Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe, Hrsg. Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr. Francopolyphonies 36. Leiden; Boston: Brill, 2024.
Eine zirkuläre Route
Mohamed Mbougar Sarr gilt als literarische Sensation. Bereits als junger Autor greift er mit intellektueller Reife und stilistischer Brillanz Themen von weltliterarischem Rang auf. Sein Schreiben verbindet die Erfahrung senegalesischer Herkunft mit einer souveränen Aneignung europäischer Bildungstraditionen. Daraus entsteht eine Stimme, die zugleich afrikanisch verwurzelt und universell anschlussfähig ist – voller intertextueller Anspielungen, philosophischer Tiefenschärfe und spielerischer Lust an Sprache. Mbougar Sarr bringt hochkomplexe Fragestellungen – von Identität über Erinnerung bis zur Macht des Erzählens selbst – in eine Form, die nicht akademisch wirkt, sondern lebendig, ironisch und sinnlich. Seine Romane sind packende, manchmal wilde Erzählungen, die poetische Kraft mit intellektuellem Witz verbinden. Er spielt afrikanische und westliche Diskurse nicht gegeneinander aus, sondern bringt sie auf Augenhöhe in produktive Reibung. Der Autor schreibt so selbstverständlich transnational und transkulturell, dass die Kategorien von „Zentrum“ und „Peripherie“ außer Kraft gesetzt scheinen.
Der Sammelband Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr wurde herausgegeben von Sarah Burnautzki, Abdoulaye Imorou und Cornelia Ruhe. Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, wurden anlässlich eines Kolloquiums vorgestellt, das im Mai 2023 an der Universität Mannheim abgehalten wurde. Das Kolloquium vereinte eine Vielzahl von internationalen Beitragenden aus Ländern wie Südafrika, Eswatini, Ghana, Senegal, Kanada, den USA und mehreren europäischen Ländern (Frankreich, Belgien, England, Niederlande). Zusätzlich zu den akademischen Vorträgen umfasste die Veranstaltung einen Dialogabend, der dem Verlagsgeschäft afrikanischer Literaturen in französischer Sprache gewidmet war. Mohamed Mbougar Sarr selbst nahm ebenfalls an einem Abschlussabend teil.
Das „Labyrinth“, auf das sich die Herausgeberinnen und der Herausgeber beziehen, wird dabei sowohl als konzeptuelles als auch als ästhetisches Prinzip des Romans La plus secrète Mémoire des hommes verstanden, welche durch die polyphone Struktur, die Vervielfältigung der narrativen Stimmen und die unterschiedlichen Textgattungen realisiert wird, um den „effet de réel“ zu steigern und die zahlreichen, sich kreuzenden Pfade des Textes aufzuzeigen. Letztlich zielt der Band darauf ab, die Komplexität des Romans zu erfassen, dessen poetische Logik einer „langen zirkulären Route“ folgt, in der das Ziel mit dem Ursprung verschmilzt. Es wird betont, dass der Roman nicht nur durch mise en abyme, sondern auch durch Verschränkung („enchevêtrement“) gekennzeichnet ist, ein ästhetisches Prinzip, das die Koexistenz und wechselseitige Abhängigkeit heterogener Welten (Kulturen, Geschichten, Literaturen) betont und die koloniale Dichotomie von Zentrum und Peripherie ablehnt. Durch die Fiktionalisierung der „Affäre Ouologuem“ setzt sich Mbougar Sarr intertextuell mit dem westlichen Kanon und der Geschichte der Rassifizierung von Literatur auseinander. Er nutzt das Palimpsest, um durch das Überschreiben und Zitieren anderer Texte (wie Rimbaud, Mallarmé oder Borges) das hegemoniale „Maßnehmen“ („Mesure“) des europäischen Kanons zu demontieren und eine kosmopolitische, pluralistische Ästhetik zu entfalten, die über nationale und identitäre Grenzen hinausweist. Mbougar Sarrs Strategie wird als „Gegenangriff“ und Akt der „reparativen Intertextualität“ interpretiert, der die Literaturgeschichte um die Geschichten vergessener und skandalisierter Autoren erweitert.
Mohamed Mbougar Sarr wurde 1990 in Dakar geboren, studierte dort auch zunächst, bevor er seine Ausbildung an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris fortsetzte, wo er mit einer Dissertation über Léopold Sédar Senghor begann. Seine schriftstellerische Karriere startete 2014 mit der Novelle « La Cale », gefolgt von den Romanen Terre ceinte (2015), Silence du chœur (2017) und De purs hommes (2018), die alle renommierte Literaturpreise gewannen. Diese beeindruckende Laufbahn wurde 2021 mit dem Prix Goncourt für La plus secrète Mémoire des hommes bestätigt, was seine Position als Autor von außergewöhnlichem Talent und großer Gelehrsamkeit, der vor politischen Themen nicht zurückschreckt, untermauerte. Das Buch bietet eine subtile, detaillierte und luzide literarische Metareflexion. Es beleuchtet die Geschichte der afrikanischen Literatur sowie deren Verflechtungen mit dem literarischen Milieu von Paris. Die Handlung, die den Leser in ein Labyrinth führt, ist von der außergewöhnlichen literarischen Laufbahn und dem legendären Niedergang des malischen Autors Yambo Ouologuem inspiriert.
