperimente – etwa Une année en France oder Le livre des places – zeigen ein Verständnis von Literatur als kollektive Praxis, die sich direkt mit sozialen Bewegungen, Protestformen oder urbanen Räumen verschränkt. Asholt liest Bertinas Beitrag dazu als Ausdruck einer Haltung, die den politischen Gehalt von Literatur nicht über poetische Verfahren allein, sondern über die Verbindung mit konkretem Aktivismus sichern will. Kritisch macht Asholt deutlich, dass diese Haltung auch ihre Risiken birgt: die Gefahr einer allzu direkten Illustration sozialwissenschaftlicher Konzepte oder einer Glättung literarischer Eigenständigkeit zugunsten agitatorischer Wirkung. Dennoch erkennt er in Bertinas „vie en direct“ – der Idee einer unmittelbaren Teilnahme der Literatur am sozialen Geschehen – ein innovatives Moment, das über Bourdieu wie über Bon hinausweist. Seine Argumentation läuft somit auf eine doppelte These hinaus: Einerseits ist Bertina als Autor von Ceux qui trop supportent ein Erbe der französischen Tradition der „Arbeiterliteratur“, die seit Kaplan und Bon neue Formen der Zeugenschaft entwickelte. Andererseits bricht er durch seine Zugehörigkeit zur Inculte-Generation mit dieser Tradition, indem er eine Literatur praktiziert, die Aktivismus und Text in eins fallen lassen will – ein Schritt, den Asholt als selten, riskant, aber signifikant für das 21. Jahrhundert einschätzt.

Der Roman Des châteaux qui brûlent (2017, Brennende Schlösser) erzählt die Geschichte der Geiselnahme eines Staatssekretärs durch Arbeiter eines Schlachthofs, der vor der Liquidation steht. Er porträtiert ihren Kampf um Würde und Überleben. Das Buch ist eine fiktive Erkundung einer modernen Aufstandsbewegung, die zeigt, wie gewöhnliche Menschen in kollektivem Widerstand gegen systemische Ungerechtigkeit „Atem“ und Macht finden. Es untersucht kritisch politische Manöver, die Manipulation von Erzählungen und die symbolische Kraft von Widerstandsakten. Das Don Quijote-Motiv fügt eine Schicht über die Wahrnehmung scheinbar unmöglicher Kämpfe hinzu, indem es die Konzerne als Windmühlen im Kampf des Staatssekretärs darstellt. Wie auch Des obus, des fesses et des prothèses untersucht Des châteaux qui brûlent soziale Ungerechtigkeit und die Gewalt von Machtdynamiken. Beide zeigen Charaktere, die in extremen Situationen mit ihrer Identität ringen. Des châteaux qui brûlent konzentriert sich dabei auf direkte, physische Konfrontation und kollektive Aktion in einem spezifischen Arbeitskampf, während Des obus, des fesses et des prothèses sich stärker mit den internalisierten Auswirkungen gesellschaftlicher Gewalt und Traumata befasst, insbesondere im Zusammenhang mit Krieg und Körperbild, in einer introspektiveren, epistolaren Form. Die „Fête“ (Feier) im ersteren ist ein gemeinschaftlicher Akt des Widerstands, während die „Befreiung“ im letzteren zutiefst individuell und psychologisch ist.

Die fiktionale Erzählung Des lions comme des danseuses (2015, Löwen wie Tänzerinnen) ist inspiriert von der Enteignung afrikanischer Kulturgüter durch europäische Staaten während der Kolonialisierung. Sie beschreibt die Forderung des Königs von Bangoulap an das Musée du Quai Branly. Das Buch nutzt Fiktion, um die historische Beraubung des afrikanischen Erbes und die inhärenten Widersprüche des europäischen Universalismus zu kritisieren. Es hebt hervor, wie kulturelle Zusammenstöße tiefere wirtschaftliche und politische Machtungleichgewichte aufdecken. Das „magische Denken“ nicht-westlicher Kulturen wird als Herausforderung für die starre europäische Rationalität präsentiert. Wie auch Des obus, des fesses et des prothèses kritisiert Des lions comme des danseuses den europäischen (Neo-)Liberalismus und seine „universalistischen“ Tendenzen, die oft kommerzielle Interessen verschleiern und Unterschiede auslöschen. Beide beleuchten Identitätskämpfe, wenn auch auf verschiedenen Ebenen (national/kulturell vs. individuell/körperlich), und beide setzen sich mit dem Konzept der „Gewalt“ auseinander – koloniale historische Gewalt vs. Krieg und ästhetische Gewalt. Ersteres Werk verwendet einen eher allegorischen, rechtlich-politischen Kampf, letzteres eine fragmentierte, intime persönliche Erzählung.

