Tod der Sonne: Nathan Devers

Que vaut notre morale si le monde est mortel ?

Was ist unsere Moral wert, wenn die Welt sterblich ist?

Devers setzt den „Tod der Sonne“ an den Anfang, nicht als Randnotiz, sondern als gewissen Endpunkt aller Erzählung. Die kosmische Apokalypse — die Sonne, die sich ausdehnt, die Planeten verschlingt, die Erde unbewohnbar macht — steht nicht für ein hypothetisches Szenario, sondern für die unverrückbare Grenze, an der jede menschliche Hoffnung zerbricht. Das aphoristisch kurze Zitat legt den Nerv des Romans frei. Moral, traditionell gedacht als Orientierung in einer stabilen Welt, verliert ihre Selbstverständlichkeit, wenn alles unweigerlich ins Nichts stürzt. Wozu noch Prinzipien, wenn der kosmische Abgrund ohnehin alles verschlingen wird? Die moralische Geste erscheint so selbst als Eitelkeit, ein Versuch, Dauer zu erzeugen, wo Dauer nicht möglich ist. Hier verschmelzen Apokalypse und Erschöpfung: Moral wird nicht durch Sünde zerstört, sondern letztendlich durch kosmische Faktizität unterminiert. Das Auslöschen des Sterns ist eine Gewissheit, die jenseits aller politischen, technischen oder moralischen Bemühungen liegt. Dadurch wird jedes „Rettungsnarrativ“ relativiert: selbst wenn die Menschheit alle ihre Probleme löst, bleibt das Universum ihr tödlicher Rahmen.

Der Roman Surchauffe (Albin Michel, 2025, „Überhitzung“, Prix du Jury 2025 – La forêt des livres ; auf den Auswahllisten des Prix Jean Giono, des Prix de Flore und des Prix des Deux Magots) von Nathan Devers positioniert sich als fragmentierte, selbstreflexive Erzählung der existentiellen Krise der modernen Gesellschaft, zentriert um die Protagonistin Jade Elmire-Fasquin. Als hochrangige Führungskraft beim Luxushotelkonzern Arcadie lebt Jade in einem Zustand des chronischen Burnouts. Jades Leben ist ein „Chaos de liens“ (Chaos von Verbindungen) und geprägt von sinnlosem Stress, den manipulativen Machenschaften ihres korrupten Chefs Moranges und der toxischen Ehe mit dem ehrgeizigen, narzisstischen Medienstar Thomas Fasquin. Thomas, dessen Kommunikationsformen sich auf passiv-aggressive Textnachrichten und oberflächliche, widersprüchliche mediale Rhetorik (das ständige „certes, mais…“) beschränken, dient als Spiegel für Jades eigene Selbsttäuschung und Entfremdung. Die Kapitalismuskritik des Romans manifestiert sich in der Darstellung der globalen Geschäftswelt als „kolossale Maschine“ und „Spirale géante“, die ihre Arbeiter systematisch ausbrennt und sich durch ungezügelte Expansion („Arcadie“, die in die Jahre gekommene amerikanische Weltordnung) metastasiert. Jades Gedanken an Flucht und an ein absolutes Anderswo („ailleurs absolu“) materialisieren sich im Indien-Projekt des Oligarchen Rohan Baylan, der die neue multipolare Weltordnung verkörpert, die nationalistische Rhetorik mit dem zynischen Gebrauch spiritueller Konzepte (wie der hinduistischen Göttin Prithvi Mata) zur Rechtfertigung eines neuen, rücksichtslosen Imperialismus verbindet.

Devers’ Surchauffe beginnt im Zeichen der kosmischen Apokalypse: das Verlöschen der Sonne wird zur Metapher für ein planetarisches und existentielles Überhitztsein. Der Roman zeigt, wie die Welt – ökologisch, politisch, sozial – in einen Prozess der Selbstverbrennung gerät. Apokalypse ist hier nicht nur Zukunft, sondern Gegenwart: das Leben selbst ist ein permanenter Brandzustand.

Un beau jour, le Soleil s’éteindra. Toutes les étoiles sont vouées à mourir et je ne vois pas pourquoi la nôtre dérogerait à la règle. […] Embrassant son système dans un baiser de feu, elle avalera Mercure, Vénus, peut-être même la Terre. Notre planète, en tout cas, sera inhabitable depuis longtemps lorsque le Soleil rendra son dernier souffle pour rejoindre la nébuleuse d’où il était sorti, naine blanche, pur chaos de matière.

