Die andere Seite, ohne Ressentiment: Paul Gasnier

Audiatur et altera pars.
(Römischer Rechtsgrundsatz)

Man höre auch die andere Seite.

Unfall in einem zerrissenen und kranken Land

Im Juni 2012 kam die Mutter des Erzählers in Lyon bei einem Verkehrsunfall ums Leben – das Buchcover zeigt die Reifenspuren. Der achtzehnjährige Wiederholungstäter Saïd, der mit einem Cross-Motorrad auf dem Hinterrad fuhr, verlor die Kontrolle und prallte gegen die 54-jährige Mutter des Erzählers, die mit dem Fahrrad unterwegs war. Die Kollision ereignet sich um 17:13 Uhr. Der Vater des Erzählers erhält abends die Nachricht von zwei Polizisten. Die Mutter wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, wo ihr Schädel-Hirn-Trauma als inoperabel eingestuft wird. Der Vater informiert die Geschwister, die aus dem Ausland (Schwester aus Kolumbien, Erzähler aus Bombay) zurückkehren. Nach einer Woche wird die Mutter für hirntot erklärt, und die Familie muss die Entscheidung zur Organspende treffen.

Paul Gasniers Roman La collision (Gallimard, 2025, Auswahllisten für den Prix Goncourt und den Prix Roman Fnac) unternimmt eine dichte literarische „Enquête“, die sich genreübergreifend zwischen Autofiktion, investigativem Journalismus und sozialem Essay bewegt. Der Ich-Erzähler, selbst Journalist, nimmt die persönliche Tragödie des Todes seiner Mutter – die 2012 von dem 18-jährigen Saïd bei einem Straßenrennen („Rodéo urbain“) getötet wurde – zum Anlass für eine akribische Suche nach Wahrheit und Verständnis. Der physische Unfall wird zur Metapher für die Kollision zweier fundamental unterschiedlicher Welten und Lebenseinstellungen: die intellektuelle, weltoffene und privilegierte Familie der Mutter mit ihren globalisierten Idealen, und Saïd, ein junger Mann aus einem marginalisierten Viertel, gefangen in einem Kreislauf aus Armut, Kriminalität und der Suche nach Identität. Ihre Konfrontation spiegelt die tiefen sozioökonomischen und kulturellen Spannungen wider, die das moderne Frankreich prägen. Denn der Erzähler stellt explizit fest, dass der Vorfall „weder ein Unfall noch ein Mord“ ist, sondern „eine französische Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts, in der zwei parallele Schicksale, dazu bestimmt, sich zu ignorieren, in einem zerrissenen und kranken Land kollidierten“. Paul Gasnier führt gemäß seines Gesprächs mit Libération seine literarische Untersuchung durch, um sich seine Geschichte wieder anzueignen („se réapproprier son histoire“), nachdem er es satt hatte, dass die extreme Rechte versuchte, ihm sein persönliches Narrativ zu „enteignen“ und es für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. 1

Die Kollision ereignet sich an einer topographischen wie sozialen Bruchlinie: unten die „Presqu’île“, mit ihren bürgerlichen Fassaden, Cafés, Kulturangeboten und einem neuen Yogazentrum – Sinnbild eines kosmopolitischen, selbstoptimierten Milieus, das in internationalen Arbeitsrhythmen lebt und Freizeit in „gesunde Lebensführung“ verwandelt. Ob Architektin oder Yoga-Lehrerin, dieses Milieu kultiviert eine Form von urbaner Leichtigkeit und symbolischem Kapital, getragen von Bildung, Eigentum und globaler Mobilität. Nur wenige Straßen höher aber beginnt das Terrain einer ganz anderen Welt: die „Pentes“ der Croix-Rousse, eng, steil, von Fast-Food-Lokalen, Billigsalons und Treffpunkten der Jugendlichen geprägt. Hier kreisen die Existenzen um Gelegenheitsjobs, illegale Geschäfte, Gruppenzugehörigkeit und das permanente Ringen um Status im Schatten der Marginalisierung. Die Motocross-Maschine, die durch die Rue Romarin rast, wird zum Symbol ihres Milieus: laut, riskant, ungebändigt, ein Vehikel der Sichtbarkeit in einer Gesellschaft, die diese jungen Männer sonst kaum wahrnimmt.