Mbougar Sarrs Texte zeichnen sich durch die Behandlung von Themen mit politischer Tragweite aus. Bereits mit den frühen Werken thematisiert der Autor extreme Gewalt und deren strukturelle Ursachen. So prangert Terre ceinte die totale und blutige Macht dschihadistischer Regime an und hebt den alltäglichen Widerstand durch geheime Schriften und Briefwechsel hervor. In Silence du chœur werden strukturelle Gewalt und Rassismus im Kontext der Migration thematisiert, wobei die erzwungene Koexistenz („convivialisme“) zwischen afrikanischen Migranten und sizilianischen Einheimischen scheitert. De purs hommes widmet sich der strukturellen Homophobie und der Gewalt, die sich gegen die Minderheit der gordjiguène richtet. In allen drei Frühwerken wird der Umgang mit gewaltsamen Todesfällen, Bestattungen und Trauer zu einem politischen Einsatz, der die Mechanismen struktureller Ungleichheit offenlegt und die Leser zur Reflexion über ihre eigene Verstrickung in diese Gewalt auffordert.
Mbougar Sarrs Ästhetik zielt darauf ab, diese komplexen politischen Realitäten in Literatur zu überführen. Er greift auf eine vielschichtige polyphone Erzählstruktur zurück, die eine Vielzahl von Stimmen, Perspektiven und Gattungen vereint, um die Homogenität des Narrativs aufzubrechen. Die gezielte Intermedialität seiner Werke durch die Einbindung von Medien wie Kino, Video, Presse und Telefon dient als bewusstes ästhetisches und ideologisches Mittel, um eine kritische Sichtweise auf afrikanische soziopolitische Krisen zu verbreiten und dem offiziellen Diskurs entgegenzuwirken. Seine Darstellung des „Unmenschlichen“ (inhumain) ist von einer Ablehnung des Manichäismus geprägt, da er darauf beharrt, dass Täter nicht als bloße Monster, noch Opfer als monolithisch unschuldig dargestellt werden können, was den Leser dazu zwingt, die individuelle Verantwortung zu hinterfragen.
Mohamed Mbougar Sarr: La part de la Critique (S. 11–19)
Mbougar Sarr legitimiert die literarische Kritik als notwendigen und schöpferischen Akt, der das Unlesbare eines Werkes freilegt und neue, produktive Sinnsysteme etabliert, wobei er insbesondere die akademische Kritik als essenziell erachtet.
Der Autor beginnt mit der Anekdote einer ungarischen Leserin, die seinen Roman La plus secrète Mémoire des hommes als getarnten Essay über das Lesen und die Literaturkritik interpretiert. Er akzeptiert, dass sein Roman einen „gewissen theoretischen oder kritischen Wunsch“ in Bezug auf die afrikanische Literatur trägt. Mbougar Sarr unterscheidet drei Arten von Kritik (spontan, professionell, magistral) und hält sie alle für notwendig, um sich der „unauffindbaren Wahrheit eines Buches“ zu nähern. Er liest fast alle akademischen Artikel über seine Werke, da er Kritik und Theorie als ein Kontinuum des Werkes betrachtet, das unaufhörlich neue Sinnsysteme schafft. Der Autor bekennt sich dazu, dass sein Roman die Frage aufwirft, „Für wen liest man?“ und dass er die Leseerfahrung seiner Charaktere in den Vordergrund stellt. Die Kritik ist für den Autor ein Akt der Adresse – an die Bücher und an andere Lesarten, die eine „geheime Konversation des Lesens“ ermöglichen.
Zu den Einzelbeiträgen
Catherine Mazauric: Masculinités en question. De Terre ceinte à De purs hommes (S. 21–38)
Die ersten drei Romane Mbougar Sarrs hinterfragen die dominante, oft gewaltgeprägte männliche Norm, indem sie plurale Männlichkeiten darstellen und ethische Fragen zu Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit („agentivité“) aufwerfen.
Mazauric zeigt auf, dass die Männlichkeitsfrage in den ersten Romanen Mbougar Sarrs zentral ist, wobei Gewalt (dschihadistisch, xenophob, homophob) ausschließlich von Männern ausgeübt wird. In Terre ceinte manifestiert sich die Norm in der Gewalt der „Bruderschaft“. De purs hommes thematisiert homophobe Gewalt, die in einer Leichenschändung gipfelt, welche der Erzähler-Protagonist Ndéné Gueye mit einer „reinen geistigen Vorstellung“ verbindet, die an Kristevas Konzept des Abjekten rührt. Mazauric verweist darauf, dass Silence du chœur emotionales Übermaß darstellt, während Terre ceinte die stoische Haltung von Frauen im Widerstand hervorhebt. Die Polyphonie in Silence du chœur trägt zur Nuancierung bei, auch wenn weibliche Charaktere mitunter globalisierend wahrgenommen werden.
Dieser Aufsatz bietet eine kohärente Lektüre der frühen Romane unter der Gender-Perspektive und hebt die Kontinuität von Mbougar Sarrs Kritik an patriarchalen und gewaltvollen Strukturen hervor, die sich durch sein gesamtes Frühwerk zieht. Es wird deutlich, dass sein Werk von Anfang an kontroverse soziale Themen kritisch beleuchtet hat.