Eines schönen Tages wird die Sonne erlöschen. Alle Sterne sind zum Sterben verurteilt, und ich sehe keinen Grund, warum unsere Sonne eine Ausnahme bilden sollte. […] In einem feurigen Kuss wird sie ihr System verschlingen, Merkur, Venus, vielleicht sogar die Erde. Unser Planet wird jedenfalls schon lange unbewohnbar sein, wenn die Sonne ihren letzten Atemzug tut, um sich dem Nebel anzuschließen, aus dem sie hervorgegangen ist, ein weißer Zwerg, reines Chaos aus Materie.

Die Metaphorik des Romans verschaltet intime, soziale und kosmische Ebenen zu einem einzigen Bildfeld, Überhitzung als universale Bedingung: die Sonne, die sich aufbläht, das Klima, das brennt, die Körper, die ausbrennen. Wärme, die traditionell mit Leben und Energie assoziiert wird, kippt hier ins Destruktive. Sie steht für eine Welt, die ihre eigenen Ressourcen verheizt – ökologisch, psychisch, kulturell. Die Metaphorik der Hitze ist damit Bild einer Eskalationslogik, die nicht mehr abkühlen kann. Jede Metapher – Feuer, Spirale, Insel, Massaker – verweist auf denselben Kern: Die Welt läuft heiß, bis sie sich selbst verzehrt. Die „Spirale“ ist Bewegung und Struktur zugleich. Sie bezeichnet Jades Lebensrhythmus, der sich beschleunigt und verschlingt, und zugleich die Dynamik der Geschichte: ein Kreislauf, der nicht zur Öffnung führt, sondern ins Zentrum zurücksinkt. Als Metapher schreibt sie die Erfahrung von Erschöpfung und Endlosschleife: die Moderne als Selbstverdrehung, die nicht entkommt.

Die Insel fungiert als Metapher des letzten Außen, des Unberührten, des radikal Anderen. Doch auch sie wird in die Logik der Überhitzung gezogen: die Sentinelles sind weniger ein Volk als eine Projektionsfläche. Ihr Massaker zeigt, dass selbst die letzte Fremdheit nicht gegen die Spirale immun ist. Die Metapher der Insel kehrt so ins Gegenteil: vom Paradies zum Spiegel des globalen Brandes.

Kosmische Bilder – der sterbende Stern, die universelle Implosion – rahmen die Handlung. Sie wirken als Bilder für das, was im Kleinen geschieht: die Zerstörung von Beziehungen, von Moral, von Differenz. Apokalypse ist nicht fern, sondern bereits in die Gegenwart eingeschrieben. Das Massaker selbst wird so zur Metapher der totalen Übertragung: dass alles, was der Mensch berührt, in Zerstörung verwandelt wird.

Die „Spirale“ ist zugleich eine Struktur der Erzählung: Beschleunigung, Absturz, Wiederholung. Sie erfasst nicht nur den westlichen Alltag, sondern auch den Kontakt mit dem Anderen – den Sentinelles. Was als Begegnung mit dem Unberührten erscheint, kippt ins Massaker. Kulturkontakt wird so als tödliche Überhitzung entlarvt: die Moderne kann das Fremde nicht aufnehmen, nur verbrennen. Das Buch verwebt kosmische Endzeitbilder, persönliche Erschöpfung, ökonomische Machtgier und koloniale Gewalt in einer Poetik der Überhitzung. Es ist keine lineare Erzählung von Aufstieg und Fall, sondern eine Spirale, die in sich selbst zurückstürzt. Devers’ Poetik ist die Verdichtung der Überlastung: Welt, Körper und Kultur laufen heiß, bis nichts mehr bleibt als ein Spiegel der eigenen Implosion.

Jade, zwischen Burn-out, Machtspielen und toxischen Beziehungen, verkörpert den Kollaps der moralischen Orientierung. Moral erscheint fragil, verschlissen im Dauerstress der Leistungsgesellschaft. Erschöpfung ersetzt Ethik: an die Stelle des kategorischen Imperativs tritt das Gefühl, nicht mehr zu können. Damit wird das Private zur Symptomzone des globalen Verschleißes.

Nathan Devers, Surchauffe, Librairie Mollat.