Genau an diesem Schnittpunkt der beiden Räume kollidieren die Körper: die Frau auf dem Fahrrad, Symbol einer ruhigen, regelkonformen, bürgerlichen Alltagsbewegung – und der Jugendliche im Rausch der Geschwindigkeit, getrieben von Testosteron, Gruppendruck und der Lust, den Asphalt zu beherrschen. Der Roman macht diese Opposition plastisch: die eine lebt von der Idee des Aufstiegs durch Bildung, Beruf und Selbstverwirklichung, der andere durchlebt die Abwärtsdynamik familiärer Brüche, Drogenmilieus und kleiner Delinquenz. Es ist, als stießen zwei Formen des Urbanen aufeinander – der gezähmte, ästhetisierte, marktfähige Lebensentwurf gegen das rohe, exzessive, unregulierte Stadtleben. Dass beide Welten im selben Viertel koexistieren, aber erst im Augenblick der Katastrophe wirklich aufeinandertreffen, verleiht der Szene ihre emblematische Kraft: sie macht sichtbar, wie tief die gesellschaftliche Spaltung im städtischen Raum eingeschrieben ist – und wie blind beide Seiten füreinander bleiben, bis das Schicksal sie brutal in Berührung bringt.

Oder wie der Nouvel Observateur sein Interview mit dem Autor titelt: „Wie kann man links bleiben, wenn ‚der Tod seiner Mutter genau das veranschaulicht, was die extreme Rechte anprangert‘?“ 2

Autofiktion, investigativer Journalismus, sozialer Essay

Longtemps, j’étais pris d’excès de rage, par exemple quand je voyais des dealers dans la rue. Mais ma mère n’était pas complètement morte. Elle était encore là, quelque part dans mon esprit, et je l’imaginais m’engueuler. Elle m’a transmis une éducation solide, une vision du monde et du collectif pour que je ne me laisse pas enfermer dans le ressentiment. Elle était très altruiste. Ce n’est pas un hasard si elle est devenue prof de yoga à la fin de sa vie.

C’est peut-être aussi un vestige de mon éducation catholique, qui invite à aller vers l’autre et à accorder le pardon y compris à la personne qui nous a le plus brisé. Mes parents sont des soixante-huitards, mais j’ai reçu un héritage judéo-chrétien très fort où la notion de pardon était très présente, comme dans le « tikkoun olam », un concept juif qui dit que la réfection du monde passe par soi, que chacun change le monde à sa mesure. Ce que d’autres appellent « catholicisme », ma mère appelait ça « yoga », et moi « écriture ». Au fond, c’est la même chose. (Paul Gasnier) 3

Lange Zeit war ich von Wutausbrüchen ergriffen, zum Beispiel, wenn ich Dealer auf der Straße sah. Aber meine Mutter war nicht ganz tot. Sie war immer noch da, irgendwo in meinem Geist, und ich stellte mir vor, wie sie mich ausschimpfte. Sie hat mir eine solide Erziehung, eine Vision der Welt und des Kollektivs vermittelt, damit ich mich nicht im Groll einschließe. Sie war sehr altruistisch. Es ist kein Zufall, dass sie am Ende ihres Lebens Yogalehrerin wurde.

Vielleicht ist es auch ein Überbleibsel meiner katholischen Erziehung, die dazu einlädt, auf den anderen zuzugehen und Vergebung zu gewähren, selbst der Person, die uns am meisten gebrochen hat. Meine Eltern sind 68er, aber ich habe ein sehr starkes jüdisch-christliches Erbe erhalten, in dem der Begriff der Vergebung sehr präsent war, wie im „Tikkun Olam“, einem jüdischen Konzept, das besagt, dass die Wiederherstellung der Welt durch einen selbst geschieht, dass jeder die Welt nach seinem Maß verändert. Was andere „Katholizismus“ nennen, nannte meine Mutter „Yoga“ und ich „Schreiben“. Im Grunde ist es dasselbe.

