Überwachen und Erschöpfen: Guillaume Poix nach Michel Foucault

Nachtdienst im Panoptikum

Guillaume Poix’ Roman Perpétuité (2025) steht auf der Auswahlliste für den renommierten Prix Goncourt 2025. Der Titel verweist zunächst auf die juristische Strafe des lebenslangen Freiheitsentzugs. Doch der Roman weitet diesen Begriff über den engen Rahmen des Strafrechts hinaus. „Lebenslänglich“ ist hier nicht nur das Schicksal der Inhaftierten, sondern auch das der Aufseherinnen und Aufseher, die im Rhythmus der Schichten, Türen und metallischen „clacs“ gefangen sind. Figuren wie Pierre oder Abraham erfahren, dass sie nie wirklich aus der Haftatmosphäre entkommen, auch wenn sie außerhalb der Mauern leben. Abrahams Nachtwache etwa verschmilzt mit dem endlosen Widerhall des Hilferufs seiner Tochter, sodass Vergangenheit und Gegenwart zu einer quälenden Endlosschleife werden. „Perpétuité“ bedeutet in diesem Sinn Dauer, Erstarrung, das Ausgeliefertsein an eine Zeit, die nicht vergeht. Zugleich beschreibt der Titel die Struktur des Gefängnissystems selbst. Bianca Mariani erkennt, dass jede neue Gefängniszelle die Überbelegung nur weiter verstärkt: „Plus on construit de places de prison, plus il y a de personnes détenues.“ Das System perpetuiert sich, ohne die Probleme zu lösen – es ist eine Maschine, die endlose Dauer erzeugt. Diese Dauer dringt auch in die Wahrnehmung ein: Selbst die Wolken, die Bianca durch die Sicherheitsnetze betrachtet, erscheinen eingesperrt, « même les nuages finiraient en cage ». Der Titel bündelt somit juristische, existentielle, institutionelle und metaphorische Dimensionen. Er macht sichtbar, dass „lebenslänglich“ im Roman nicht nur Strafe bedeutet, sondern eine Lebensform, die alle erfasst, die im Bann des Gefängnisses stehen.

Guillaume Poix’ Perpétuité (2025) spielt an einem einzigen Abend und einer Nacht in einer südfranzösischen maison d’arrêt. Der Roman folgt nicht den Gefangenen als klassischen Protagonisten, sondern den Aufseherinnen und Aufsehern – Pierre, Houda, Laurent, Maëva, Abraham, Bianca Mariani und andere –, die gemeinsam in den zwölf Stunden des Nachtdienstes eine Abfolge von Eskalationen und Krisen durchlaufen. Brände, Disziplinarverfahren, medizinische Notfälle, Übergriffe, Suizidversuche, aber auch banale Routinen wie Essensausgabe oder Übergabegespräche verketten sich zu einem Kaleidoskop des Gefängnisalltags. Gerade weil es keine lineare Heldengeschichte gibt, entsteht ein Panoptikum von Stimmen, in dem individuelle Erschöpfung und institutioneller Zerfall ineinandergreifen.

Parallel dazu werden persönliche Schicksale sichtbar: Abraham, der alte Torwächter, verbringt seine letzten Dienstnächte wie ein Gespenst seiner selbst, gefangen in Erinnerungen an eine familiäre Katastrophe; Houda und Maëva geraten nach einem traumatischen Einsatz in den Duschen an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit; Bianca Mariani, die Direktorin, ringt in politischen Auseinandersetzungen mit Behörden und zugleich im intimen Gespräch mit einem Häftling um ihre Selbstbehauptung. Die titelgebende „Perpétuité“ verweist so doppelt auf das lebenslängliche Urteil der Inhaftierten wie auch auf das „lebenslängliche“ Eingeschlossensein des Personals, das an der Institution hängt wie an einem Gefängnis ohne Entlassung. Fragen drängen sich auf: Wer ist in diesem System eigentlich der Gefangene? Wie verwandelt die Institution Körper und Sprache derer, die in ihr arbeiten? Und was sagt die Gefängnisroutine über die Gesellschaft aus, die sie hervorbringt?

Guillaume Poix, Perpétuité, librairie Mollat, 2025.

Die Handlungsstruktur ist mosaikartig. Statt eines linearen Spannungsbogens verknüpft Poix simultane Episoden und Perspektiven: die Ankunft Pierres im „clac“ der schweren Türen, die routinierte Abfertigung Martines hinter der Glasscheibe, die laute, ironische Kameradschaft im PCI (Poste Central d’Information), die erschöpfte Rede Biancas vor dem Präfekten über die 950 Gefangenen für 617 Plätze. Jede Szene funktioniert wie ein Splitter, der eine andere Facette der Anstalt zeigt. Figurenkonstellationen entstehen in Reibungsflächen: zwischen Pierre und seinen Kollegen, wo kollegialer Spott („On va bouffer à point d’heure“) abrupt in Gereiztheit umschlägt; zwischen Bianca und den Beamten, wo Loyalität, Misstrauen und Abneigung ineinanderfallen; zwischen Abraham und den Gefangenen, die er abfertigt, wo Routine in existenzielles Grauen kippt.

Die Kommunikation nimmt signifikante Formen an: abgehackte Funksprüche, das Übermaß an Akronymen (API, SDRE, PCC), ironische Floskeln im Kantinenhumor. Gerade die Sprache der Verwaltung wird zur Hauptsprache der Haft: Protokolle, Übergaben, Vermerke ersetzen unmittelbare Rede. In einer Szene zeigt Poix, wie ein Disziplinarverfahren gegen Bachir verhandelt wird: Auf dem Papier ist der Vorfall klar, doch die Videos zeigen die nackte Gewalt, und Bachir bricht vor den Augen der Direktorin Lavorel weinend zusammen – „C’est pas moi, pourquoi je suis comme ça?“ Hier bricht die Illusion der Bürokratiesprache: hinter dem Dossier taucht ein Mensch auf, der sich selbst nicht versteht. Doch der Apparat reagiert mit dem Mitard, einer Verlängerung des Systems.