Die Figuren in Surchauffe sind nicht bloß psychologisch motiviert, sondern tragen die symbolische Architektur des Romans. Jade ist das Zentrum: sie verkörpert das erschöpfte Subjekt der Gegenwart, zugleich Täterin und Opfer der „Spirale“. Ihr Burn-out, ihr moralisches Schwanken und ihre Teilnahme am Massaker spiegeln die Bewegung vom individuellen Verschleiß zur universalen Katastrophe. Um sie herum stehen Figuren, die einzelne Pole dieser Spiralstruktur markieren: Moranges als Inbegriff der korrumpierten Macht, die jede Krise in Opportunität verwandelt; Thomas als Bild des medialen Narzissmus, der Intimität in Spektakel verwandelt; Baylan als Globalisierer, der den Kulturkontakt zum Geschäftsmodell macht. Jeder von ihnen fungiert weniger als Charakter im klassischen Sinn, sondern als Chiffre eines gesellschaftlichen Triebs – Macht, Ego, Expansion, Beschleunigung.

Die Sentinelles wiederum markieren den letzten Außenpunkt: sie sind das absolute Andere, die Negation der Spirale. Doch gerade ihre Vernichtung zeigt, dass es kein „Außen“ mehr gibt – dass auch das Unberührte vom Bann der Überhitzung erfasst wird. Die Konstellation schließt sich also symbolisch: alles, was Jade begegnet, wird hineingezogen in die Spirale, bis nur noch das Massaker als Endpunkt bleibt. So trägt die Figurenkonstellation die symbolische Handlungsstruktur: vom erschöpften Individuum über die Verkörperungen von Macht, Profit und Selbstinszenierung bis hin zum radikal Anderen, das nicht standhält. Zusammen bilden sie die dramatis personae einer Spirale, deren Bewegung von der persönlichen Erschöpfung bis zur kosmischen Implosion reicht.

Nathan Devers’ Surchauffe entwickelt seine Poetik entlang einer Spiralbewegung, die vom Individuum bis zur Menschheit reicht. Teil I, La Spirale, eröffnet mit der Erschöpfung des Körpers und der Psyche: Jade ist gefangen in der Logik der Arbeit, der Beschleunigung, der Überforderung. Hier verdichtet sich das Gefühl einer Gesellschaft, die ihre Subjekte als Ressource verheizt. Der Burn-out ist nicht bloß Symptom, sondern Signatur der Epoche – eine erste Überhitzung, die das Private bereits zum Vorhof der Apokalypse macht. Die Verlockung durch ihren korrupten Chef Moranges, das luxuriöse, aber fragwürdige Indien-Dossier anzunehmen, dient als entscheidender Fluchtpunkt, der die Protagonistin in die geographische Nähe der geheimnisvollen Sentinelle-Insel bringt und damit die eigentliche Handlung in Gang setzt. Teil II, Le syndrome de la Sentinelle, verschiebt die Perspektive und konfrontiert die westliche Spirale mit einem radikalen Außen. Die Begegnung mit einem archaischen, unberührten Volk scheint zunächst wie eine Rückkehrmöglichkeit zu Ursprünglichkeit. Jades tiefe Recherchen zum Genozidrisiko des Bauprojekts und ihre Obsession mit der Sentinelle-Insel, insbesondere dem Schicksal des Missionars John Chau, was ihre moralischen Konflikte und ihre Suche nach einem tieferen Sinn unterstreicht. Die Erkenntnis, dass die Sentinellen fälschlicherweise als aggressive Wilde dargestellt werden und die Insel ein Spiegel unserer eigenen Projektionen ist, motiviert Jade, die Insel aufzusuchen.

Teil III, L’Œil du monde, zeigt Jade nach ihrer Ankunft auf Rohan Baylans protziger Privatinsel Cosmopolis, die als Symbol der entfesselten Globalisierung dient; sie überzeugt den rebellischen Sohn Suraj, sie heimlich zur verbotenen Sentinelle-Insel zu fahren. Dort erlebt Jade, wie die Insulaner sie friedlich aufnehmen und sie durch ein Ritual als „Sentinelle“ taufen, was ihre existenzielle Suche abschließt und ihren inneren Burn-out heilt, aber sie unwissentlich der isolierten Bevölkerung aussetzt. Teil IV, La contamination, beschreibt die katastrophale Rückkehr Jades, die unwissentlich die gesamte Bevölkerung der Sentinelle-Insel mit Typhus kontaminiert und ausgelöscht hat, da sie kurz nach ihrer Expedition erkrankt. Diese unfreiwillige Massenvernichtung ermöglicht ihren Aufstieg zur CEO der Arcadie-Gruppe, da Rohan Baylan ihre Schuld als Druckmittel nutzt, um sie zu erpressen und ihre absolute Loyalität zu sichern, wodurch ihr Genozid paradoxerweise belohnt wird und sie zur „schlimmsten Kriminellen ihrer Generation“ wird.