Cornelia Ruhe: Morts, sépultures et deuil. Les fictions thanatographiques de Mohamed Mbougar Sarr (S. 39–56)
Mbougar Sarrs „thanatografische Fiktionen“ (Romane, die gewaltsame Tode inszenieren) beleuchten die nekropolitischen Mechanismen (Mbembe) struktureller Ungleichheit, die den öffentlichen Umgang mit Tod und Trauer bestimmen, und fordern den Leser auf, seine eigene Implikation (Rothberg) in diese Gewalt zu erkennen.
Ruhe untersucht, wie der Autor in seinen Romanen den Umgang mit Toten zu einem politischen Einsatz macht. Thanatografien sind Fiktionen, die Erfahrungen mit gewaltsamem Tod darstellen, der von Kriegen oder struktureller Ungleichheit herrührt. Anhand von Achille Mbembe und Judith Butler wird gezeigt, dass die Art und Weise, wie der öffentliche Diskurs gewaltsamen Tod rahmt, die Souveränität ausdrückt – die Macht zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. In Terre ceinte wird dies durch die Verweigerung einer würdigen Bestattung für das gesteinigte Paar und die monumentale Verehrung des Dschihadisten Abdel Karim gezeigt. De purs hommes thematisiert die Entweihung des Grabes eines mutmaßlich homosexuellen Mannes durch einen wütenden Mob im Senegal und die Mitschuld des akademischen Erzählers, der Homophobie verinnerlicht hat. Mbougar Sarr verwischt die Grenzen zwischen Täter und Opfer, indem er die Protagonisten als „implicated subjects“ (Rothberg) darstellt.
Dieser Beitrag liefert eine theoretische Basis, um die Darstellung extremer Gewalt in Mbougar Sarrs Werk zu verstehen. Er verbindet seine Romane mit globalen theoretischen Diskursen über Nekropolitik und postkoloniale Verantwortung, wodurch seine literarische Auseinandersetzung mit realen politischen Krisen hervorgehoben wird.
Valérie Dusaillant-Fernandes: Agentivité des personnages et engagement littéraire. Voix et détours chez Mohamed Mbougar Sarr (S. 75–95)
Mbougar Sarrs Debütroman Terre ceinte setzt der dschihadistischen Gewaltherrschaft eine alltägliche, polyphone Ästhetik des Widerstands entgegen, die durch die Handlungsfähigkeit („agentivité“) der Charaktere und dieˆ intime schriftliche Kommunikation (Briefe, Geheimzeitung) verwirklicht wird.
Dusaillant-Fernandes analysiert den Roman Terre ceinte als Reflexion über das Engagement angesichts des Unsagbaren. Widerstand wird durch die Veröffentlichung der Geheimzeitung Rambaaj (was auf Wolof „Sämann des Zwietrachts“ bedeutet) durch eine intellektuelle Elite („combattants du verbe“) verkörpert. Parallel dazu dient der Briefwechsel zwischen den Müttern des hingerichteten Paares, Sadobo und Aïssata, als eine intime Form des Widerstands und der weiblichen Handlungsfähigkeit, die das Schweigen bricht. Mbougar Sarr nutzt eine plurivokale Erzählform, in der der allwissende Erzähler als Sprachrohr für den impliziten Autor dient. Diese ästhetische Widerstandsform zielt darauf ab, die Leserschaft sensibel zu machen und das Bewusstsein zu wecken, anstatt nur zu denunzieren.
Der Beitrag unterstreicht Mbougar Sarrs Fähigkeit, komplexe politische Realitäten (Djihadismus im Sahel) durch differenzierte ästhetische Strategien zu bearbeiten. Er festigt die Wahrnehmung von Mbougar Sarr als einem Autor, der das Politische durch das Sensible vermittelt und die literarische Form selbst als Ort des Engagements begreift.
Aliou Seck: De la « médialisation » de l’écriture dans les romans de Mohamed Mbougar Sarr (S. 109–124)
Die „Medialisierung“ des Schreibens in Mbougar Sarrs Romanen (Terre ceinte, De purs hommes) ist ein bewusstes ästhetisches und ideologisches Verfahren, das Medien (Kino, Telefon, Video, Presse) über ihre übliche Funktion hinaus als Vektoren für die kritische Darstellung der soziopolitischen Realitäten Afrikas nutzt.
Seck argumentiert, dass Mbougar Sarrs Schreibstil durch Hybridität und Intermedialität geprägt ist, was den zeitgenössischen afrikanischen Roman ästhetisch erneuert. Die Texte sind ein „Ort der Begegnung und Beeinflussung“ verschiedener Künste und Medien. De purs hommes weist starke filmische Elemente auf, einschließlich filmischer Lexeme und einer szenischen Erzählstruktur, die der Logik des minimalistischen Erzählens folgt. Medien wie das Telefon (Terre ceinte) oder Videos (De purs hommes) werden nicht nur zitiert, sondern aktiv in die Erzähldimension integriert. Diese intermediale Praxis dient als Strategie, um Mbougar Sarrs kritische Sicht auf den afrikanischen Kontinent zu verbreiten, der von Krisen geplagt ist. Der Blog, die Geheimzeitung und die Briefe sind Ausdruck dieser mediengestützten Widerstandsstrategie gegen die offizielle Propaganda.