Poetologisch ist der Roman eine „Erzählung des Einschließens“. Türen, Schleusen, Gitter werden obsessiv beschrieben, immer wieder das „clac“ der Schließmechanismen, das wie ein Herzschlag den Text rhythmisiert. Diese akustische Metapher verweist auf das Unentrinnbare: jeder Gang endet in einer Tür, die nur von außen geöffnet wird. Überwachung wird als narrative Technik inszeniert: Kamerabilder, Sichtfenster, Blickachsen strukturieren die Erzählung. Selbst die private Wahrnehmung Biancas in ihrer Dienstwohnung ist von den neuen Netzen gegen Wurfgeschosse verstellt – „même les nuages finiraient en cage“. Die Metaphorik verbindet Körper und Architektur: Pierres Ekzem, Abrahams Übergewicht, Houda und Maëvas Erschöpfung stehen in Parallele zu den maroden Mauern, den vergitterten Sichtfeldern, den improvisierten Notlösungen der Institution.

Die Zeitstruktur verstärkt das Gefühl von Erstarrung: formal durch die Beschränkung auf eine Nacht, erzählerisch durch Rückblenden und Erinnerungsströme, die lineares Voranschreiten unterbrechen. Abrahams Nachtwache etwa ist zugleich durchzogen von Erinnerungen an das Trauma seiner Tochter – Vergangenheit und Gegenwart kollidieren, die Nacht dehnt sich ins Endlose. So entsteht ein paradoxes Zeitgefühl: permanenter Alarm und zugleich ewige Wiederholung, eine Chronik der „perpétuité“.

Gesellschaftskritisch wird das Gefängnis zum Brennpunkt einer überlasteten Justiz: Biancas Rede vor dem Präfekten enthüllt das Dilemma – „Plus on construit de places de prison, plus on incarcère.“ Die Institution produziert Überfüllung, Gewalt, Krankheiten, und die Justiz verlängert sie durch reflexhafte Inhaftierungen. Justizkritisch zeigt der Roman, dass das Gefängnis keine Resozialisierung ermöglicht, sondern Gewalt und Verfall perpetuiert. Auch das Personal ist nicht „außerhalb“ dieser Kritik: es erleidet Burn-out, psychosomatische Krankheiten, Vereinsamung – der Preis für das Aufrechterhalten eines Systems, das niemandem nutzt.

Konkrete Szenen verdeutlichen dies: In der Szene mit dem Gefangenen Camara, der nach einem Urteil von drei Jahren wieder in seine Isolationszelle gebracht wird, ringt Pierre zwischen Routine („On fait attention à vous“) und dem Wissen, dass diese Fürsorge nur eine zynische Floskel ist. In der Szene im PCI, wo sich die Aufseher im Jargon der Abkürzungen und zynischen Witze verlieren, wird Sprache selbst zur Mauer: die Wörter schließen Außenstehende aus, sichern aber auch die fragile Identität der Gruppe. Besonders eindringlich ist die Szene im Mitard, die Lavorel imaginiert: der 6-Quadratmeter-Raum, die Hitze, die Ratten, die Graffiti. Der Text evoziert den physischen Druck der Isolation, der sich als Metapher auf das gesamte Gefängnissystem überträgt.

Der Roman stellt den Tod als allgegenwärtige Realität dar, sei es durch Suizid von Häftlingen oder Aufsehern. Die Beschreibung von Bachirs Suizid ist gnadenlos detailliert, von seiner Entscheidung, sich aus der Zelle zu retten, bis zu den vier Minuten und 57 Sekunden seines Todeskampfes. Die medizinische Sichtweise (Dominique Anjou) auf den Tod und die Autopsie ist klinisch und entpersonalisiert, doch auch sie kann die emotionale Last und das Gefühl der Sinnlosigkeit nicht ganz verbergen. Der Roman verdeutlicht, dass selbst nach dem Tod die Bürokratie und das System nicht loslassen und der Körper des Verstorbenen noch den Regeln der Anstalt unterliegt.

Objekte der Macht: die Wärter

Pierre, der diensthabende erste Aufseher, ist ein zynischer Veteran, der kurz vor der Rente steht und von tiefer Desillusionierung gezeichnet ist. Er verkörpert die physische und emotionale Erschöpfung, die durch jahrelangen Dienst entsteht. Seine Fahrt zur Arbeit wird bereits zu einem „Sas“, einer Übergangszone, aus der er nie wirklich entfliehen kann. Die Sicht auf die Gefängnismauer mit Stacheldraht fühlt sich an, als sei er bereits dort, von der „Taule“ (umgangssprachlich für Gefängnis) ganz eingenommen. Er leidet unter Ekzemen, die seine Haut befallen und ihn dazu bringen, sich frenetisch zu kratzen. Der metallische Klang des sich öffnenden Haupttors hallt in seinen Albträumen wider, eine „Stahlklinge auf zitterndem Nacken“. Sein Mobiltelefon, das er vor dem Dienst ausschalten muss, symbolisiert die zwölf Stunden der Unerreichbarkeit und die damit verbundene Angst. Pierre trägt seine Uniform bereits auf dem Weg zur Arbeit, um Zeit zu sparen, obwohl es verboten ist, was seine Müdigkeit und Missachtung der Regeln unterstreicht. Er hat persönliche Traumata erlitten; der Verlust seiner Frau vor fünf Jahren, die starb, während er im Dienst war und ihr Anrufe nicht entgegennehmen konnte, hat ihn gezeichnet. Die Fotos in seinem Spind, die seine Familie zeigen, rühren ihn zu einer Kontraktion im Sternum, einem Zeichen seiner tiefen Wunden. Pierre hat die Fähigkeit verloren, sich für die Geschichten der Häftlinge zu interessieren, die oft durch „charakteristisches Nichtstun, typische soziale Prekarität, affektive Wüste, erzieherisches Chaos“ gekennzeichnet sind. Er stellt fest, dass das Gefängnis seine Mission, Straftäter zu resozialisieren oder Rückfälligkeit zu verhindern, verfehlt; stattdessen macht es sie oft noch gewalttätiger. Pierre erkennt, dass die Aufseher selbst in dieser „Lebenslänglichkeit“ gefangen sind.