Die Erzählung L’âge de la première passe (2020, Das Alter des ersten Passes) dokumentiert Bertinas Erfahrungen bei der Durchführung von Schreibworkshops für junge, oft minderjährige Prostituierte in Kongo-Brazzaville. Das zentrale Thema ist die Verletzlichkeit und das Trauma, das diese Mädchen erleben, sowie die emanzipatorische Kraft des Schreibens. Es ist eine rigorose Selbstreflexion über die Position des Autors und die Grenzen westlicher Perspektiven. Bertina betont die Notwendigkeit von „Justesse“ (Genauigkeit/Gerechtigkeit) und einer tiefen Auseinandersetzung mit der Sprache und Realität der Subjekte, anstatt externe Narrative oder Klischees aufzudrängen. Das Buch kritisiert auch den „Universalismus“ als Handelsdenken, das Kulturen und Unterschiede zermalmt. Wie Des obus, des fesses et des prothèses erforscht auch L’âge de la première passe Verletzlichkeit und Trauma, insbesondere bei Frauen. Beide Texte beschäftigen sich mit der transformierenden Kraft des Schreibens und der Sprache für Selbstverständnis und Befreiung, und beide zeigen ein tiefes Engagement für die Ethik der Repräsentation und eine Kritik des oberflächlichen „Universalismus“. L’âge de la première passe ist eine dokumentarische Erzählung, die in einem spezifischen sozialen Kontext (Prostitution im Kongo) und einer direkten Interaktion mit marginalisierten Individuen verwurzelt ist, wobei die Selbstkritik des Autors im Vordergrund steht. Des obus, des fesses et des prothèses hingegen ist ein fiktiver Roman mit einem internen Fokus, der sich mit breiteren Themen wie Krieg, Körperbild und Konsumkultur befasst. Ersteres diskutiert explizit die Herausforderung sprachlicher Unterschiede und kolonialer Sprache, ein Thema, das im letzteren weniger explizit ist.

Aus dem (unvollständigen) Werküberblick Arno Bertinas zeigt sich sein profiliertes Verständnis von Literatur als einem Ort der Wahrheitssuche, der Gerechtigkeit und des Widerstands. Bertina nutzt Literatur nicht nur als ästhetisches Medium, sondern als Werkzeug für politisches und ethisches Engagement. Sie soll das „unsichtbare Chaos“ des Lebens sichtbar machen, der „toten Sprache der Medien“ entgegenwirken und die „Gewalt der Welt“ artikulieren. Literatur dient ihm als Mittel, um dominante Narrative und Systeme wie Neoliberalismus, Kolonialismus und Patriarchat kritisch zu hinterfragen. Bertina lehnt einfache, apodiktische Erzählweisen ab. Seine Werke zeichnen sich durch Fragmentierung, multiple Stimmen, Fragen und Selbstzweifel aus, um die Komplexität der Realität und der Emotionen widerzuspiegeln. Es geht darum, „dem Gerechten und Wahren“ nahe zu kommen, ohne seine Wut zu verleugnen, aber auch ohne Nuancen zu opfern. Der Akt des Schreibens wird oft als persönliche Reise des Autors dargestellt, die zu Selbstreflexion und einem tieferen Verständnis anderer führt. Literatur schafft einen Raum, in dem marginalisierte Stimmen gehört werden und bestehende Machtstrukturen herausfordern können. Er betont das Zuhören und Verstehen, selbst des „Unverständlichen“. Bertinas Werk dekonstruiert aktiv universalistische Ansprüche und die normative Funktion der Sprache, insbesondere des Französischen, und zeigt auf, wie Sprache selbst ein Instrument der Kolonialisierung oder Emanzipation sein kann. Schließlich versteht er Literatur als einen physischen, verkörperten Akt, der den Körper, seine Empfindungen und seine Verletzlichkeiten einschließt und nicht nur intellektuell ist.

Für die Deutung von Des obus, des fesses et des prothèses wird aus dem Werkkontext deutlich, dass der Roman als intensiv kritisches und ethisch engagiertes Werk zu lesen ist. Die fragmentierte, vielstimmige und epistolare Struktur ist nicht nur ein stilistisches Mittel, sondern ein bewusster Versuch, die Komplexität von Trauma, Identität und dem „Chaos“ der modernen Welt widerzuspiegeln. Das persönliche Leid und die körperliche Verstümmelung der Charaktere sind als Metaphern für die umfassendere „Gewalt der Welt“ und den gesellschaftlichen Konformitätsdruck (z.B. durch Schönheitsoperationen) zu verstehen. Der Kampf der Erzählerin um Selbstdefinition ist eine Ablehnung auferlegter Normen und eine Suche nach einer authentischen, sogar „bizarren“ Identität. Die Figur des „Doktors“ und des „Vaters“ repräsentieren nicht nur Individuen, sondern möglicherweise auch die patriarchalischen, rationalistischen oder „bürgerlichen“ Systeme, die Bertina in seinem Werk kritisiert. Der Akt des Schreibens des Briefes, auch wenn er ungesendet bleibt, ist ein Akt des Widerstands und der Selbstbefreiung. Das Buch sensibilisiert dafür, über oberflächliche Erscheinungen, gesellschaftliche Verlautbarungen und die „tote Sprache“ konventioneller Narrative hinauszublicken und stattdessen die „Monster zwischen den Worten“ und die alternative Wahrheiten zu suchen, sich mit dem emotionalen und intellektuellen „Zittern“ des Textes auseinanderzusetzen.