Ein sehr persönlicher Erzählstrang ergibt das Porträt einer unabhängigen, intellektuellen und weltoffenen Frau, die Architektin war und später eine Leidenschaft für Yoga entwickelte. Das Leben der Mutter des Erzählers ist geprägt von der Suche nach Selbstverwirklichung und der Abkehr von Konventionen, symbolisiert durch ihre Auslandsaufenthalte und die Gründung ihres Yoga-Zentrums. Ihr tragischer Tod, kurz nach dem Höhepunkt ihrer Selbstverwirklichung, steht in schmerzlichem Kontrast zu ihren sanften Idealen und verdeutlicht die „Kollision“ zweier Welten. Die quälende, langjährige Trauer des Erzählers, seine anfängliche Wut und tiefer Groll gegen Saïd sind der Ausgangspunkt der Recherche, dabei entwickelt sich der Erzähler von einem passiven Leidtragenden zu einem investigativen Journalisten, der die Umstände des Todes seiner Mutter und das Leben ihres Täters verstehen will. Das Schreiben wird zu seinem persönlichen Weg, mit dem Verlust umzugehen und die Komplexität der Ereignisse zu erfassen, statt sich populistischen Vereinfachungen hinzugeben.

Paul Gasnier, La collision, Radio France Inter.

La collision verbindet Elemente der Autofiktion, des investigativen Journalismus und des sozialen Essays miteinander. Die narrative Strategie der „enquête littéraire“ ermöglicht eine doppelte Perspektive: die subjektive Verarbeitung von Trauer und Wut und eine quasi-objektive, forensische Rekonstruktion der Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen Ursachen. Die Erzählung schreitet nicht linear voran, sondern „spult neurotisch zurück“ und „seziert“ den Unfall, indem sie Gerichtsdokumente, Zeugenaussagen und Interviews als primäre Quellen nutzt, um die „geringste Höhle“ des Unfalls zu erkunden. Das methodische „Zerstückeln“ („désosser“) und das „neurotische Zurückspulen“ („rembobinage névrotique“) des Vorfalls mittels Gerichtsakten, Zeugenaussagen und Interviews sind dabei nicht nur narrative Techniken, sondern epistemologische Strategie. Diese ermöglicht es ihm, über die individuelle Trauer und die „narkotische Wut“ hinaus eine komplexe Genealogie der Gewalt zu konstruieren und die „Brüche, die die Gesellschaft bearbeiteten“, aufzudecken. Der Schreibprozess selbst wird so zu einem therapeutischen Akt, um die „gewaltsame Macht ins Auge zu fassen“ und dem „Gefängnis des Ereignisses“ zu entkommen. Nathalie Crom formuliert in ihrer Rezension: „Dank präziser Detailarbeit und einem nüchternen, zurückhaltenden Schreibstil gelingt es La Collision, eine Untersuchung, ethische und politische Überlegungen und ein bewegendes Buch über Trauer unter einen Hut zu bringen.“ 4

Saïd

Das Leben des jungen Täters Saïd in Lyon führt vom Aufwachsen im Viertel Croix-Rousse bis zu seiner wiederholten Verwicklung in Kriminalität. Der Text liefert Einblicke in Saïds Kindheit und Jugend in einem Viertel, das von Canuts (Seidenarbeitern) und später von nordafrikanischen Einwanderern geprägt war. Saïd wuchs im Schatten seines charismatischen älteren Bruders Abdel auf, der in den Drogenhandel verwickelt war und ein Jahr vor dem Unfall von einem Freund ermordet wurde. Dieses Ereignis war ein Wendepunkt für das Viertel und für Saïds Familie. Es werden die Determinismen von Saïds Umfeld – die Präsenz von Drogenhandel, Gruppendruck, das Scheitern von sozialen Systemen und die Suche nach Anerkennung im Schatten seines ermordeten Bruders Abdel – aufgezeigt. Saïds Weg ist eine Abwärtsspirale, die trotz vieler Bemühungen von Sozialarbeitern und Richtern nicht aufgehalten werden konnte.