Bianca Mariani, die Gefängnisleiterin, wird als „Kriegerin“ und „Bulldozer“ beschrieben, die energisch für die Verbesserung der Haftbedingungen und gegen die Überbelegung kämpft. Mit 950 Insassen für 617 theoretische Plätze und fünfzig Matratzen auf dem Boden ist die Anstalt eine „Pulverkammer“, die Selbstmorde und ultra-gewalttätige Angriffe auf das Personal provoziert. Bianca fordert eine richterliche Lösung, die eine Obergrenze für Inhaftierungen festlegt, anstatt immer mehr Gefängnisse zu bauen, da mehr Plätze nur zu mehr Inhaftierungen führen. Ihre äußere Stärke kontrastiert mit ihrer tiefen persönlichen Verletzlichkeit. Sie empfindet sich als „Exilierte“, die nicht zu der „Version des Lebens“ der Menschen außerhalb der Gefängnismauern gehört. Ein dramatisches Erlebnis ihrer Tochter Nina, die einen Selbstmordversuch unternahm, hat Biancas Einstellung zur Arbeit grundlegend verändert und jeden Suizid im Gefängnis zu einer „unüberwindlichen Katastrophe, einer Bestrafung“ für sie gemacht. Die Ankunft des berüchtigten Serienmörders Duquesne, den sie sieben Jahre zuvor in einem traumatischen Gespräch kennengelernt hatte, konfrontiert sie erneut mit ihrer Angst und dem Gefühl, an ihre Grenzen zu stoßen. Sie weigert sich, dem Bild des „Monsters“ zu verfallen, das die Medien von ihm zeichnen, und erkennt, dass „Banalität oft auf der Seite des Unaussprechlichen liegt“. Duquesne benutzt die Kenntnis über Biancas Tochter als Waffe, um sie zu destabilisieren.

Émilie Lavorel, Biancas junge Stellvertreterin, ringt mit den moralischen Dilemmata ihres Berufs. Sie ist von Schlafmangel, Stress und der allgegenwärtigen Bürokratie (repräsentiert durch unzählige Post-its in ihrem Büro) gezeichnet. Ihre geheime Liebesbeziehung zur Aufseherin Kim birgt zusätzliche Risiken in diesem streng regulierten Umfeld. Der Suizid des jungen Häftlings Bachir Al Aloui im Disziplinarquartier löst in ihr tiefe Schuldgefühle aus, da sie ihn selbst dorthin eingewiesen hatte. Émilie kämpft mit dem Wissen, dass sie eine Institution aufrechterhält, die Häftlinge dehumanisiert und deren psychische Probleme verschlimmert. Sie fragt sich, ob das Gefängnis korrumpiert und ob sie selbst zu einer „Randständigen“ wird, für die Übertretungen zur Regel werden.

Abraham, der Pförtner, zählt die Tage bis zu seiner Rente. Er ist durch ein unerträgliches Trauma gezeichnet: Seine Tochter wurde von ehemaligen Häftlingen vergewaltigt, die ihn durch seine Arbeit erkannten. Seine Geschichte illustriert die weitreichenden und zerstörerischen Auswirkungen des Gefängnislebens auf die Familien der Mitarbeiter. Er versucht, der Monotonie der Nachtschicht und seinen traumatischen Gedanken mit Kreuzworträtseln und Tic Tacs zu entfliehen, kann aber den von seiner Tochter geschenkten Roman nicht lesen, als wäre er eine verbotene Verbindung zu seiner zerbrechlichen privaten Welt. Er verachtet sich selbst und ist der Ansicht, dass ihm nicht einmal das „kleine Vergnügen“ des körperlichen Schmerzes zugestanden wird.

Maëva, eine Aufseherin und alleinerziehende Mutter, verkörpert die logistischen und emotionalen Herausforderungen, die der Dienst und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit sich bringen. Ihre vernetzte Uhr, obwohl nicht offiziell erlaubt, ist für sie eine Lebenslinie, um den Kontakt zu ihrer Außenwelt und ihrer Tochter Neyla aufrechtzuerhalten. Sie erkennt, dass das Gefängnis die Kriminalität „erfindet“, anstatt sie zu beseitigen – eine Erkenntnis, die sie während eines „Garde à blanc“-Einsatzes gewann, bei dem das leere Gefängnis ihr als „ideales Gefängnis“ erschien, bis sie die Illusion durchschaute. Maëva spürt, dass sie durch ihren Beruf zu jemandem geworden ist, der sie nicht mehr ist, und dass das Gefängnis sie in eine „Lebenslänglichkeit“ der Seele zwingt.

Kim, Émilies Partnerin, ist durch die extremen „matin-nuit“-Arbeitszeiten, die 24 Stunden Arbeitszeit mit minimaler Pause umfassen, psychisch zerrüttet. Ihre gewalttätige Reaktion auf einen homophoben Häftling, der sie als „sale gouine“ beschimpfte, führt zu einem Disziplinarverfahren. Sie hatte gelogen, um sich zu schützen, da die Videoüberwachung keinen Ton aufzeichnete. Ihre Geschichte beleuchtet die angespannte und aggressive Atmosphäre innerhalb der Anstalt und die Art und Weise, wie die „Dauerhaftigkeit der Gefängnisflure“ sie brutalisiert und misshandelt hat. Kim fühlt sich in diesem System austauschbar und wie ein „Zombie“, der nur eine Variable in den Schichtplänen ist.