Vier Figuren und ihre Perspektiven

Rafika: Die pragmatische Empathie und der Bruch mit der Indifferenz

Rafika, die gleichzeitig als Hotelangestellte und Grundschullehrerin arbeitet, verkörpert zu Beginn der Erzählung eine ambivalente Haltung gegenüber den Hotelgästen. Sie ist eine scharfe Beobachterin der absurden Situation im Hotel und nimmt die Schrecken wahr, die sie umgeben, ringt jedoch gleichzeitig um eine professionelle Distanz, die sie vor emotionaler Überforderung schützen soll. Ihr Beruf als Lehrerin für „nette Kinder“ steht in starkem Kontrast zu den „Teufeln“ des Hotels, eine Unterscheidung, die ihre anfängliche Abneigung und Angst vor den verstümmelten Libyern unterstreicht. Sie befürchtet deren „Ansteckung“ durch Krankheiten und ist schockiert von ihren sexuellen Forderungen. Ihre Kolleginnen verspotten sie als „prude“, doch Rafika versucht, ihre eigene moralische Integrität zu bewahren.

Ihre Entwicklung nimmt eine entscheidende Wendung, als sie mit dem extrem leidenden Madjed, dem „Balle Perdue“, konfrontiert wird. Obwohl sie anfänglich vor der Berührung seiner Hand zurückschreckt, überwindet sie allmählich ihren Ekel und ihre Angst. Ein prägender Moment ist die Pflege des Stumpfes dieses Patienten, als sie eine unerwartete, tiefe Verbindung zum Leben selbst spürt. Sie reflektiert:

Je n’arrive plus à me dire qu’il s’agit d’un mercenaire qui est allé au-devant de la mort sans défendre une cause. La vie fragile parle pour elle-même. Le moignon que j’ai failli lâcher, ce coeur descendu dans la cuisse gauche pour être aux avant-postes… ils parlent pour la vie qui s’obstine alors qu’elle aurait toutes les raisons de renoncer, la vie qui s’entête malgré la fragilité…

Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass es sich um einen Söldner handelt, der in Todesgefahr gegangen ist, ohne für eine Sache zu kämpfen. Das zerbrechliche Leben spricht für sich selbst. Der Stumpf, den ich beinahe losgelassen hätte, dieses Herz, das in den linken Oberschenkel gewandert ist, um an vorderster Front zu kämpfen … sie sprechen für das Leben, das sich hartnäckig weigert aufzugeben, obwohl es allen Grund dazu hätte, das Leben, das stur weitermacht, trotz seiner Zerbrechlichkeit …

Diese Passage ist zentral für Rafikas Wandel. Sie kann den Mann nicht länger als gesichtslosen Söldner abtun; stattdessen erkennt sie im „fragilen Leben“ des Stumpfes, im „Herz, das bis in den Stumpf hinabgestiegen ist“, eine universelle und hartnäckige Lebenskraft. Der Stumpf wird zum Metonym für einen Überlebenswillen, der alle moralischen Urteile oder politischen Zuschreibungen transzendiert. Rafikas anfänglicher Wunsch nach Distanz weicht einer tiefen, fast transzendenten Wertschätzung des Lebens selbst in seiner verwundbarsten Form. Sie lernt, dass das Leben sich „trotz der Zerbrechlichkeit“ behauptet. Diese Erkenntnis ist ein Akt der tiefen Empathie und Würdigung, der über ihre ursprünglichen Ängste und Vorurteile hinausgeht. Rafika verkörpert die Möglichkeit, auch im Angesicht des Grauens und der Absurdität, Menschlichkeit und Mitgefühl zu finden. Ihre Reise ist eine Bewegung vom rein Pragmatischen hin zur Anerkennung des existentiellen Wertes jedes einzelnen Lebens.

Madjed: Die sensorische Welt und der Verlust der Identität

Madjed ist der blinde, schwer verstümmelte Chirurg, der im Hotelpalast an sein Krankenbett gefesselt ist. Durch den Krieg in Libyen hat er nicht nur Gliedmaßen und Augen verloren, sondern auch seine berufliche und persönliche Identität als „Doktor Kerbouche“. Seine Welt, einst visuell dominiert, ist nun auf Geräusche und Erinnerungen reduziert. Diese erzwungene sensorische Umstellung schärft sein Gehör, macht ihn jedoch gleichzeitig extrem verwundbar für die Geräusche des Hotels, die ihm sowohl die Banalität als auch die Grausamkeit der Welt offenbaren. Er beschreibt diese Erfahrung eindringlich:

Le monde : par les oreilles. On peut fermer les yeux… Bloquer sa respiration, se retenir de pisser, mais les oreilles… sauf à utiliser nos mains, du coton, de la cire… Black-out.