Gerade weil der Erzähler selbst zum überlegenen Milieu des Unfallopfers gehört, lässt er verschiedene Personen zu Wort kommen oder beschreibt sie detailliert, die aus dem kulturellen und sozialen Umfeld des Täters Saïd stammen. Der Erzähler legt großen Wert darauf, diese Perspektiven einzuholen, um ein nuanciertes Bild jenseits von Stereotypen zu zeichnen. Saïds Schwester Hafsia entschuldigt sich im Namen ihrer Familie für Saïds Taten und beschreibt seinen schwierigen psychischen Zustand nach dem Mord an ihrem Bruder Abdel und dem Unfall. Sie verteidigt Saïd als „Opfer seiner eigenen Geschichte“, räumt aber auch seine Instabilität und die negativen Einflüsse des Viertels ein. Hafsia verkörpert den Wunsch nach Vergebung und Heilung als persönlichen Rekonstruktionsweg. Sie betont die Bedeutung der Familie und versucht, ihre Kinder von der kriminellen Welt der Pentes fernzuhalten. Hafsia thematisiert offen die potenziellen rassistischen Vorurteile gegenüber ihrer Gemeinschaft und stellt klar, dass sie Klischees entgegenwirken will, indem sie die Bildung und den Erfolg ihrer Familie hervorhebt. Am Ende bittet sie den Erzähler, eine Gerichtsverhandlung ihres Bruders aus Respekt vor ihrer Privatsphäre zu verlassen.

Der Täter selbst ist vor allem mit den eigenen Aussagen in den gerichtlichen Protokollen und Vernehmungen festgehalten. Er leugnet anfangs wesentliche Details wie den Konsum von Cannabis, die Art des Motorrads und die „Wheelie“-Fahrt. Später drückt er vor Gericht sein Bedauern aus, entschuldigt sich bei der Familie des Opfers und behauptet, er habe die Kraft des Motorrads unterschätzt. Er versucht auch, seine wiederholten Verstöße gegen die gerichtlichen Auflagen damit zu erklären, dass er seine Freundin sehen wollte. Diese Aussagen sind zwar oft von Verteidigungsstrategien geprägt, geben aber dennoch einen Einblick in seine Denkweise und seine persönliche Situation.

Die beiden Freunde Hamza und Youssef, die Saïd als Komplizen nach dem Unfall halfen, das Motorrad zu verstecken, kommen ebenfalls vor Gericht zu Wort. Ihre Aussagen sind von Leugnungen und wenig überzeugenden Erklärungen geprägt. Hamza behauptet, er habe sich eine Kugel eingefangen („J’me suis pris une balle“) und dass er lediglich helfen wollte, das Motorrad aus dem Weg zu räumen. Youssef gibt an, er habe Saïd einen Gefallen tun wollen, indem er das Motorrad entfernte. Ihre Beobachtung, wie sie während einer Gerichtspause im Gerichtsgebäude einen Joint rauchen, unterstreicht ihre Nonchalance gegenüber dem System und die Prävalenz der Drogenkultur in ihrem Umfeld.

Auch wenn Saïds Eltern nicht direkt zu Wort kommen, wird ihre Geschichte als marokkanische Einwanderer der ersten Kohorte in den 1960er Jahren in Croix-Rousse beschrieben. Der Vater diente in der französischen Armee in Indochina. Der Erzähler betont, dass Saïds Eltern gesetzestreu waren und ihre Töchter ein stabiles Leben führen, um die Vorstellung einer kulturellen Prädisposition für Kriminalität zu widerlegen.

Mounir ist ein Sozialarbeiter, der die Jugendlichen der Pentes, darunter Saïd und seine Freunde, seit Langem kennt. Er gewährt tiefe Einblicke in die Dynamiken des Viertels, den Einfluss des Drogenhandels, den Gruppendruck und die Schwierigkeit, diesem Kreislauf zu entkommen. Er beschreibt die Kriminalität, die zu einer kulturellen Erscheinung geworden ist („gangrène devenue culturelle“), angetrieben von Geldgier, Rap-Videos und der Suche nach Anerkennung durch Imponiergehabe wie „Rodéos urbains“. Etwas, das einmal ein soziales oder kriminelles „Problem“ war, hat sich so tief in den Alltag und die Mentalität des Viertels eingeschrieben, dass es quasi zur Kulturform geworden ist. Mounir selbst ist tief in diesem sozialen Gefüge verwurzelt und bietet eine professionelle, aber auch persönlich geprägte Perspektive auf die Herausforderungen und das Scheitern sozialer Interventionen.

Insgesamt trägt die Einbeziehung dieser Stimmen und Hintergrundgeschichten wesentlich dazu bei, die „Kultur des Täters“ nicht als monolithisch oder vereinfacht darzustellen, sondern in ihrer Komplexität, ihren Widersprüchen und den sozioökonomischen Determinismen zu erfassen. Der Roman will damit der politischen Instrumentalisierung solcher „faits divers“ durch eine tiefere menschliche und soziale Analyse entgegenwirken.