Die Erschöpfung des Individuums und die Vernichtung des Fremden erscheinen nun als Symptome einer universellen Beschleunigung: die Sonne selbst wird zur Metapher der Überhitzung. Das Anthropozän ist hier nicht nur eine geologische Epoche, sondern eine Poetik der Apokalypse – die Menschheit als Brandherd im Universum, unfähig, ihr eigenes Tempo zu ertragen. In dieser Überblendung von Alltag und Kosmos verdichtet sich die Diagnose: Überhitzung ist die Grundform des Daseins. Moral, Kultur, Geschichte – all das, was den Menschen als höheres Wesen ausgezeichnet haben soll – wird eingeebnet in einem finalen Exzess, in einer Implosion der Spirale. Die Katastrophe ist nicht mehr Zukunft, sondern bereits eingeschrieben in den Vollzug von Arbeit, Kontakt, Expansion. Der Mensch scheitert nicht an einem äußeren Schicksal, sondern an der Überhitzung, die er selbst erzeugt. Devers’ Poetik ist die einer Spirale, die keine Öffnung kennt, sondern nur Verdichtung, Beschleunigung und Zusammenbruch – ein Spiegel der Gegenwart, die sich selbst zum Ende treibt.

Die Gattungsfrage des Romans reflektiert die Suche der Protagonistin, da die gesamte Erzählung als Jades privates Manuskript, ein fragmentiertes Tagebuch („mots en pointillé“), fungiert, das den gescheiterten Erstversuch La Spirale korrigieren soll. Die Zeit-Struktur ist entsprechend subjektiviert und nicht linear, gekennzeichnet durch „ellipses“ und „fragments décousus“. Jade sucht durch das Schreiben eines „wahren Romans“ nach einem “ destin“. Die Ökofiktion wird explizit durch die Figur der Alice Nissa beleuchtet, deren philosophische Arbeit über den „Tod der Sonne“ (la mort du Soleil) die moralische Gültigkeit menschlichen Handelns angesichts der sicheren Apokalypse infrage stellt. Die Frage des Engagements wird doppelt ironisiert: Alices akademischer Moralismus und Thomas‘ Medien-Aktivismus werden als narzisstische, selbstberuhigende und substanzlose Gesten entlarvt, die keine reale Konsequenz haben. Jades eigene Motivation ist zunächst ebenfalls zynisch und egoistisch – sie will die Insel „entdecken“, um der „Barbarei des Exotismus“ nachzugehen und ihren Roman zu materialisieren. Das Volk der Sentinelles selbst stellt sich als „gigantesque leurre“ (gigantische Täuschung) heraus; sie sind überraschend „normal“ und spiegeln die universellen menschlichen Ticks und Schwächen (Neid, Politik, familiäre Spannungen) ihrer Besucher wider. Der tragische Wendepunkt und das zentrale Motiv des Kulturkontakts als Kontamination erfolgt, als Jade die Insel aufsucht und von den Sentinelles friedlich empfangen wird. Paradoxerweise führen die friedvollen körperlichen Kontakte (wie das Teilen von Essen und die rituelle Bemalung ihres Gesichts mit Tonerde), während sie sich selbst in einem frühen Stadium des Typhus befindet, zur Katastrophe. Unwissend löst Jade durch Ansteckung den am perfektesten durchgeführten, schnellsten Völkermord („massacre le plus expéditif, le plus facile et le plus efficace qui ait jamais eu lieu“) aus.