Die Welt: durch die Ohren. Man kann die Augen schließen … Den Atem anhalten, das Wasser halten, aber die Ohren … Es sei denn, man benutzt die Hände, Watte, Ohrstöpsel … Blackout.

Madjeds Erkenntnis, dass die Ohren keine „Augenlider“ haben, dass sie nicht abgeschirmt werden können, betont die allgegenwärtige und unentrinnbare Natur der auditiven Wahrnehmung. Die Welt durch Geräusche ist für ihn voller Angst und Unsicherheit, ein ständiger Angriff auf seine Psyche, im Gegensatz zur visuellen Welt, die ein Gefühl der Beruhigung vermittelt hätte. Sein Versuch, über das Gehör seine ehemalige Geliebte Nour zu identifizieren, zeigt die Macht der auditiven Erinnerung und seine tiefe Sehnsucht nach einer verlorenen Welt. Madjeds Körper ist ein Schlachtfeld der Kriegstraumata; die Schmerzen, die er empfindet, sind „wie Aasgeier, die sich um eine Beute streiten“. Doch selbst in diesem Zustand körperlicher Zerstörung manifestiert sich das Leben auf widersprüchliche Weise, etwa durch eine Erektion, die ihn weckt und ihm seine verbliebene Männlichkeit und Lebenskraft ins Bewusstsein ruft. Sein Kampf ist nicht nur ein physischer, sondern auch ein existentieller Kampf um Würde und die Wiederaneignung seines fragmentierten Selbst. Er ringt mit der Absurdität des Krieges, der ihn nicht wegen einer glorreichen Sache, sondern aufgrund „einfacher Dummheit“ verstümmelt hat. Madjed verkörpert die tragische Figur des Überlebenden, dessen einzige Verbindung zur Welt die schmerzhafte Erinnerung und die ungeschützte sensorische Aufnahme ist.

Naïma: Die Rebellion der Schönheit und die Suche nach Authentizität

Naïma Sadiki ist eine Figur, die das Konzept der Schönheitschirurgie radikal neu definiert. Sie lehnt die stereotypen Schönheitsideale ab, die durch die Medien und die Chirurgen selbst reproduziert werden – Nasen wie Haifa Wehbe, Brüste wie Dorra Zarrouk, Hintern wie Rym Saldi. Anstatt sich anzupassen, sucht sie aktiv nach einer Singularität, die bewusst „unperfekt“ ist. Ihre Forderung, ihr Gesicht tragische und bizarre Züge zu verleihen, insbesondere ein herabhängendes Auge wie das des Schauspielers Forest Whitaker, ist ein provokanter Akt des ästhetischen Widerstands. Es ist ein Protest gegen die „Fordisierung der Körper und der Wünsche“, die eine homogene, konsumorientierte Schönheit fördert. Sie drückt dies in scharfen Worten an den Chirurgen aus:

Je veux le tragique, le dérisoire, la solitude. Démerdez-vous, voici l’argent. Faites ce qu’il faut, crachez sur la poupée, démerdez-vous.

Ich will das Tragische, das Lächerliche, die Einsamkeit. Seht zu, wie ihr zurechtkommt, hier ist das Geld. Tut, was nötig ist, spuckt auf die Puppe, kommt klar.

Diese Aussage ist ein Manifest gegen Konformität und oberflächliche Perfektion. Naïma wünscht sich keine Schönheit, die kaschiert oder idealisiert, sondern eine, die die Risse und Brüche des Lebens offenbart. Ihre Wahl des „Tragischen, des Lächerlichen, der Einsamkeit“ ist eine tiefgreifende philosophische Position zur Akzeptanz menschlicher Unvollkommenheit und zur Schaffung einer authentischen Identität jenseits normativer Schönheitsdiktate. Es ist ein Akt der Selbstermächtigung, der die kommerzielle Logik der Schönheitsindustrie satirisch unterläuft. Naïmas Rebellion ist auch eine Emanzipation von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen, insbesondere der ihres Vaters. Sie weigert sich, ihre Operation als Akt der Rache oder des Hasses gegenüber Männern zu interpretieren, sondern als Akt der Selbstdefinition. Ihre anfängliche Distanz und Kritik gegenüber den anderen operierten Frauen wandelt sich in eine tiefe Solidarität, da sie erkennt, dass auch diese Frauen in einem Kampf um ihr Selbst gefangen sind. Sie wird zur Initiatorin der karnevalesken Parade, einem kollektiven Akt der Selbstakzeptanz und des Widerstands gegen die stigmatisierende Sicht der Gesellschaft auf ihre „entstellten“ Körper. Naïma verkörpert die Suche nach einer radikalen Authentizität, die auch das vermeintlich Hässliche und Unperfekte als Teil einer einzigartigen Schönheit annimmt.