Intertextualität

Paul Gasnier nutzt Zitate, Anspielungen und Referenzen, um seinen Text als eine vielschichtige „literarische Enquête“ zu verankern, die über die bloße Schilderung eines Ereignisses hinausgeht. Die Eingangszeilen mit Zitaten von Paul Valéry – „Die Toten haben nur noch die Lebenden als Ressource.“ („Les morts n’ont plus que les vivants pour ressource“) – und Virginie Despentes – „Diese Leidenschaft, die die Reichen für die Geschichte ihrer kleinen Familie haben“ („Cette passion qu’ont les riches pour l’histoire de leur petite famille“) – setzen den Ton: Der Roman ist eine Untersuchung des Nachlebens der Toten in den Lebenden und zugleich eine kritische Betrachtung von Klassendifferenzen. Ciorans Überlegungen zu Rache und Vergebung rahmen die emotionale Zerrissenheit des Erzählers. Die Nennung Gandhis als Vertreter einer radikalen Vergebung stellt einen ethischen Gegenpol zu den Rachefantasien des Erzählers dar. Die Erwähnung Raskolnikows dient der Abgrenzung: Saïd ist gerade nicht der komplexe, von moralischen Dilemmata geplagte Täter der Weltliteratur, was die Untersuchung seines „leeren“ Charakters umso drängender macht. Die nicht auffindbare Foucault-Zuschreibung („Le fait divers est une sécrétion du temps“) untermauert zudem die meta-literarische Reflexion über die Natur und Funktion von „faits divers“.

Ein zweiter intertextueller Block ist der sozio-politische und historische Kontext, der die private Tragödie in eine nationale Erzählung einbettet. Die Anspielungen auf den Präsidentschaftskandidaten von 2022 und dessen Rhetorik über „l’ensauvagement“, „laxisme judiciaire“ und das Schlagwort „racaille“ – sowie die Erwähnung von Sarkozys „bande de racailles“ 2005 – verorten den Unfall als Symptom tiefer gesellschaftlicher Spaltungen. Historische Exkurse zur Geschichte Lyons (Canuts, Cour des Voraces), zur Rolle maghrebinischer Soldaten im Indochinakrieg (Saïds Vater) und zum Widerstand (Urgroßvater des Erzählers) schaffen einen komplexen Hintergrund, der die sozioökonomischen Determinismen hinter Saïds Werdegang beleuchtet. Auch die Gentrifizierung von Croix-Rousse wird als historischer Prozess interpretiert, der die Kollision zweier Welten vorbereitet.

Des Weiteren fungiert der Roman als Medienkritik und Selbstreflexion über die Darstellung von Gewalt. Die detaillierte Beschreibung einer Radiosendung auf Europe 1 („On marche sur la tête“) zeigt exemplarisch, wie „faits divers“ in den Medien für populistische Agenden instrumentalisiert werden. Die Reflexion über den „proche de la victime“ als eigenständige Medienfigur und die Auseinandersetzung mit der „loi anti-rodéo“ unterstreichen die kritische Haltung des Erzählers gegenüber der vereinfachenden und sensationslüsternen Berichterstattung. Die Erwähnung des Rapsongs „Petit frère“ von IAM liefert einen kulturellen Bezugspunkt für Saïds Milieu und dessen Werte. Diese Intertextualität hebt die Fähigkeit des Romans hervor, die mediale Konstruktion von Realität zu dekonstruieren und eine eigene, komplexere Erzählung entgegenzusetzen.

Schließlich erstreckt sich die Intertextualität auf die spirituellen und persönlichen Referenzen, die zur Sinnsuche und Selbstheilung des Erzählers beitragen. Das unveröffentlichte Manuskript der Mutter über die Yoga-Sūtra des Patanjali, die Bhagavad-Gita und die Upanishaden wird zu einer posthumen philosophischen Anleitung. Ihre Gedanken über „Qualität der Präsenz“ und „lâcher-prise“ bieten dem Erzähler einen Weg, das obsessive Wiederkäuen des Vergangenen zu überwinden und inneren Frieden zu finden. Die Anspielung auf Joseph Loseys Film-Oper „Don Giovanni“ mit der mythischen Konfrontation des Komturs, der von den Toten zurückkehrt, um Gerechtigkeit zu fordern, illustriert die tief verwurzelten Rachefantasien des Erzählers und seine letztendliche Abkehr von solchen archaischen Vergeltungsvorstellungen.