Dieser Akt ist die ultimative Ironie: Jades Wunsch, die Spirale zu durchbrechen und sich als Sentinelle taufen zu lassen, endet im Völkermord, und Jade wird zur schlimmsten Kriminellen ihrer Generation („pire criminelle de ma génération“). Baylan, der „Joker“ in der Figurenkonstellation, nutzt Jades Schuld als perfekten Hebel. Anstatt Jade der indischen Justiz auszuliefern, belohnt er sie. Das Romanende ist die zynische Quintessenz der Kapitalismuskritik: „Le crime paie“ (Das Verbrechen zahlt sich aus). Jade wird zum neuen PDG von Arcadie. Sie hat ihren literarischen Anspruch und ihre Moral aufgegeben und kehrt triumphal zur Spirale zurück, indem sie Baylan als „porte-flingue“ (Vollstreckerin) dient. Baylan sichert sich die Insel Sentinel, um dort das „Sentinel Palace“ zu errichten. Der Epilog bestätigt die totale Kontamination: Die Insel wird entmystifiziert, die Korallenriffe werden aufgerissen, die Wildnis wird abgeholzt und das Land in eine Baustelle verwandelt, um die „nouvelle Babylone“ zu errichten. Die Insel dient nun als „tombeau“ (Grabmal) des ausgelöschten Volkes. Jade erreicht eine „supérieure lucidité“ , die auf ihrer Verbrechenserfahrung beruht: Sie erkennt, dass Moral („le Mal“) nur eine flüchtige „saison“ ist, die schnell von der „Indifferenz“ und der unaufhaltsamen Maschinerie des Kapitalismus überwunden wird. Jade akzeptiert ihr neues, „hässliches“ Ich, das zwar „âme laide“ und „cœur desséché“ ist, aber durch die Kontamination zur mächtigen und loyalen Vollstreckerin eben des Systems wurde, das sie einst verabscheute.

Der Schluss von Surchauffe ist dicht, provokant und absichtlich mehrdeutig; er verdichtet die großen Motive des Romans (Spirale, Überhitzung, Macht, Kulturkontakt, Schuld) zu einem bitteren Kommentar auf unsere Gegenwart. Formal ist das Ende so konstruiert, dass die Frage der Verantwortlichkeit nicht eindeutig beantwortet wird — und gerade diese Unentschiedenheit ist expressiv: einerseits offeriert der Text kausale, fast technokratische Erklärungen, die das Ereignis in den Bereich des „Unglücks“ rücken; andererseits nimmt die Erzählerin wiederholt eine Sprache der Selbstanklage an und schreibt sich aktiv den Vorwurf zu. Diese Doppelspur — Unfall/Narrativ der Absicht — arbeitet die moralische Erschöpfung des Ich-Erzählers aus: Schuld wird erlebt, aber gleichzeitig relativiert (oder instrumentell verdrängt) durch Rationalisierungen, durch Ökonomie und durch die Verführung einer Karriereoption. Die Spannung zwischen „ich war schuld“ und „es war Zufall/Versehen“ ist das moralische Rückgrat des Schlussteils.

Das Ende macht die perverse Logik sichtbar, in der Gewalt zu Kapital werden kann: Baylan liest den Genozid als „Visibility“-Ereignis, das das Archipel auf die Weltkarte setzt; die Suggestion lautet: schlechte Presse ist keine schlechte Presse, man kann daraus ein Produkt machen — ein Hotelprojekt, ein Branding, einen „Sentinel Palace“. Pointierter formuliert: das Verbrechen bringt persönliche Belohnung (Beförderung, Geld), die Institutionen arrangieren sich, die Wahrheit wird potenziell vertuscht, weil die ökonomischen Interessen stärker sind als Strafverfolgung oder Gerechtigkeit. Der Roman schließt hier als scharfe Anklage gegen die Fähigkeit der globalen Ökonomie, Gewalt in Profit zu verwandeln und damit moralische Konsequenzen zu neutralisieren.

Die Sentinelles fungieren im Text als Chiffre des „letzten Unberührten“ — ein koloniales Fantasma, das westliche Begehrlichkeiten anzieht. Der Schluss dekonstruiert dieses Fantasma auf zwei Ebenen: erstens wird gezeigt, wie die (pseudo-)ethnographische Neugier und der Schreibtrieb (Jades Wunsch, ein großes Buch zu schreiben) den Zugang selbst instrumentalisieren; zweitens entlarvt der Tod der Sentinelles die strukturelle Gewalt des Kontakts: das „Andere“ verschwindet nicht in einer Begegnung, es wird ausgelöscht, teilweise durch biologische Wege, teilweise durch gewalttätige Eingriffe. Der Roman macht das klassische Muster des „Entdeckers“ zum Täter — eine moderne Version kolonialer Vernichtung, transportiert in Kontexte von Tourismus, Global Investment und Medien. Devers inszeniert das Ende als hybride Medien- und Erzählmaschine: die Drohnenbilder dokumentieren, die Kamera ist Beweismittel und zugleich Instrument der Touristik-Ökonomie; Jades eigenes Schreiben (ihr Manuskript, ihr Geständnis) ist sowohl Motiv als auch Auslöser. Der Satz, dass dies „der erste Massaker sei, das durch den Wunsch zu schreiben provoziert wurde“, operiert gezielt provokativ: Schreiben ist hier nicht nur Dokumentation, sondern Bedingung und Verstärker von Gewalt; der Blick (wissenschaftlich, journalistisch, literarisch) verwundet, wo er eigenmächtig in Lebenswelten eindringt. Das macht das Ende meta-ethisch: die Form (Roman, Film, Viralvideo) wird Teil der Verantwortung.