Laurent „Bébel“, der Gewerkschafter, ist das Sprachrohr für die kollektive Frustration, Solidarität und den zynischen Humor der Aufseher. Er erinnert an verstorbene Kollegen wie Francis Caron, der von einem Insassen ermordet wurde, und beleuchtet die ständige Gefahr und die hohen persönlichen Kosten des Berufs. Bébel setzt sich für Verbesserungen ein, wie die Einführung der Kontrolle der Zellengitter durch zwei Aufseher, eine „Errungenschaft“, die durch die „Dramen“ und Opfer des Personals erkauft wurde. Er kritisiert die Verwaltung, die „oben in den Büros“ arbeitet, während die Aufseher „auf den Gängen herumhängen“. Er nutzt seinen trockenen Witz, um die Anspannung zu lösen und seine Kollegen aufzumuntern, beispielsweise durch die Vergabe von Spitznamen wie „Harissa“ (Houda), „Bonnemine“ (Sandrine), „Mamma Mia“ (Giulietta) oder „Bouledogue“ (Christ-Marceau).

Eingeschlossene Gesellschaft

Der Roman Perpétuité von Guillaume Poix nutzt semantische Felder und Metaphorik auf vielfältige Weise, um eine tiefgreifende Interpretation des Gefängnisumfelds und seiner Auswirkungen auf Insassen und Personal zu ermöglichen. Diese sprachlichen Mittel tragen maßgeblich zur Schaffung einer dichten Atmosphäre, zur Offenlegung psychologischer Zustände und zur Kritik am System bei.

Das zentrale semantische Feld der Haft und des Eingeschlossenseins wird im Roman durch wiederkehrende Begriffe und Bilder vermittelt. Die physische Begrenzung wird unmittelbar durch den „mur d’enceinte surmonté de barbelés en lames de rasoir“ (Umfassungsmauer, gekrönt von rasiermesserscharfem Stacheldraht) deutlich. Doch die Haft erstreckt sich weit über die Mauern hinaus: Für Pierre wird die Straße zum Gefängnis, das ihn „tout entière“ (ganz) einnimmt, sodass er „n’en sort jamais vraiment“ (nie wirklich daraus entkommt). Dies metaphorisiert die psychologische Gefangenschaft, die die Arbeit im Gefängnis mit sich bringt. Das wiederholte Geräusch des schließenden Tors, „clac“, wird als „gifle métallique, entaille dans l’estomac“ (metallene Ohrfeige, Einschnitt in den Magen) beschrieben, was die Gewalt und die schmerzhafte Allgegenwart der Haft verdeutlicht. Bianca bemerkt sogar, dass „même les nuages finiraient en cage“ (sogar die Wolken im Käfig enden würden), was die Allgegenwart der Gefangenschaft bis ins scheinbar Freie ausdehnt. Der Gefängnisausdruck „la taule“ (der Knast) wird durchweg verwendet, was eine harte, despektierliche Konnotation hat und die Realität der Einrichtung als entmenschlichenden Ort unterstreicht. Letztlich wird das Gefängnis selbst als „labyrinthe sans issue, fourmillant d’impasses“ (Auswegloses Labyrinth, voller Sackgassen) dargestellt, was die Hoffnungslosigkeit und die Unfähigkeit, aus den vorgegebenen Bahnen auszubrechen, symbolisiert.

Der Roman übt Kritik am Justizsystem durch Metaphern, die die Entmenschlichung der Beteiligten hervorheben. Die Bürokratie und ihre Sprache werden als eine „maladie chronique, un cancer“ (chronische Krankheit, Krebs) beschrieben, deren Akronymen wie „API“ oder die Softwarenamen „Antigone“, „Romeo“ und „Genesis“ als „labyrinthe aux frondaisons massives“ (Labyrinth mit massiven Baumkronen) erscheinen. Diese Terminologie, die eigentlich der Vereinfachung dienen soll, „asservir le réel en le rétrécissant“ (die Realität unterwerfen, indem man sie verkleinert). Insbesondere die Software „Genesis“ wird zu einer „matrice originelle qui engendre les agents, institue leur existence et les enterrera tous“ (ursprünglichen Matrix, die die Beamten hervorbringt, ihre Existenz begründet und sie alle begraben wird), was die totale Kontrolle und letztendliche Auslöschung der Individualität der Wärter durch das System suggeriert. Die Wärter selbst fühlen sich als „interchangeable, une variable que l’on ajuste selon les plannings, un zombie qui passe et se dissipe comme une chiasse“ (austauschbar, eine Variable, die man je nach Dienstplan anpasst, ein Zombie, der vorübergeht und sich wie Durchfall auflöst). Dies veranschaulicht die systematische Entindividualisierung. Die Gefangenen werden als „mille mecs cuits à l’étuvée“ (tausend gedämpfte Typen) oder als „hamster dans sa roue“ (Hamster in seinem Rad) charakterisiert, was ihre passive, eingesperrte Existenz betont. Die Metapher der „tumeur maligne“ (bösartigen Geschwulst) für die im Stadtbild verankerte Justizvollzugsanstalt verdeutlicht ihre zerstörerische, krankmachende Wirkung auf die Gesellschaft.