Hassen: Die unschuldige Beobachtung und die Entdeckung der Menschlichkeit

Hassen ist der junge Hotelangestellte, dessen Perspektive eine Mischung aus kindlicher Naivität, pragmatischer Anpassung und scharfer, wenn auch oft unreflektierter Beobachtung bietet. Er ist ein „plouc des dunes“ aus Sidi Bouzid, der nach Tunis kam, um der Langeweile zu entfliehen und Arbeit zu finden. Seine Rolle als Kofferträger und Laufbursche im Hotel ermöglicht ihm einen Einblick in die verschiedenen Welten der Gäste und Patienten, die er auf eine sehr direkte, ungeschminkte Weise wahrnimmt. Er ist fasziniert von den „Mommies“ (den operierten Frauen) und den „Kriegern“ (den verstümmelten Libyern). Seine sexuelle Neugier und die oft vulgären Gedanken, die er in der Nähe der Frauen hegt, stehen im Kontrast zu einer unterschwelligen Melancholie und dem Gefühl der eigenen „Schmutzigkeit“, die ihm von seinen Eltern eingepflanzt wurden.

Hassens Begegnung mit Naïma Sadiki ist für ihn ein transformatives Erlebnis. Er ist zunächst von ihrer „unverschämten“ Schönheit beeindruckt, aber mehr noch von ihrer Freiheit und ihrem Lachen. Er beschreibt ihre intime Begegnung als einen Moment der Befreiung und des reinen Spiels, fernab von den gesellschaftlichen Zwängen und Kriegsgräueln, die das Hotel umgeben. Naïmas Worte während dieser Begegnung sind symptomatisch für diese Erfahrung:

Elle m’a dit : « C’est comme si on découvrait ça, toi et moi, la bandaison. » … Elle a dit : « C’est fou comme une érection est sans second degré ! »

Sie sagte zu mir: „Es ist, als würden wir das hier gerade erst entdecken, du und ich, die Erektion.“ … Sie sagte: „Es ist verrückt, wie eindeutig eine Erektion ist!“

Diese Zitate heben die Unschuld und die Freude am rein Körperlichen hervor. Naïma und Hassen erleben eine Sexualität, die nicht von Macht oder Erwartungen belastet ist, sondern von einem gemeinsamen „Entdecken“. Ihre Bemerkung über die „unzweideutige“ Erektion betont die pure, ehrliche Körperlichkeit, die im Kontrast zu den verzerrten und strategischen Beziehungen der anderen Figuren steht. Diese Szene wird zu einem Symbol für eine unverfälschte Lebensbejahung, die in der Groteske des Hotels einen Platz findet. Hassen lernt durch Naïma, dass Freude und Sinnlichkeit auch im Angesicht des Leidens möglich sind. Er überwindet seine eigene Verklemmtheit und entdeckt eine Schönheit, die jenseits von Konventionen liegt. Sein Abgang aus dem Hotel am Ende des Romans ist eine Abkehr von der „sauren“ und „ekelhaften“ Welt der Gewalt und Heuchelei, hin zu einer neuen, persönlicheren Freiheit, die er mit Naïma gefunden hat.

Thesen zum Roman

Der Körper als Schlachtfeld und Ort der Neuerfindung: Die Dualität des Verstümmelten und Augmentierten

Ein zentrales poetisches Motiv des Romans ist die Gegenüberstellung und Verflechtung von Körpern, die durch Krieg zerstört und durch Chirurgie „verbessert“ wurden. Das Hotel wird zu einem Mikrokosmos, in dem beide Formen der Körpermodifikation koexistieren und sich spiegeln. Die Männer sind unfreiwillig, oft grausam verstümmelt, während die Frauen freiwillig, wenn auch unter gesellschaftlichem Druck, radikale Veränderungen an sich vornehmen lassen. Der Roman fragt, welche Form der „Entstellung“ authentischer oder tragischer ist. Madjed, dessen Körper „aus dem Tierreich ausgeschieden“ ist, verkörpert die unfreiwillige Zerstörung, während Naïma die bewusste, fast künstlerische Neuerfindung des Körpers darstellt. Der Roman unterstreicht, dass beide Zustände eine Form der Entfremdung vom „natürlichen“ Körper darstellen und tiefgreifende Fragen nach Identität und Authentizität aufwerfen. Die Prothesen und Implantate, sei es Titan für Knochen oder Silikon für Brüste und Gesäß, sind dabei ambivalent: Sie versprechen Heilung und Verschönerung, können aber auch als Zeichen einer fortgesetzten Manipulation und Verleugnung des natürlichen Körpers gelesen werden. Die Konferenz über Erdöl enthüllt die schockierende Verbindung zwischen Silikonimplantaten und Petrochemie. Diese provokante Verbindung von Körper und globaler Konsumindustrie hebt die Absurdität hervor, wie der menschliche Körper zu einem Rohstoff für Profit und zur Leinwand für künstliche Ideale wird. Die satirische Überzeichnung dieser Thematik – „donnernde, geschwätzige Brüste und ein Hintern, der so aufdringlich ist wie ein hyperaktives Kind“ („des seins tonitruants, bavards, et des fesses aussi accaparantes qu’un gosse hyperactif“) – dient dazu, die Tiefenwirkung dieser Prozesse auf die menschliche Identität aufzuzeigen.