Thematisch schließt der Roman seine Spiralbewegung, indem er aus dem Individuum (Jade) über den Kontakt (Sentinelles) zur Systemebene (Kapital, Medien, Staat) und schließlich zur totalen kulturellen Implosion gelangt. Formal bleibt keine Erlösung: statt eines finalen Urteils zeigt der Text Kaskaden von Verschiebungen (von Schuld über Vertuschung zu wirtschaftlicher Verwertung), so dass die Spirale sich zuschnürt, nicht öffnet. Die Schlusssätze, die schon in der Einleitung/kosmischen Rahmung (Sonne, Überhitzung) angelegt sind, verbinden das kleine Verbrechen mit einer größeren Metaphorik der Überhitzung: Lokale Gewalt ist Spiegel der globalen Selbstverbrennung. Der Schluss richtet die moralische Last nicht nur auf Jade, sondern auch auf uns: wie reagieren wir, wenn die Bilder kommen? Wie messen wir Empörung gegen ökonomische Verlockung? Devers weist es dem Leser zu, Komplizenschaft zu prüfen — nicht nur die ökonomische, sondern auch die ästhetische (neugieriges Schauen, voyeuristische Rezeption).

Mit Jades Rückkehr zur Spirale wird ihr literarisches Ideal – die Poesie und das Anderswo – als gescheitert verworfen. Die Sentinelles sind vergessen. Auf dem physisch zerstörten „Grabmal“ der Insel errichtet Baylan das „Sentinel Palace“, das „neue Babylone“. Jades „hässliche Seele“ („âme laide“) und ihr „ausgetrocknetes Herz“ („cœur desséché“) sind die Konsequenz der Kontamination, die sie zur mächtigen, amoralischen Vollstreckerin des triumphierenden Systems macht.

J’ai résumé en huit phrases une tragédie étalée sur des milliards d’années, mais il fallait bien l’accélérer un peu pour apprécier le miroir qu’elle nous tend. Contempler le Soleil comme on observe un malade dans son lit d’hôpital, un vieux chien efflanqué, une fleur dans un vase, le défilé des modes vestimentaires, des civilisations, des croyances, hélas des amours : en songeant que le néant nous guette et que la “vanité” est le seul mot qui puisse dire le monde sans aussitôt tricher.

Ich habe eine Tragödie, die sich über Milliarden von Jahren erstreckt, in acht Sätzen zusammengefasst, aber es war notwendig, sie ein wenig zu beschleunigen, um den Spiegel, den sie uns vorhält, würdigen zu können. Die Sonne betrachten, wie man einen Kranken in seinem Krankenhausbett betrachtet, einen alten, abgemagerten Hund, eine Blume in einer Vase, die Parade der Modetrends, der Zivilisationen, der Glaubensrichtungen, leider auch der Lieben: in dem Bewusstsein, dass das Nichts auf uns wartet und dass „Eitelkeit” das einzige Wort ist, das die Welt beschreiben kann, ohne sofort zu täuschen.

Diese rhetorische Bewegung ist bemerkenswert: Devers zwingt wie die unvorstellbare Dauer der kosmischen Prozesse in eine kurze Narration. Damit verbindet sich die Erfahrung menschlicher Zeitknappheit. Wir sehen Milliarden Jahre wie einen Film im Schnelldurchlauf. Diese Raffung wirkt selbst wie eine „Surchauffe“ der Zeit und macht spürbar, wie wenig Bestand das eigene Leben im Angesicht der kosmischen Dimension hat. Der Tod der Sonne ist das universale Vanitas-Symbol, das die barocke Schädel- und Sanduhr-Symbolik aktualisiert. Die große Katastrophe wird zur Folie, an der die Banalität und Zerbrechlichkeit des gegenwärtigen Lebens aufscheint. Devers zeigt, dass Apokalypse nicht fern in Milliarden Jahren liegt, sondern dass sie sich bereits in den kleinsten Zeichen von Zerfall und Alter einschreibt.


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