Die Analyse der Medialisierung erweitert das Verständnis für Mbougar Sarrs Ästhetik als postmodern und medienreflexiv. Sie erklärt, wie der Autor die Textur des Romans nutzt, um politische Kommentare abzugeben, und positioniert ihn als einen Schriftsteller, der die zeitgenössischen Kommunikationsformen aktiv in seine literarische Praxis einbezieht.
Abdoulaye Imorou: Les monstres n’existent pas. Sortir du labyrinthe de l’inhumain avec Mohamed Mbougar Sarr (S. 125–140)
Mbougar Sarrs Behandlung des „Unmenschlichen“ in seinem Gesamtwerk lehnt manichäische Lesarten ab, indem sie Täter und Opfer als gleichermaßen menschlich darstellt und den Leser damit zwingt, seine eigene Distanzierung aufzugeben und die Frage der individuellen Verantwortung zu stellen.
Imorou stellt fest, dass das Motiv des Labyrinthe de l’inhumain Mbougar Sarrs gesamtes Werk von La Cale bis La plus secrète Mémoire des hommes durchzieht. Er hinterfragt die Figur des „Monsters“ (Täters) und zeigt, dass diese Charaktere (wie Abdel Karim) von der Legitimität ihrer Taten überzeugt sind, ohne rein bösartige Motive zu haben. Ebenso sind die Opfer nicht monolithisch unschuldig; in Terre ceinte oder Silence du chœur zeigen auch die Opfergruppen interne Gewalt oder Handlungen, die sie in die Logik der Gewalt einbeziehen. Der Text fordert die Empathie des Lesers heraus, insbesondere durch das fantastische Zögern in La plus secrète Mémoire des hommes (Sind die Kritiker Elimanes wirklich ermordet worden?). Da Täter und Opfer Menschen bleiben, ist eine einfache Distanzierung nicht möglich, und die Verantwortung liegt bei den „individuellen Entscheidungen“ des Lesers.
Dieser Beitrag ist entscheidend für das ethische Verständnis des Werks von Mbougar Sarr. Er zeigt, dass die Komplexität nicht nur ästhetischer Natur ist, sondern eine moralische Forderung an den Leser darstellt, sich der eigenen Möglichkeit als Täter oder Opfer bewusst zu werden.
Julia Görtz: Comment dire la migration ? L’importance de la transmission dans Silence du chœur de Mohamed Mbougar Sarr (S. 141–163)
Durch die strategische Nutzung von Polyphonie und einer Vielfalt an Textgattungen (Reisebericht, Zeitungsartikel, Theaterstück) in Silence du chœur akzentuiert Mbougar Sarr die Schwierigkeit der Migration zu erzählen und unterstreicht die Notwendigkeit der Transmission als Akt des kollektiven Gedächtnisses.
Görtz untersucht, wie Mbougar Sarr das Trauma der Migration im fiktiven Altino (Sizilien) darstellt. Die Polyphonie und die wechselnden Fokalisierungen erlauben eine Vielfalt von Perspektiven (Giuseppe Fantini, Fousseyni Traoré, Jogoy). Die Figuren reflektieren über die Grenzen der Sprache, wobei Literatur als Ort des Gedächtnisses dient (lieu de mémoire nach Nora). Die Variation der Genres erfüllt spezifische Funktionen: Der Reisebericht/das Tagebuch von Jogoy bietet eine persönliche, emotionale Perspektive. Im Gegensatz dazu schaffen Zeitungsartikel Distanz und regulieren die Emotionen, dienen aber auch dazu, die Partialität und die Heuchelei des offiziellen Mediendiskurses aufzudecken, dessen angeblicher Objektivität zu viel Wert beigemessen wird. Die offizielle Version wird bewusst gekürzt, um die Leser auf Jogoy’s detaillierteres Zeugnis vorzubereiten.
Dieser Artikel beleuchtet Mbougar-Sarrs raffinierten Umgang mit der Gattungsfrage. Er zeigt, dass der Autor nicht nur über Migration schreibt, sondern auch darüber, wie man über Migration schreiben sollte, um das Schweigen des Chores (silence du chœur) der Migranten zu brechen.
Lena Seauve: Convivialisme, polyphonie et violence dans Silence du chœur de Mohamed Mbougar Sarr (S. 164–178)
Das Scheitern eines erzwungenen „Convivialisme“ (Zusammenlebens) zwischen sizilianischen Einheimischen und afrikanischen Flüchtlingen in Silence du chœur ist die transhistorische Folge fundamentaler Ungleichheit und wechselseitiger Abhängigkeit, was durch die polyphone Struktur und Anklänge an die antike Tragödie untermauert wird.