Die körperliche und seelische Belastung ist ein wiederkehrendes Thema, das durch das semantische Feld von Ermüdung, Leid und Verfall ausgedrückt wird. Pierres Ekzem, das er „laboure frénétiquement“ (rasend beackert) und das seinen „corps entier hurle ici et là“ (ganzen Körper hier und da schreien lässt), ist eine Metapher für seinen inneren Stress. Die Müdigkeit „fracasse“ (zerschmettert) die Wärter, und Bianca ist „épuisée pour rêver“ (zu erschöpft, um zu träumen). Die Geräusche des Gefängnisses bilden eine „mélodie du chaos“ (Melodie des Chaos), eine „discrète bande originale de leur catastrophe quotidienne“ (einen diskreten Soundtrack ihrer alltäglichen Katastrophe), die die ständige psychische Belastung widerspiegelt. Die „déflagration“ (Explosion) in Biancas Magen nach Duquesnes Worten zeigt, wie psychische Angriffe sich physisch manifestieren. Émilies Selbstwahrnehmung „s’effrite comme les murs défraîchis qu’elle côtoie au quotidien“ (bröckelt wie die verfallenen Mauern, denen sie täglich begegnet), verbindet ihren seelischen Verfall mit der physischen Umgebung des Gefängnisses. Die Wärter werden als „colonie de manchots qui se tient chaud tandis que le blizzard fouette la banquise“ (Pinguinkolonie, die sich warmhält, während der Schneesturm die Eisbank peitscht) dargestellt, was ihre prekäre Lage und ihren Zusammenhalt in einer feindseligen Umgebung symbolisiert.

Der Roman lebt von der Gegenüberstellung der klaustrophobischen Gefängnisrealität mit Erinnerungen oder flüchtigen Momenten der Außenwelt. Pierre überquert die „zones franches“ (Freizonen) vor dem Gefängnis, ohne sie wahrzunehmen, was seine emotionale Entfremdung symbolisiert. Eine „chat couleur réglisse“ (lakritzfarbene Katze), die „farouche“ (wild) ist und „bondit, détale, disparaît“ (springt, davonläuft, verschwindet) an der Gefängniseinfahrt, verkörpert die ungebändigte Freiheit im Kontrast zur strikten Ordnung innen. Biancas Kindheitserinnerungen an die „plages infinies et luxuriantes de la Wild Coast“ (unendliche und üppige Strände der Wild Coast) oder die spielerischen Schattenbilder der Bäume bilden einen scharfen Kontrast zu ihrer aktuellen Realität. Kims imaginierte Zukunft mit Émilie, geprägt von idyllischen Naturlandschaften und häuslichem Glück, hebt die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit für jene hervor, die im Bann des Gefängnisses stehen.

Diese Bilder des Eingeschlossenseins ermöglichen nicht nur ein tiefes Eintauchen in die Gefühlswelt der Charaktere, sondern auch eine Kritik an der entmenschlichenden Logik und den tiefgreifenden Auswirkungen einer „institution au bord du gouffre“ (Institution am Rande des Abgrunds).

Gefängnisroman als Gesellschaftsroman

Der Roman zeichnet sich durch eine unverblümte, realistische und detaillierte Darstellung aus, die die physische und emotionale Härte des Umfelds spürbar macht. Die Sprache ist oft direkt, mit Umgangssprache und Zynismus der Aufseher, was ihren Überlebensmechanismus im „Absurdistan“ der Gefängniswelt widerspiegelt. Interne Monologe, Erinnerungsfetzen und assoziative Gedankengänge sind prägend und vermitteln die psychische Belastung der Figuren. Die detaillierten Beschreibungen der physischen Umgebung, der Gerüche, Geräusche und der sensorischen Erfahrungen tragen zur Authentizität und Immersion bei.

Perpétuité untersucht schonungslos die Funktionsweise und die tiefgreifenden menschlichen Kosten des modernen Strafvollzugs. Es beleuchtet, wie das System nicht nur Häftlinge, sondern auch seine Mitarbeiter in einem Zustand der „Lebenslänglichkeit“ gefangen hält und sie physisch, emotional und psychologisch zermürbt. Der Roman ist ein Appell, die moralischen und sozialen Kosten dieser Institution zu hinterfragen und die unsichtbaren Leiden all jener zu sehen, die täglich mit ihr konfrontiert sind. Er endet mit einem Blick auf Pierre, der nach der Nachtschicht nach Hause fährt, immer noch von der Taule gezeichnet, mit den Bildern der Nacht im Kopf und dem Wissen, dass er, wie alle anderen auch, Lebenslänglich („perpétuité“) erhalten hat. Auch Bianca und Émilie, die zur nächsten Schicht zurückkehren, können dem Sog der Institution nicht entkommen. Das Gefängnis ist ein Ort, der alles verschluckt, auch die Hoffnung und die Identität seiner Bewohner, und ein Ort, von dem man sich, ironischerweise, „nicht mehr vorstellen kann, nicht dort zu arbeiten“, weil es „Wärme“ und „jemanden zum Reden“ bietet, eine Ersatzfamilie in der Verzweiflung. Es ist eine Reflexion über die menschliche Natur und die Fähigkeit, selbst unter den extremsten Bedingungen zu überleben und eine Form von Verbindung zu finden.

Der Schluss ist hoch pointiert. Das Gespräch zwischen Bianca und Duquesne eskaliert, als er sie an die Erinnerung an ihre Tochter bindet – ein Akt der Demütigung und psychischen Gewalt. Statt in den Kreislauf einzusteigen, beendet Bianca die Beziehung: „C’était notre dernier entretien.“ Dieser Satz ist doppeldeutig: einerseits eine Rückgewinnung von Handlungsmacht, andererseits ein Eingeständnis, dass sie selbst die Begegnung nicht mehr erträgt. Es ist ein Moment der Selbstbehauptung, doch er verweist auch auf die Grenzen jeder individuellen Entscheidung in einer Institution, die alle Begegnungen strukturiert. Das Ende zeigt: Ausbruch ist nicht möglich, nur kleine Gesten der Abgrenzung sind erlaubt.

Perpétuité ist weniger Gefängnisroman als Gesellschaftsroman: Das Gefängnis erscheint als Brennspiegel der französischen Gegenwart – überlastet, strukturell ungerecht, administrativ erstarrt. Die titelgebende Ewigkeit meint nicht nur das Strafmaß der Insassen, sondern das Eingeschlossensein aller Beteiligten. Poix zeigt eine Welt, in der Überwachung, Sprache und Architektur zu Gefängnissen der Wahrnehmung selbst werden. Der Schluss markiert eine fragile Form des Widerstands, aber keine Befreiung. Damit schärft der Roman die Diagnose: solange die Gesellschaft Strafe als Verwaltung von Leid versteht, bleibt die „perpétuité“ das Grundprinzip – für alle.