Kritik an Schönheitsindustrie und Konsumgesellschaft: Die „Fordisierung der Körper“

Bertina übt scharfe Kritik an der Schönheitsindustrie und den sie tragenden Konsumgesellschaften. Er enthüllt, wie Schönheitsideale durch Massenmedien (Prominente wie Haifa Wehbe oder Angelina Jolie) geprägt werden und Frauen dazu zwingen, ihren Körper als Ware zu betrachten. Die Idee, dass Schönheit „demokratisiert“ werde, führt paradoxerweise zu einer Homogenisierung, der „Fordisierung der Körper und der Wünsche“, die Naïma so vehement ablehnt. Der Roman zeigt auf, wie diese Industrie, getrieben von Gier nach Profit, unrealistische Standards schafft und Frauen in einen Teufelskreis der permanenten Optimierung drängt. Die Figur des Arztes Douieb, der „schiefe“ Schönheitswünsche nicht verstehen kann und nur standardisierte Operationen anbietet, symbolisiert die kalte, technokratische Natur dieser Industrie, die keine individuelle Nuance oder tiefere psychologische Motivation erkennt. Die Ironie liegt darin, dass auch die kriegsversehrten Männer, die unweigerlich zu Objekten des Mitleids oder Ekels werden, in den Hotelgästen eine perverse Spiegelung ihres eigenen Schicksals sehen. Die Frauen, die mit ihren operierten Körpern prahlen, sind ebenso Gefangene eines Systems wie die Männer, die durch Kugeln entstellt wurden. Der Roman kritisiert die Oberflächlichkeit und die Leere hinter dem Glanz und zeigt, dass die Suche nach dem perfekten Körper oft in Angst, Scham und einem Gefühl der Entfremdung mündet.

Trauma und Erinnerung: Der Krieg, der nicht endet

Der Libyen-Krieg hat eine allgegenwärtige, gespenstische Präsenz im Roman, die weit über das Schlachtfeld hinausreicht. Er wird nicht als heroisches Epos, sondern als „schmutziger Krieg“ dargestellt, der von „einfacher Dummheit“ und persönlichen Ambitionen angetrieben wird. Die physischen und psychischen Wunden der Soldaten entblößen die sinnlose Brutalität des Konflikts und die Brüchigkeit männlicher Identität. Die Männer im Hotel sind Gefangene ihrer Erinnerungen und Albträume. Madjed erlebt jede Nacht die „Granaten, die immer wieder auf ihn fallen“, und die Schreie der anderen Patienten, die von ihren eigenen Dämonen geplagt werden, verschmelzen zu einem kollektiven Trauma. Der Krieg endet nicht mit dem Rückzug von der Front; er nistet sich in den Köpfen und Körpern der Überlebenden ein und vergiftet ihre Gegenwart. Die Frauen wiederum, die sich in Tunis von ihren Schönheitsoperationen erholen wollen, sind unweigerlich mit diesen Kriegsfolgen konfrontiert. Ihre Ängste, die eigentlich mit der ästhetischen Unsicherheit verbunden sind, werden von den Albträumen der Männer heimgesucht, die „wie Djinns oder Dibbuks“ unter ihre Türen dringen. Dieser „Angst-Supermarkt“ im Hotel verdeutlicht, dass Trauma nicht isoliert bleibt, sondern sich ausbreitet und alle Anwesenden erfasst. Der Roman zeigt, wie Krieg nicht nur Landschaften und Körper verwüstet, sondern auch die menschliche Psyche nachhaltig prägt und eine Kultur der Angst und Verzweiflung schafft, die selbst in einem luxuriösen „Schutzraum“ nicht zu entkommen ist.

Die Poetik des Grotesken und der Ambiguität

Arno Bertina bedient sich einer Poetik des Grotesken, um die Absurdität und die inhärente Widersprüchlichkeit der dargestellten Welt zu erfassen. Das Groteske zeigt sich in der surrealen Hotelumgebung, wo Schönheitsideale und Kriegsversehrtheit nebeneinander existieren, sowie in der Darstellung der Charaktere und ihrer Interaktionen. Rafikas Beschreibung der operierten Frauen als „von einer Schar grober Kerle zertrampelt“ und der Männer als „keine Männer mehr“ ist ein Beispiel für diese verzerrte, aber aufschlussreiche Wahrnehmung. Der Roman spielt mit der Verschiebung von Normalität und Abnormalität, wobei die scheinbar „normalen“ Wünsche nach Schönheit in den Bereich des Bizarren abdriften und die „entstellten“ Körper der Soldaten eine eigene, oft verstörende Ästhetik entwickeln. Die Ambiguität ist ein Schlüsselmerkmal der Charaktere und ihrer Beziehungen. Figuren sind selten eindeutig gut oder böse, schön oder hässlich. Madjed, der ehemalige Chirurg, ist nun selbst Patient; Naïma, die Schönheit sucht, wünscht sich Hässlichkeit. Sogar der Humor im Roman ist oft bitter und von einer gewissen „Säure“ durchzogen, was die Komplexität menschlicher Emotionen und die Unfähigkeit, einfache moralische Urteile zu fällen, hervorhebt. Das Lachen der Frauen, das sowohl Ausdruck von Spott als auch von Lebensbejahung sein kann, unterstreicht diese Ambiguität. Bertinas Sprache ist dicht, metaphorisch und oft schonungslos, was die Leser dazu zwingt, die Oberflächen zu durchbrechen und die tieferen, oft schmerzhaften Wahrheiten zu bedenken, die sich unter der grotesken Fassade verbergen. Das Groteske dient dabei nicht nur der satirischen Kritik, sondern auch der Freilegung einer tiefen, oft schmerzhaften Menschlichkeit.