Seauve analysiert das Zusammenleben in Altino anhand des kritischen Konzepts des Convivialisme. Mbougar Sarrs Roman stellt die zentrale Frage: „Wie kann das Zusammenleben unter Bedingungen fundamentaler Ungleichheit funktionieren?“. Die Polyphonie des Textes (Bachtin) spiegelt die Unversöhnlichkeit der Positionen wider und erlaubt es, die zunehmende Gewalt der Sprache zu zeigen. Die Stadt Altino wird mit einem lebenden Organismus verglichen; die Gewalt des Massakers im Herzen der Stadt („cœur„) führt metaphorisch zum Stillstand. Die Darstellung der extremen Gewalt ist der Höhepunkt des Scheiterns des Convivialisme. Der Roman übersteigt den historischen Moment der Flüchtlingskrise, indem er auf die Traditionen der Tragödie und des Epos zurückgreift.
Seauve liefert eine philosophische und gattungstheoretische Verankerung für Silence du chœur. Die Verknüpfung des sozialen Konflikts mit universellen, tragischen Mustern zeigt Mbougar Sarrs Bestreben, das Lokale (Sizilien/Afrika) mit dem Weltwissen zu verbinden.
Susanne Gehrmann: De l’enquête au discours queer. L’intertextualité dans De purs hommes de Mohamed Mbougar Sarr (S. 193–213)
De purs hommes transformiert das Modell des Kriminalromans (roman de l’enquête) und tritt in einen intertextuellen Dialog mit der Tradition der gordjiguène sowie dem westlichen „queer discourse“, um die Heuchelei der senegalesischen Gesellschaft im Angesicht homophober Gewalt zu entlarven.
Gehrmann untersucht die literarische Aufarbeitung der Homophobie im Senegal, die Mbougar Sarr zur Zielscheibe von Kritik machte. Der Roman ist als „enquête sociologique“ konzipiert, inspiriert von Autoren wie Boubacar Boris Diop. Gehrmann analysiert die intertextuellen Modi der „participation“, „transformation“ und „détournement“. Der Text nimmt die negative Rezeption des Autors (Vorwurf der „Verteidigung der Homosexualität“) metatextuell vorweg. Die Figur des Erzählers Ndéné Gueye vollzieht eine Bewusstseinsreise von der verinnerlichten Homophobie zur Empathie. Mbougar Sarr parodiert und entlarvt die negativen medialen Kampagnen gegen LGBTQI+, insbesondere die gefährliche rhetorische Radikalisierung durch den jotalikat (menschliches Medium) in der mündlichen Tradition.
Dieser Aufsatz beleuchtet die riskante politische Ästhetik von De purs hommes. Er beweist Mbougar Sarrs Fähigkeit, durch intertextuelle und gattungsmäßige Verschiebungen („détournement“) einen kritischen, indigen verankerten „queer discourse“ zu schaffen.
Émile Lévesque-Jalbert: Les mondes enchevêtrés de Mohamed Mbougar Sarr (S. 214–227)
Anstelle der oft zitierten mise en abyme schlägt Lévesque-Jalbert die Figur des „enchevêtrement“ (Verschränkung) als zentrales ästhetisches Prinzip in La plus secrète Mémoire des hommes vor, um die Koexistenz heterogener Welten (Kulturen, Sprachen, Literatur und Leben) zu betonen und Mbougar Sarrs Beitrag zur kosmopolitischen und pluralistischen Ethik (Mbembe, F. Sarr) zu unterstreichen.
Während die Kritik häufig Mbougar Sarrs „schwindelerregende mise en abyme“ (Erzählung in der Erzählung) hervorhebt, argumentiert Lévesque-Jalbert, dass die enchevêtrement die Topologie des Romans besser beschreibt: eine Überlagerung und wechselseitige Abhängigkeit von Elementen, die heterogen sind, ohne in hierarchische Verhältnisse (wie bei der mise en abyme) eingebettet zu sein. Dies wird anhand der Szene mit Siga D. und der Begegnung mit Jesus-Christus im Salon (neben dem Sex der Freunde) illustriert, wo die Räume und Diskurse (Sexualität vs. Literatur, Animismus vs. Christentum) interferieren. Die enchevêtrement ist die literarische Form eines Pluralismus, die eine „kosmopoetische“ und „kosmopolitische“ Haltung ermöglicht.
Dieser theoretische Beitrag bietet ein Werkzeug, um Mbougar Sarrs interkulturelle Ästhetik über die einfache Intertextualität hinaus zu fassen. Er legitimiert seine stilistische Komplexität als eine bewusste ethische und politische Position, die die dichotomische Koloniallogik von Zentrum und Peripherie ablehnt.
Alicia C. Montoya: « Un écrivain africain aux prises avec la Shoah »… (S. 228–246)
Mbougar Sarr konstruiert in La plus secrète Mémoire des hommes durch das afro-jüdische Paar Elimane-Ellenstein und starke intertextuelle Bezüge (Bolaño, Borges, Jabès, Schwarz-Bart) eine neue „multidirektionale Erinnerung“ (Rothberg), die die Erfahrungen von Shoah und Kolonisierung in einer postkolonialen Ästhetik verschmelzen lässt.