Der letzte Dialog zwischen Bianca und Duquesne ist Kulminationspunkt. Duquesne nutzt seine Medienbekanntheit und psychische Manipulation, um Bianca in ihrer Verletzlichkeit zu treffen. Indem er ihre Tochter erwähnt, überschreitet er alle institutionellen Grenzen. Bianca reagiert nicht mit formaler Autorität, sondern mit einem persönlichen Schnitt: „C’était notre dernier entretien.“ Dieser Satz ist doppeldeutig. Einerseits markiert er Selbstbehauptung: Sie beendet das Gespräch, nicht er. Sie entzieht ihm das Spielfeld. Andererseits ist es ein Eingeständnis, dass sie das Spiel nicht länger erträgt. Es ist ein Rückzug, keine wirkliche Befreiung.

Der Schluss zeigt damit das Paradox: Es gibt keinen Ausbruch aus dem System, nur kleine individuelle Gesten der Abgrenzung. Selbst die Direktorin ist nicht souverän, sondern eingeschlossen. Die letzte Szene lässt offen, ob Biancas Geste ein Sieg oder eine Niederlage ist – wahrscheinlich beides.

Guillaume Poix’ Perpétuité ist ein Roman des Eingeschlossenseins. Er zeigt die Institution Gefängnis nicht als Ort klarer Machtverhältnisse, sondern als Geflecht von Routinen, Überlastungen, Traumata. Figuren und Personal sind ebenso gefangen wie die Insassen. Sprache, Architektur, Klang und Zeit erzeugen eine „Poetik des Einschlusses“, in der jede Bewegung im Kreis verläuft. Gesellschaftskritisch entlarvt der Roman das Gefängnis als Ort der Verwaltung von Leid: Überfüllung, Gewalt, Justizreflexe. Justizkritisch zeigt er, dass die Institution nicht resozialisiert, sondern perpetuiert – Leid, Gewalt, Bürokratie.

Der Schluss mit Bianca und Duquesne markiert eine fragile Form des Widerstands: kleine Geste, keine Befreiung. Perpétuité ist damit nicht nur Titel, sondern Diagnose: Ein System, das alle Beteiligten in Dauerhaftigkeit einschließt. Der Roman gehört in die Tradition der Gefängnisliteratur (von Genet bis Fresnes), erweitert sie aber, indem er nicht den Gefangenen, sondern den Apparat ins Zentrum rückt – und so die Gesellschaft selbst als „Inhaftierte“ sichtbar macht.

Guillaume Poix und Michel Foucault

Foucault beschreibt das Gefängnis als paradigmatische Institution moderner Macht. Es ist für ihn nicht nur ein Ort, sondern ein Dispositiv: Überwachung, Einschließung, Disziplinierung. Seine berühmte Figur ist das Panoptikum: ein Gefängnisbau, der die Insassen lückenlos sichtbar macht, während der Blick der Überwacher unsichtbar bleibt. Daraus ergibt sich eine Machtwirkung: Die Gefangenen verinnerlichen die Kontrolle, Selbstdisziplin wird produziert. Das Gefängnis ist so der Kristallisationspunkt einer Disziplinargesellschaft, die Körper formt und Seelen normiert. Foucaults Analyse bleibt dabei auf einer strukturell-systemischen Ebene: Es geht um Funktionsweisen, um Transformationen der Macht, um Disziplin als historische Form. Die konkrete Erfahrung der Wärter oder Gefangenen tritt zurück zugunsten einer Theorie des Machtgefüges. Bei Foucault ist das Schließen von Türen eine abstrakte Technik der Disziplin. Bei Poix wird das Geräusch zum Trauma: Pierre hört es in Träumen, Abraham erlebt es wie ein Herzschlag. Das Geräusch ist nicht Funktion, sondern Symptom.

Michel Foucault zeigt in Surveiller et punir (1975, dt.: Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses), dass das Gefängnis zum paradigmatischen Dispositiv der Moderne geworden ist, in dem sich Strafe verlagert vom öffentlichen Spektakel in eine allgegenwärtige Technik der Disziplin. Zentral ist das Panoptikum als Modell einer asymmetrischen Sichttechnik, die Macht nicht allein durch Gewalt ausübt, sondern durch die ständige Möglichkeit der Sichtbarkeit; die Folge ist die Internalisierung von Normen, die Produktion „disziplinierter“ Körper und die Konstitution von Subjekten, die sich selbst überwachen. Foucaults Analyse ist genealogisch und systemisch: Architektur, Verwaltung, Untersuchung, Beurteilung und Dokumentation sind miteinander verschränkte Machtmittel; das Gefängnis ist kein Zufall, sondern ein Knotenpunkt in einem breiteren Netz disziplinierender Institutionen (Schule, Krankenhaus, Fabrik). Macht erscheint funktional, produktiv — sie formt Verhalten, Wissen und Subjektivität.

Foucaults Panoptikum ist der Traum einer perfekten, unsichtbaren Überwachung: Der Gefangene weiß sich beobachtet, ohne den Beobachter zu sehen. Im PCI (Poste Central d’Information) bei Poix jedoch flimmern unzählige Bildschirme gleichzeitig. Laurent („Bébel“) kommentiert sarkastisch, dass niemand diese Bilderflut wirklich kontrollieren könne. Die „allsehenden Augen“ des Systems führen hier nicht zu Macht, sondern zu Reizüberflutung. Die Wachsamkeit, die bei Foucault souverän wirkt, kippt in Parodie und Erschöpfung: die Wärter lachen über Abkürzungen, spielen mit den Kürzeln, weil die Überwachung ihre Funktion längst verloren hat.