Zum Romanende

Des obus, des fesses et des prothèses nimmt die menschliche Existenz am Rande der Gesellschaft und des Selbst in den Blick. Durch die vier Perspektiven werden unterschiedliche Facetten von Trauma, Anpassung, Rebellion und der Suche nach Sinn beleuchtet. Der Körper wird zum zentralen Medium, das sowohl Leid als auch Hoffnung, Zerstörung als auch Neuerfindung verkörpert. Der Roman dekonstruiert die vorherrschenden Schönheitsideale und entlarvt die Konsumgesellschaft als einen Mechanismus, der Körper in Waren verwandelt. Gleichzeitig zeigt er die anhaltenden Traumata des Krieges, der sich in die Psyche der Überlebenden einfrisst und die Grenzen zwischen physischen und psychischen Wunden verwischt.

Die Poetik des Grotesken und der Ambiguität ist dabei nicht nur ein stilistisches Mittel, sondern ein existenzieller Kommentar. Sie erlaubt es Bertina, die Absurdität der Situation und die moralische Komplexität seiner Figuren auszuloten. Schönheit und Hässlichkeit, Opfer und Täter, Sinnlichkeit und Trauma verschmelzen zu einem komplexen Ganzen, das einfache Kategorisierungen unmöglich macht. Die Momente der Empathie und Solidarität, die sich trotz der allgegenwärtigen Angst und des Ekels einstellen, bieten einen Hoffnungsschimmer. Sie zeigen, dass menschliche Verbindung und Mitgefühl auch in den dunkelsten Zeiten möglich sind und dass das Lachen – selbst das saure oder selbstironische – ein Akt des Widerstands gegen Verzweiflung sein kann. Der Roman feiert die hartnäckige Lebensbejahung, die sich auch in fragmentierten und „unperfekten“ Körpern manifestiert.

Der Roman mündet in eine abschließende Sequenz, die die zentralen Themen der Befreiung, Solidarität und der paradoxen Lebensbejahung verdichtet. Die Erzählung endet mit Hassens Verhör durch einen Polizisten, was die Geschichte der Hotelbewohner in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen stellt und das Unverständnis der „Außenwelt“ gegenüber den inneren Erfahrungen der Protagonisten hervorhebt. Hassen, der seine Erfahrungen mit Naïma und dem Hotel verteidigt, wird zum Zeugen einer anderen Realität, die der Polizist mit seinen konventionellen Fragen nicht zu erfassen vermag.

Ein wesentliches Element des Schlusses ist die Metapher des „langen Dämmerungswagens“, die ursprünglich von Naïma verwendet wurde, um Oumars melancholisches Dahinsiechen nach ihrer Trennung zu beschreiben. Nun jedoch wird diese Limousine zu einem Symbol für eine kollektive Reise der Befreiung. Hassen, der sich von der brutalen Welt des Hotels abgewendet hat, steigt mit den Frauen in dieses Fahrzeug ein. Dies ist kein individueller Akt der Flucht, sondern ein gemeinschaftlicher Aufbruch, der die Solidarität und Akzeptanz unter den ehemals getrennten Gruppen des Hotels markiert. Die Passagiere sind eine heterogene Gruppe: „Flakons aus Kollagen auf Beinen“, „Monster, die nur Liebe ohne Arroganz fordern“, Hotelangestellte und „Bürgerinnen, die die Leine ihres tollwütigen Hundes gefressen haben“. Sie alle repräsentieren verschiedene Formen von „Andersartigkeit“, die nun gemeinsam unterwegs sind, ihre „Abnormalitäten“ offen zur Schau stellend.

In dieser Limousine ereignet sich eine zentrale Szene: Rafika, die Hotelangestellte, erzählt von Madjeds Tod, dem „Balle Perdue“. Ihre Beschreibung seines Todes ist von tiefer Empathie geprägt: Sie hat seinen Körper sanft berührt und ihm im Sterben das Gefühl gegeben, geliebt und lebendig zu sein.