Montoya zeigt auf, dass Mbougar Sarr durch die Wahl des Jahres 1938 und die literarischen Bezüge zur Shoah (z. B. auf André Schwarz-Bart und Primo Levi) die Erinnerung bewusst verflechtet. Das zentrale Paar Elimane (afrikanischer Autor) und Charles Ellenstein (jüdischer Verleger) manifestiert Rothbergs Konzept der multidirectional memory, bei dem Erinnerungen sich gegenseitig stärken, anstatt zu konkurrieren. Ellensteins Identität wird stark mit dem Buch als „Heimat“ verbunden (Bezug zu Edmond Jabès und der jüdischen Tradition). Das Dreieck wird durch den Nazi Josef Engelmann vervollständigt, der Ellenstein ermordet und Elimane zum Schweigen bringt. Mbougar Sarr verweist auf Borges‘ Aleph und die Figur des Autors, der im Labyrinth verschwindet und möglicherweise selbst zu einem „blutrünstigen König“ wird.
Diese Analyse zeigt die ambitioniertesten und heikelsten interkulturellen und historischen Dimensionen von Mbougar Sarrs Roman auf. Sie unterstreicht das weltliterarische Engagement des Autors, indem er traumatische Erinnerungen aus verschiedenen Kontinenten in einem einzigen literarischen Akt verarbeitet.
Bernard De Meyer: Un crocodile peut en cacher un autre… (S. 247–260)
Mbougar Sarrs häufige Verwendung des Krokodilmotivs in La plus secrète Mémoire des hommes ist eine intertextuelle Hommage an Paul Lomami Tshibamba (Ngando, 1948), die bewusst von der mystischen oder morbid-fantastischen Darstellung abweicht und stattdessen eine dekoloniale und ökologische Perspektive auf diesen liminalen Raum sucht.
De Meyer identifiziert das Krokodilmotiv, das im Roman mehrfach auftaucht, insbesondere in der Vorgeschichte Elimanes. Er stellt eine Verbindung zu Tshibamba her, dessen Ngando als erster Roman eines Kongolesen gilt und 1948 erschien – Tshibamba war zeitgenössisch mit dem fiktiven Elimane. Während frühere afrikanische Texte (Ouologuem, Kourouma) das Krokodil oft als Todesbote oder fantastisches Wesen darstellen, integriert Mbougar Sarr die Figur in eine dekoloniale und ökologische Ästhetik. Das Krokodil wird als ein hybrides Wesen gesehen, das die komplexe Realität des afrikanischen Raumes und seiner Mythen in einem „vernakulären Kosmopolitismus“ (Bhabha) verortet.
Dieser Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit weg von den rein frankophonen/europäischen Bezügen (Ouologuem, Rimbaud) hin zu Mbougar Sarrs sorgfältiger Integration afrikanischer literarischer Vorläufer, wodurch er seinen Anspruch als écrivain-monde untermauert.
Sarah Burnautzki: « Écrire, ne pas écrire ». Arthur Rimbaud, Mohamed Mbougar Sarr et la poétique de la Modernité (S. 273–290)
Mbougar Sarrs Fiktionalisierung der „Affäre Ouologuem“ in La plus secrète Mémoire des hommes stellt eine intertextuelle Auseinandersetzung mit Arthur Rimbaud dar, wobei Mbougar Sarr das unvollendete poetische Projekt des poète-voyant (seine Ästhetik der horrible travailleur und das Scheitern an der Repräsentierbarkeit) als Akt der intertextuellen Reparatur vollendet.
Burnautzki untersucht die Verbindung zwischen T.C. Elimane/Yambo Ouologuem und Arthur Rimbaud, die beide als „Avantgarde“ in ein ungleiches literarisches Feld eintraten und scheiterten. Mbougar Sarrs Roman stellt Elimane in eine Reihe mit Rimbaud, indem er dessen Scheitern an der Repräsentationsfähigkeit seiner Vision teilt. Mbougar Sarr übernimmt die Rimbaudsche Ästhetik des „dérèglement des sens“ (Störung der Sinne) und der Vorstellung des Dichters als „schrecklicher Arbeiter“ („horrible travailleur“). Die Erkenntnis des Erzählers Faye über das unvermeidliche Scheitern der Schrift führt zur Zerstörung des Nachlasses von Elimane. Diese Zerstörung ist metapoetisch ein Akt der „Reparatur“ (Reparationsintertextualität), der Elimanes Werk symbolisch vom Makel seines Scheiterns befreit und Mbougar Sarrs Roman als Fortsetzung des unvollendeten Projekts des voyant etabliert.
Dieser Beitrag vertieft Mbougar Sarrs Selbstreferenzialität und seine literaturgeschichtliche Positionierung. Er zeigt, dass sein Roman ein hochkomplexer poetologischer Kommentar zur Möglichkeit einer Literatur der Moderne ist, der die afrikanische Literatur (Ouologuem) in einen direkten Dialog mit den Gründungsfiguren der europäischen Moderne (Rimbaud) stellt.
Kathleen Gyssels: ‘Goncourables’ à tout prix… (S. 291–306)
Mbougar Sarrs Roman ist ein strategisches Werk, das den Goncourt-Preis relativiert, indem es seine intertextuelle Kartographie (insbesondere die polnisch-jüdische Achse Schwarz-Bart und Gombrowicz) nutzt, um die ambivalente Beziehung des afropolischen Autors zur französischen „Heimat“ und die anhaltende Misstrauen gegenüber dem „Anderen“ (Jude, Schwarzer) im transatlantischen Dreieck zu reflektieren.