Guillaume Poix schreibt freilich nicht in den 1970ern, sondern fünfzig Jahre später – in einer Zeit, in der die Realität des Gefängnisses nicht mehr nur als panoptische Maschine erlebt wird, sondern als erschöpftes, überfordertes System. Der Roman zeichnet ein System, das „am Rande des Abgrunds“ steht. Überbelegung, Bürokratie und Personalmangel führen zu einem System, das weder wirksam resozialisiert noch Kriminalität verhindert. Die Allgegenwart von Akronymen wie PCI, API, Genesis, Antigone, Romeo und Aurus wird als „chronische Krankheit“ beschrieben, die die Realität „versklavt, indem sie sie schrumpft“ und ein Labyrinth aus unpersönlicher Kommunikation schafft. Die Teilprivatisierung des Strafvollzugs, die zur Auslagerung von Diensten an Unternehmen wie Sodexo führte, wird als Kostenspiel dargestellt, bei dem das Personal und die Insassen den Preis zahlen.

Poix‘ Roman bringt mehrere Differenzen ins Spiel: Perpétuité bestätigt Foucaults Befund auf der operativen Ebene — Türen, Schließmechanismen, Kamerabilder, Protokolle, Siglen; Szenen wie das monotone „Klack“ der Türen oder die Bildschirme im PCI erinnern unmittelbar an die Foucaultsche Technik des Sehens und Registrierens. Gleichzeitig verändert Poix die Perspektive radikal: Er rückt die Wärter in den Mittelpunkt und zeigt, dass die „disziplinierenden“ Subjekte selbst zu Opfern eines aus den Fugen geratenen Apparats werden. Wo Foucault das effiziente Netz des Dispositivs betont (Disziplin formt verlässliche, normierbare Körper), zeigt Perpétuité ein System, das nicht mehr souverän operiert, sondern überlastet, reparaturbedürftig, dysfunktional ist — Kameras spucken Bilderfluten ohne kohärente Deutung, Akten und Siglen erscheinen als abgenutzte Routinen, und das Personal erleidet psychosomatische und seelische Zerreißproben (Pierres Ekzeme, Houda/Maëvas Trauma, Abrahams Dauererinnerung). Die Überwachung funktioniert nicht mehr als unsichtbare Machttechnik, die Selbstregulierung hervorruft; sie wird zur Last, erzeugt Desorientierung und Ohnmacht.

Während Foucault die Insassen als paradigmatische Subjekte der Disziplin betrachtet, fokussiert, verschiebt Poix den Blick von der „disziplinierten“ Bevölkerung auf die „disziplinierenden“ Subjekte – und zeigt, dass auch sie in der Institution gefangen sind. Hier liegt die erste große Differenz: Perpétuité entwirft ein Bild, in dem die Wächter selbst Objekte der Macht werden. Foucaults Panoptikum beschreibt eine Allmacht der Überwachung. Bei Poix sind Kameras, Schlüssel, Siglen, Protokolle zwar allgegenwärtig, aber nicht allmächtig. Die Technik ist marode, die Bürokratie überfordert, die Sprache erschöpft. Überwachung ist keine souveräne Machttechnik, sondern eine Überlastung, die das Personal psychisch zerreibt. Foucaults Gefängnis folgt einer strengen Logik: klare Abläufe, minutiöse Kontrolle, rationelle Bestrafung. Poix hingegen schildert den Brand in einer Zelle: statt disziplinierter Abläufe herrscht panisches Improvisieren. Löschmaßnahmen wirken halbherzig, Evakuierungen geraten chaotisch, jeder versucht, „irgendwie“ zu handeln. Das Gefängnis erscheint nicht als Maschine, sondern als brüchiger Apparat, der nur dank ständigen Notlösungen weiterläuft. Die Disziplin hat sich in Improvisation verwandelt – eine entgegengesetzte Logik.

Bei Foucault ist das Gefängnis Symbol für die Rationalisierung der Strafe: Disziplin statt Spektakel. Bei Poix zeigt sich eher das Gegenteil: keine reibungslos funktionierende Disziplinarmaschine, sondern ein chaotisches, von Notlösungen zusammengehaltenes System. Routinen brechen, Überfüllung zerstört jede Planung, Gewalt eruptiert unkontrolliert. Disziplin ist nicht das beherrschende Prinzip, sondern ein unerreichbares Ideal. Foucault denkt das Gefängnis als Teil einer linearen Entwicklung: vom Körperstrafrecht über Disziplin zur Normalisierung. Poix’ Roman arbeitet dagegen mit Zirkularität: Die Nacht wiederholt sich, die Routine perpetuiert sich. „Perpétuité“ bedeutet Stillstand, Dauer, endlose Wiederkehr. Die Zeit im Gefängnis ist nicht Fortschritt (wie in Foucaults Genealogie), sondern Erstarrung. Foucaults zentrale These lautet: Gefängnisse produzieren Subjekte, die sich selbst disziplinieren. Poix zeigt etwas anderes: Subjekte zerbrechen. Abraham verliert sich im Trauma, Bachir erkennt sich nicht im Video, Houda und Maëva werden traumatisiert, Bianca erlebt Selbstentfremdung. Hier wird nicht das Subjekt gestärkt, sondern zersetzt.