Der Roman ist hochgradig meta-reflexiv und kommentiert seinen eigenen Schaffensprozess und die Grenzen der Erzählbarkeit. Der Erzähler reflektiert über die „Unmöglichkeit, das Leben eines Unbekannten wirklich zu durchdringen“, selbst nach minutiöser Recherche der forensischen Details in Gerichtsdokumenten. Die wiederholte Betonung der „Oberflächlichkeit“ seines Wissens über Saïd und die kritische Auseinandersetzung mit der Figur des „proche de la victime“ in den Medien unterstreichen diese Meta-Ebene. Durch Zitate von Paul Valéry, Virginie Despentes und Cioran sowie die implizite Bezugnahme auf literarische Archetypen wie Raskolnikov wird der Text in einen vielschichtigen literarischen und philosophischen Dialog gestellt. Die Poetik von La Collision ist somit eine, die ihre eigene Konstruktion offenlegt, die Grenzen der Wahrheitssuche thematisiert und im Akt des Schreibens selbst eine Haltung zur Welt findet – als „dritte Alternative“, um die „Spannung zu überwinden“ und eine Form des Friedens zu finden.

Doppelte politische Lesart und Justizroman

Der Unfall war ein Schock für die Familie, auch weil er die linken Werte seiner Eltern an der „Brutalität der Realität“ zerschellen ließ. Gasnier beschreibt laut Florence Pitard die beiden Protagonisten als „zwei wahre Karikaturen ihrer Milieus“. 5 Der Text impliziert eine doppelte Lesart: eine, die die Tragödie rechtspopulistisch instrumentalisiert und rassistische Ängste schürt, dagegen eine nuanciertere Perspektive, die die eigene Wut zähmt und die sich um Gerechtigkeit bemüht. Der Erzähler ist sich dieser Dichotomie durchweg bewusst und positioniert sein Werk explizit als Reaktion darauf:

Der Erzähler beginnt das Buch mit der Beschreibung einer Wahlkampfveranstaltung des Präsidentschaftskandidaten Zemmour im Januar 2022 in Cannes, dessen Rhetorik auf „dunkle Leidenschaften“ abzielt und Begriffe wie „Racaille“ (Gesindel) verwendet, um „die Enthemmung zu fördern“. Der Kandidat prangert „richterlichen Laxismus“ und die „Ensauvagement“ (Verwilderung) des Landes an. Der Erzähler, ein Journalist, wird von den Anhängern des Kandidaten als „gauchiste“, „bobo“, „parisien“ und „déconnecté“ beschimpft. Der Erzähler gibt zu, dass diese politische Wut eine persönliche Wut in ihm anspricht, die aus dem Tod seiner Mutter resultiert. Er hätte sich „eines dieser ‚Ça suffit‘ zu eigen machen können“, hätte er nicht gelernt, „ihre Hehler zu erkennen“. Er erkennt, dass der Tod seiner Mutter „perfekt das illustriert, was der rechtsextreme Diskurs anprangert“. Er stellt fest, dass „die extreme Rechte mit Talent diesen Wirrwarr und diese Wut, die ich zutiefst erlebt hatte, auf den Punkt gebracht hatte“.

Der „junge Mann auf dem Hinterrad“ ist zu einem kulturellen Archetyp geworden, den Regionalzeitungen und rechtsextreme Websites „lieben“. Solche „faits divers“ werden dazu benutzt, die Gesellschaft zu polarisieren und eine „Kultur des Ressentiments“ zu nähren. Ein anonymer Anrufer bei der Polizei äußert in Bezug auf Saïd und seine Freunde: „Das sind große Schweine, denn sie hätten anhalten und helfen können, man hat diese Scheiße satt“ und „die Opferfamilie hat vielleicht Kinder, und diese Schweine, man hat sie satt“. Dies spiegelt die moralische Empörung wider, die in ausländerfeindlichen Diskursen häufig vorkommt. Eine Radiosendung im Jahr 2024 über einen weiteren tödlichen „Rodéo urbain“ zeigt, wie solche Dramen sofort in populistische, polarisierende Narrative über „richterlichen Laxismus“ und die „Mehrheit der Schweigenden“ eingeordnet werden, die sich gegen diejenigen richtet, „die nicht mit Frankreich, sondern gegen Frankreich marschieren“. Der Erzähler bricht die Sendung ab, was seine Ablehnung dieser Art der Interpretation signalisiert.