Gyssels analysiert Mbougar Sarrs strategische Einordnung in den Kanon der Weltliteratur. Sie thematisiert die doppelte „Schuld“ des literarischen Frankreichs gegenüber Minderheitenautoren, die durch den Goncourt an Mbougar Sarr getilgt wurde (Vergleich mit René Maran 1921 und André Schwarz-Bart 1959, die beide nach dem Preis kritisiert wurden). Gyssels konzentriert sich auf die polnische Achse: Schwarz-Bart (jüdisch-polnischer Abstammung) und Witold Gombrowicz (polnisch). Schwarz-Bart, der die gemeinsame Situation von Juden und Schwarzen als Unterdrückte erforschte, beeinflusste Mbougar Sarr indirekt, etwa über die multidirectional memory. Gombrowicz, der polnische Emigrant in Argentinien, wird als Figur des Entwurzelten gesehen, der die nationale Pathos ablehnt. Mbougar Sarrs Intertextualität dient als Strategie der Selbstlegitimierung (auto-homologation), die ihn als enzyklopädischen Schriftsteller positioniert.
Der Artikel zeigt die Vielschichtigkeit von Mbougar Sarrs Intertextualität auf, die über die afrikanischen oder französischen Hauptfiguren hinausgeht und komplexe, oft vergessene Achsen des literarischen Kosmopolitismus in den Vordergrund rückt. Dies bestätigt Mbougar Sarrs Haltung als intellektueller Grenzüberschreiter.
Joanne Brueton: ‘Courir’ derrière l’immense littérature occidentale?… (S. 307–325)
Mbougar Sarr dekolonisiert in La plus secrète Mémoire des hommes den westlichen Kanon mittels der Palimpsest-Figur, indem er Glissants Konzept der „Mesure“ (hinsichtlich Autorität und Universalismus) herausfordert und Mallarmé nutzt, um eine Poetik der „Démesure“ zu entfalten, die nationale und identitäre Grenzen überschreitet.
Brueton beginnt mit Mbougar Sarrs Forderung nach einem „Krieg der Kanones“ und Glissants Analyse der „Mesure“ des Klassizismus: einer epistemologischen Dominanz, die andere Kulturen vereinnahmt und zu universalen Werten erklärt. Mbougar Sarrs Roman als Palimpsest, eine Überlagerung von Texten, entlarvt die strukturelle Ungerechtigkeit. Elimanes (Le Labyrinthe de l’inhumain) Plagiat wird von Kritikern verurteilt, obwohl es lediglich den mimethischen Prozess des westlichen Kanons (z. B. Pléiade – Einverleibung der Vorläufer) offenbart, der seine eigenen Quellen gewaltsam auslöscht. Brueton sieht in Mbougar Sarrs Parodie auf den Intellektuellen Teste (Diégane) eine Kritik am europäischen Logozentrismus und dem Despotismus des Geistes über den Körper. Mbougar Sarr wendet sich Mallarmé zu, um eine Literatur zu finden, die über die „koloniale Natur“ der Kultur hinausgeht und eine „relationale Mondialität“ (Glissant) feiert.
Dieser Aufsatz bietet eine gründliche theoretische Begründung für Mbougar Sarrs dekoloniales Ästhetik. Er zeigt, dass der Autor nicht einfach den westlichen Kanon ablehnt, sondern ihn von innen heraus demontiert und das Konzept der Originalität selbst als Machtinstrument entlarvt.
Oana Panaïté: Sortir du labyrinthe de l’histoire littéraire (blanche) (S. 326–342)
Mbougar Sarrs Roman (La plus secrète Mémoire des hommes) funktioniert als necrofiction (literarisches Grabmal), die die Rassifizierung der Literatur im französischen Feld kritisch spiegelt und die Geschichte der „Affären“ um schwarze Autoren (Maran, Ouologuem, Beyala) reaktiviert. Der Roman läuft jedoch Gefahr, durch die Betonung der ästhetischen Freiheit die determinierenden materiellen und ideologischen Zwänge zu verschleiern.
Panaïté analysiert Mbougar Sarrs Roman als kritisches Spiegelbild der Dynamiken, die die französische Literaturkritik bestimmen. Die Erzählung ist durchdrungen von der Geschichte schwarzer Autoren, die entweder als Genies oder Plagiatoren abgestempelt wurden. Die necrofiction ist eine erzählerische Praxis, die die Reste der Literaturgeschichte sammelt, um Ungerechtigkeiten zu korrigieren und die schöpferische Kraft des literarischen Corpus zu demonstrieren. Die Figur Elimane ist das Paradebeispiel für die doppelte Erwartung an schwarze Autoren: Sie sollen „würdig“ sein, aber ihr Status bleibt prekär und marginalisiert. Panaïté kritisiert die „weiße Geschichte der Literatur“ („histoire littéraire (blanche)“), die nicht-weiße Autoren marginalisiert, selbst in Studien zur Gegenwartsliteratur (Dosse). Der Roman nutzt beißende Ironie, um rassistische Stereotype zu denaturalisieren, nimmt aber gleichzeitig die ästhetische Haltung einer „Ästheten-Position“ ein, die die Freiheit der Kunst über die soziologischen Bedingungen stellt.