Mehrere spezifische Differenzen zwischen Foucault und Poix lassen sich benennen. Zunächst die Asymmetrie des Blicks — Foucaults Panoptikum setzt einen unsichtbaren Überwacher voraus; bei Poix dagegen ist das Bildnetz überdeterminiert und oft nutzlos: Überwachung erzeugt Bilder, aber nicht unbedingt Handlungsfähigkeit; Überwachung kollabiert in Informationsüberflutung und Technikversagen. Dann die Zeitlogik — Foucault beschreibt eine historische Entwicklung (vom Körperstrafe-Spektakel zur Disziplinargesellschaft); Poix schildert Stagnation und Wiederholung: die Nacht wird zur Schleife, „perpétuité“ bedeutet Dauer und Erstarrung statt progressiver Normalisierung. Drittens die Subjektbildung — Foucaults disziplinierte Subjekte sind technisch erzeugte, normkonforme Körper; Poix zeichnet stattdessen Subjekterosion: Bachir, der seine eigene Gewalttat auf dem Video nicht mehr als sein Selbst erkennt und zusammenbricht („Pourquoi je suis comme ça?“), ist ein Beispiel dafür, wie das System nicht normiert, sondern zersetzt. Außerdem die Form der Gewalt — bei Foucault ist Gewalt oft subtil, strukturell eingebettet; bei Poix tritt Gewalt eruptiv, chaotisch und persönlich auf (Brand, Suizidspuren, direkte Demütigungen). Foucault sieht Disziplin als produktive Macht; Poix zeigt ein Machtgefüge, das sich selbst auffrisst.

Wichtig ist auch die Rückkehr von Elementen, die Foucault als überwunden beschrieben hat. Foucault betont den Übergang vom öffentlichen Spektakel zur bürokratischen Unsichtbarkeit; Poix lässt zwar die bürokratische Sprache dominieren, aber zugleich treten Formen von Inszenierung und medialer Selbstdarstellung wieder in den Vordergrund (der medienpräsente Gefangene Duquesne, der nur noch als „das Monster“ in den Medien genannt wurde und der perfide Biancas Privatheit zu bedrohen scheint). Das heißt: Die untersuchte Moderne ist hybrid — administrative Überlastung und mediale Sichtbarkeit koexistieren, und beides untergräbt die klare, funktionale Logik, die Foucault analy­siert hat. Schließlich die Frage der möglichen Gegenmacht: Foucault sieht in seinen Arbeiten auch Räume für contre-conduites, subtile Praktiken des Widerstands gegen Disziplin. Bei Poix dominieren eher kleine, brüchige Gesten (Biancas Abbruch: „C’était notre dernier entretien“), nicht jedoch eine organisierte Gegenstrategie. Die individuelle Selbstbehauptung bleibt isoliert und wirkt im Kontext eines lähmenden Systems oftmals nur symbolisch. Poix liefert damit eine düstere Ergänzung zur Foucault’schen Analyse: das Gefängnis als Dispositiv bleibt, aber seine Form wandelt sich — von einer mächtigen Technik der Normalisierung zu einem überreizten, kollabierenden Apparat, dessen zentrale Wirkung nicht (mehr) die Herstellung disziplinierter Subjekte ist, sondern die administrative und psychische Erschöpfung aller Beteiligten. Foucault liefert zwar das Theorie-Instrumentarium, um die Mechaniken von Sichtbarkeit, Dokumentation und Normierung zu erkennen; Poix benutzt dieses Instrumentarium gleichwohl, um deren Erschöpfung, die Verheerungen auf menschlicher Ebene und die Umkehrung der Machtverhältnisse zu zeigen — aus souveräner Disziplin wird eine perpetuierte Misere. Foucault schreibt eine historische Genealogie: vom Spektakel der Körperstrafe zum disziplinarischen Gefängnis. Poix zeigt Zeit als Stillstand. In der Figur Abraham, der Nachtwache hält, verschmilzt Gegenwart mit dem Trauma des Hilferufs seiner Tochter („Au secours, papa!“). Vergangenheit kehrt immer wieder, die Nacht zieht sich endlos. Hier ist „perpétuité“ nicht nur juristische Strafe, sondern existenzielle Erfahrung: Dauer ohne Veränderung.

Foucault sieht im Gefängnis eine paradigmatische Institution der Moderne, deren Rationalität die Gesellschaft insgesamt prägt. Poix zeigt eine andere Epoche: die Spätmoderne, in der diese Rationalität kollabiert. Die Gefängnisse sind überfüllt, die Justiz reflexhaft, die Verwaltung erschöpft. Das Gefängnis ist nicht mehr Modell einer disziplinierten Gesellschaft, sondern Symbol für deren Zerfall. Bei Foucault ist der Häftling das Modellsubjekt der Disziplin. In Poix’ Roman dagegen stehen die Wärter im Zentrum. In der Szene nach dem Einsatz im Duschtrakt werden Houda und Maëva so stark von Ekel und psychischem Druck erfasst, dass sie kaum sprechen können. Sie sind nicht Träger von Macht, sondern selbst beschädigt: ihre Körper zittern, ihre Sprache stockt. Damit kehrt Poix Foucaults Blick um: Die Bediensteten sind nicht die souveränen Beobachter, sondern Teil desselben Gefängnissystems, das zersetzt. Für Foucault ist das Gefängnis die Matrix moderner Macht, von Disziplin und Panoptismus. Bei Poix ist das Gefängnis die Matrix einer erschöpften Gesellschaft, die weder disziplinieren noch resozialisieren kann, sondern Leid verwaltet und perpetuiert. Perpétuité ist insofern ein Anti-Foucault’scher Gefängnisroman. Foucault sieht Disziplinarmacht als subtile Gewalt, eingebettet in Regeln. Poix zeigt Gewalt als plötzlichen, traumatisierenden Ausbruch: Houda und Maëva im Duschtrakt erleben körperliche Nähe, Ekel, Übergriff. Die Erfahrung hinterlässt keine „korrekten“ Subjekte, sondern traumatisierte Körper. Gewalt ist nicht rationalisiert, sondern eruptiv. Wo Foucault den Blick als Machttechnik beschreibt, zeigt Poix den Blick als Last. Wo Foucault die Subjektivierung beschreibt, zeigt Poix die Subjekterosion. Gerade diese Differenz macht den Roman heute bedeutsam: Er zeigt, dass wir nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft leben, sondern in einer Gesellschaft des Überdrusses und der Überlastung – und dass das Gefängnis nicht mehr Modell, sondern Symptom ist.


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