Der Erzähler verwehrt sich dagegen, sich von der Wut leiten zu lassen oder sich an einfachen populistischen Erzählungen zu beteiligen. Sein Schreibprozess ist ein Versuch, „die Gewalt ins Auge zu nehmen“ und die „Kollektivität“ zu verstehen, die zu der Kollision geführt hat. Er will die Geschichte „so gerecht wie möglich darstellen“ und „Beziehungen neu vermenschlichen“, um Wut zu besänftigen und „der Falle der Forderungen der Zeit zu entgehen“. Das Buch befasst sich somit eingehend mit Saïds sozioökonomischem Hintergrund im Viertel Croix-Rousse, der Gentrifizierung, dem Drogenhandel, dem Gruppendruck und dem Scheitern sozialer Institutionen, die seine Laufbahn beeinflusst haben. Der Erzähler untersucht „die Brüche, die die Gesellschaft bearbeiteten“. Er betont, dass „eine Gesellschaft, die ihre eigenen Abweichungen produziert, uns eine Geschichte wie die von Saïd erzählt“. Der Erzähler kritisiert, wie die „Proliferation“ von „faits divers“ und „schlüsselfertigen Lösungen“ ihre mögliche Bedeutung zunichtemacht und zu „der Tyrannei der unmittelbaren Emotion“ führt. Er betont, dass „verstehen auch schon entschuldigen ist“, in einer öffentlichen Debatte, die „vom Zweifel als Kompromiss erstickt wird“.

Die gesamte Erzählung wird durch die Auseinandersetzung mit dem Justizsystem vorangetrieben. Der Erzähler beginnt seine Recherche, indem er „das juristische Ermittlungsdossier zerlegt“, um die genauen Umstände des Todes seiner Mutter zu verstehen. Polizeiprotokolle, Zeugenaussagen, medizinische Gutachten und Vernehmungen bilden die Grundlage seiner Untersuchung und zeigen die minutiöse, aber auch unpersönliche Arbeitsweise der „polizeilichen und gerichtlichen Maschinerie“. Der Roman schildert ausführlich den Strafprozess gegen Saïd und seine Freunde Hamza und Youssef. Er beschreibt die Atmosphäre im Gerichtssaal, die Rollen der beteiligten Personen (Richter, Staatsanwalt, Anwälte), die Plädoyers und die Urteile. Die Vernehmung Saïds und seine wiederholten Lügen sowie die fadenscheinigen Erklärungen von Hamza und Youssef verdeutlichen die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung und die Strategien der Verteidigung. Der Roman geht über die bloße Berichterstattung hinaus und reflektiert über die Natur von Schuld und Verantwortung. Die Frage, ob es sich um „homicide involontaire“ (unfreiwillige Tötung) handelt, wenn bewusst Bedingungen geschaffen werden, die zum Tod führen können, wird kritisch beleuchtet. Die Debatte um die Einführung des Begriffs „homicide routier“ zeigt die gesellschaftliche Suche nach einer angemesseneren rechtlichen Klassifizierung für solche Taten.

Der Roman beleuchtet die strukturellen Probleme des Justizsystems: die Überlastung der Gerichte und Polizeidienststellen, die Komplexität der Verfahren, die Möglichkeit von „vices de forme“ und die Schwierigkeit, Täter wie Saïd nachhaltig zu resozialisieren. Zugleich wehrt sich der Richter Moreau gegen einfache Lösungen und warnt davor, die Justiz als bloßen „Punching-Ball“ populistischer Forderungen zu missbrauchen. Er betont, dass die Justiz die Aufgabe hat, die „natürlichen Neigungen der Menschen“ (wie Rachegelüste) einzudämmen.