J’ai pas évité sa chose, non, et le sourire que j’ai vu, sur son visage, ça m’a confirmé que je faisais une bonne action. Est-ce que c’était vraiment le Bien, ça y a que Dieu pour dire, et Il me jugera, mais je suis tranquille car y a aussi que Dieu pour avoir vu tout ce calme, cette paix. Lui, évidemment, cette douceur, il a pensé que c’était moi, mais pour moi c’était les ailes de l’ange qui venait le chercher car juste après cette douceur et ce froufrou, il était plus là, et les collègues elles ont vu qu’il était détendu, sa bouche, les lignes du front. Quasi comme un sourire, et ça les a beaucoup marquées parce qu’il a été pénible, et puis les obscénités des derniers jours… On avait même décidé toutes ensemble de plus lui dire bonjour, pour le punir. Mais là tout était changé par la présence de l’ange, dans la chambre, qui attendait que je fasse ma part. La part des vivants c’est de se serrer les coudes. Je suis sortie, j’ai laissé cet homme à l’ange qui attendait. Et il n’y avait que lui et moi pour savoir que, dans ses derniers instants, il s’était cru vivant, l’homme de la 12. J’avais fait mon travail d’humain, c’est pour ça que j’ai confiance…

Ich bin seinem Ding nicht ausgewichen, nein, und das Lächeln, das ich auf seinem Gesicht sah, bestätigte mir, dass ich etwas Gutes getan hatte. Ob es wirklich das Richtige war, kann nur Gott sagen, und Er wird über mich richten, aber ich bin beruhigt, denn nur Gott hat all diese Ruhe und diesen Frieden gesehen. Er dachte natürlich, diese Sanftheit käme von mir, aber für mich waren es die Flügel des Engels, der ihn holte, denn gleich nach dieser Sanftheit und diesem Rascheln war er nicht mehr da, und die Kolleginnen sahen, dass er entspannt war, sein Mund, die Falten auf seiner Stirn. Fast wie ein Lächeln, und das hat sie sehr beeindruckt, weil er so anstrengend war und dann die Obszönitäten der letzten Tage … Wir hatten sogar alle zusammen beschlossen, ihm nicht mehr guten Morgen zu sagen, um ihn zu bestrafen. Aber jetzt war alles anders durch die Anwesenheit des Engels im Zimmer, der darauf wartete, dass ich meinen Teil tat. Der Anteil der Lebenden ist es, zusammenzuhalten. Ich ging hinaus und überließ diesen Mann dem wartenden Engel. Und nur er und ich wussten, dass er sich in seinen letzten Augenblicken lebendig gefühlt hatte, der Mann aus Zimmer 12. Ich hatte meine Aufgabe als Mensch erfüllt, deshalb habe ich Vertrauen …

Diese Passage ist ein Höhepunkt der emotionalen Entwicklung im Roman. Rafika überwindet ihre anfängliche Abneigung und die moralischen Vorurteile, um dem sterbenden Madjed einen Akt tiefer Menschlichkeit zu erweisen. Ihre Berührung ist nicht nur physisch, sondern auch spirituell; sie interpretiert das Lächeln auf seinem Gesicht als Zeichen der Begegnung mit einem Engel. Madjed, der sich im Sterben „lebendig glaubte“, erfährt durch Rafikas Akt der Güte eine transzendente Würde. Dies ist ein Akt der radikalen Empathie, der über alle gesellschaftlichen Kategorisierungen hinausgeht und die Kraft der menschlichen Verbundenheit im Angesicht des Todes betont. Rafika hat „ihre Arbeit als Mensch getan“, indem sie das Leben in seiner fragilsten Form anerkannt und geehrt hat.

Die Fahrt in der Limousine und Rafikas Erzählung symbolisieren die Überwindung des „Kreises des Feuers“, der die Hotelbewohner zuvor gefangen hielt. Die Frauen feiern ihre gemeinsame, unorthodoxe Schönheit und Menschlichkeit. Naïmas Wunsch, „inhabituelle“ zu sein, findet in dieser Gemeinschaft Bestätigung und Ausdruck. Das Lachen, die Solidarität und die Akzeptanz der eigenen „Monstrosität“ werden zu Akten der Lebensbejahung. Der Tod des „Balle Perdue“ wird durch Rafikas mitfühlenden Akt nicht nur als Ende, sondern als Übergang und als Bestätigung der menschlichen Fähigkeit zur Empathie dargestellt. Der Roman endet nicht mit einer einfachen Lösung, sondern mit der Offenheit einer neuen Reise, die das Groteske umarmt, die Fragmentierung anerkennt und in der kollektiven Menschlichkeit einen Weg zur Freude und zum Sinn findet. Die lange „voiture crépusculaire“ fährt nicht in die Dunkelheit, sondern in eine ungewisse, aber gemeinsam geteilte Zukunft, in der das Lachen und die zärtliche Geste die letzten Worte sind.

Anmerkungen
  1. Wolfgang Asholt, „Fabrikbesetzungen heute und vor 20 Jahren: François Bon, Daewoo (2004), und Arno Bertina, Ceux qui trop supportent (2021)“, Lendemains 189 (2024), Dossier: „La popularité des classes populaires entre sociologie et littérature », 115–26.>>>

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