Richter Philippe Moreau, der Saïds Fall verhandelte, verkörpert die nuancierte Haltung, um die sich auch der Erzähler bemüht. Er lehnt eine einfache „Moral“ der Geschichte ab und sieht den Unfall als „kollektives Versagen“. Er glaubt nicht an den vollständigen freien Willen und interpretiert die Justiz als einen Mechanismus, der „die gewaltsame Macht des Gesetzes mildert“, um den Einzelnen nicht zu zerbrechen. Er ist sich bewusst, dass er „die Härte einer Regel verwalten muss, während er die Dosis mildert, um den Schaden zu begrenzen“. Sein Verständnis für Saïds Handlungen als Motorradfahrer selbst und sein Mitgefühl für die Familie des Opfers illustrieren den Versuch, „auf Augenhöhe zu richten“. Der Autor konzipiert sein Buch als eine Gegen-Erzählung, die darauf abzielt, Vereinfachungen zu dekonstruieren und eine tiefere, komplexere und menschlichere Perspektive auf die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt und die Funktionsweise der Justiz zu bieten. Er möchte die Polarisierung der Gesellschaft durch Verständnis und Empathie überwinden.

Richter Philippe Moreau, der den Prozess gegen Saïd leitete, betont, dass es keine einfache „Moral“ aus der Geschichte gibt, nur eine unglückliche Verkettung von Umständen. Er offenbart, selbst Motorradfahrer zu sein, was ihm ein tiefes Verständnis für Saïds Handlungen ermöglicht. Moreau sieht die Justiz als einen Mechanismus, der die „gewaltsame Macht“ mildert, um den Einzelnen nicht zu zerbrechen. Er beschreibt den Unfall als ein „kollektives Versagen“ und Saïd als in einem Zustand der „totalen Anomie“.

Nachtrag

Neun Jahre nach dem Unfall ist Saïd immer noch in Gewalt verwickelt, selbst nachdem er Vater geworden ist. Der Erzähler ringt mit der Frage, ob Saïd einfach „dumm“ sei, wie ein Polizist meint, und ob es überhaupt Sinn macht, das Leben eines so scheinbar „leeren“ Charakters zu erforschen. Er lehnt die Ansicht seines Vaters ab, dass „diese Jungs in einer anderen Welt sind, nicht wie du und ich“. Letztlich kulminiert die Untersuchung in einem Ringen um ethisches Verständnis und einer Form der Heilung. Der Erzähler lotet die „Linie eines Grats“ zwischen Rache und Vergebung aus: Zehn Jahre nach dem Unfall, beeinflusst durch die Präsidentschaftswahlkampagne und deren populistische Rhetorik über Kriminalität und Einwanderung, erkennt er die politische Dimension im Tod seiner Mutter.

Figuren wie Saïds Schwester Hafsia, die aus eigener tragischer Erfahrung die „Wichtigkeit des Verzeihens“ als „Parameter der Rekonstruktion“ betont, und der Richter Philippe Moreau, der den Unfall als „kollektives Versagen“ und Saïd als „in totaler Anomie“ lebend interpretiert, weisen Wege jenseits blinder Vergeltung. Das posthum entdeckte Yoga-Manuskript der Mutter über die „Qualität der Präsenz“ und das „Lâcher-prise“ wird zu einer philosophischen Anleitung für den Erzähler, um einen inneren „Gleichgewichtspunkt“ zu finden und die „Spannung zu überwinden“. Das Schreiben selbst wird dabei gewissermaßen zu einer „Yoga-Haltung“, einer komplexen Position, um die Schmerzen der Vergangenheit zu transzendieren und im Angesicht einer „unbarmherzig gleichgültigen Welt“ Frieden zu finden.

Anmerkungen
  1. Paul Gasnier in: Anastasia Vécrin, Thibaut Sardier, «J’en ai eu marre d’entendre l’extrême droite me déposséder de mon histoire», Libération, 10. September 2025.>>>
  2. „Comment rester de gauche quand « la mort de sa mère illustre ce que l’extrême droite dénonce » ?“ Sandra Nabavi, Nouvel Observateur, 14. September 2025.>>>
  3. Paul Gasnier in: Anastasia Vécrin, Thibaut Sardier, «J’en ai eu marre d’entendre l’extrême droite me déposséder de mon histoire», Libération, 10. September 2025.>>>
  4. „Au prix d’un travail de construction précis, d’une écriture toute de sobriété et de retenue, La Collision parvient à contenir tout ensemble une enquête, une réflexion éthique et politique, et un bouleversant livre de deuil“, Nathalie Crom, „La Collision, de Paul Gasnier : vous n’aurez pas ma haine“, Télérama, 17. September 2025.>>>
  5. Florence Pitard, „Enquête sans haine sur la mort d’une mère“, Ouest-France, 21. September 2025.>>>

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