Panaïtés Beitrag bietet eine wichtige Kritik am Sammelband selbst, indem sie Mbougar Sarrs Gefahr aufzeigt, durch seinen metareflexiven Stil die tief verwurzelte „weiße Hegemonie“ zwar zu dekonstruieren, aber ihre anhaltenden Auswirkungen auf die postkoloniale literarische Produktion möglicherweise zu verharmlosen.
Interludes
Isabel Kupski: Comment naît un programme d’édition ? (S. 263–266)
Die Entscheidungsfindung in einem Verlagsprogramm ist eine ökonomisch und programmatisch verantwortungsvolle Aufgabe, bei der Scouts eine zentrale Rolle als strategische Berater spielen, um Bestseller und literarische Qualität zu identifizieren.
Dieser Einblick in die Verlagslogik (insbesondere im deutschsprachigen Raum) bietet einen praktischen Kontext für Mbougar Sarrs Satire über den Literaturbetrieb. Er erklärt, wie literarischer Erfolg und Auszeichnungen die Entscheidungsfindung beeinflussen.
Réassi Ouabonzi: La part du blogueur (S. 181–187)
Der angebliche „Boom“ der afrikanischen Literatur in Frankreich nach Mbougar Sarrs Goncourt-Gewinn ist trügerisch; wahre Legitimation und Autonomie erfordern den Aufbau eines starken Lesepublikums und kritischer Instanzen auf dem afrikanischen Kontinent selbst.
Ouabonzis Perspektive (als Blogger) stellt eine außerakademische und praxisorientierte Ergänzung dar, die die strukturellen und ökonomischen Probleme der afrikanischen Literatur außerhalb der Pariser Zentren thematisiert. Sie erweitert die Kritik an der „République des lettres“ um die Dimension der Zugänglichkeit und des lokalen Lesens.
Raphaël Thierry: Une boussole pour mieux s’orienter au milieu des livres (S. 347–353)
Die Arbeit des Literaturagenten ist ein Ringen zwischen dem Sog des Pariser Zentralismus (Goncourt-Effekt) und dem Ziel, dezentrale Wege zur Förderung der Bibliodiversität zu finden und afrikanische Autoren in die „lange Zeit der Literatur“ zu überführen.
Thierrys Bericht als Literaturagent, der Mbougar Sarrs frühe Werke vermarktete, liefert konkrete Beweise für die Ambivalenz des Goncourt-Preises: Er beschleunigt die internationale Verbreitung, zementiert aber gleichzeitig Paris als zentrales Nadelöhr. Dies ist eine wesentliche Ergänzung zur akademischen Kritik an der „République mondiale des lettres“.
Desiderate
Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr beleuchtet nicht nur das Werk des Autors umfassend, sondern identifiziert implizit und explizit mehrere Forschungsdesiderate für nachfolgende Arbeiten, insbesondere in Bezug auf die strukturellen Bedingungen der afrikanischen Literatur und die ästhetische Tiefe der Texte von Mbougar Sarr.
Institutionelle und sozioökonomische Desiderate
Die strukturelle und institutionelle Problematik der afrikanischen Literatur im Kontext der „République mondiale des lettres “ wird als zentraler Mangel identifiziert, der weiterer Forschung bedarf:
Das wohl wichtigste Desiderat betrifft die enge Bindung der afrikanischen Literatur an den Pariser Literaturbetrieb und die damit verbundene Schwäche des afrikanischen Buchmarktes. Es wird die Forderung erhoben, dass nachfolgende Arbeiten untersuchen müssen, wie die Literatur Afrikas autonom werden kann, indem ein starkes Lesepublikum, eine lokale Kritik und belastbare Instanzen der Legitimation auf dem afrikanischen Kontinent selbst aufgebaut werden.
Es bleibt zu untersuchen, wie dem Zentralismus von Paris entkommen und redaktionelle Diversität gefördert werden kann. Das Ziel ist es, alternative Wege der Übersetzung zu finden, um Werke aus „anderen Zentren“ heraus zu verlegen, die nicht systemisch in die Marginalität abgedrängt werden.
Die literarische Agentur fragt, wie Werke aus der „editorialen Dringlichkeit“ befreit und in den „langen Zeitraum der Literatur“ („temps long de la littérature“) überführt werden können, um nicht nur vom kurzfristigen Erfolg wie dem Goncourt-Preis abhängig zu sein.
Oana Panaïté kritisiert die „weiße Geschichte der Literatur“ („histoire littéraire (blanche)“) und fordert, dass zukünftige Kritik die Rassifizierung der Literatur im französischen Raum stärker berücksichtigen und die Mechanismen analysieren muss, welche die strukturelle Marginalisierung von nicht-weißen Autoren aufrechterhalten.
Ästhetische und theoretische Desiderate
Obwohl der Band bereits gründliche ästhetische Analysen bietet, ergeben sich neue theoretische Ansätze, die vertieft werden müssen:
Es besteht ein Forschungsdesiderat, Mbougar Sarrs Werk stärker im Hinblick auf seine materiellen und ideologischen Zwänge zu analysieren, anstatt die Freiheit der Kunst überzubetonen. Eine soziologische Lektüre soll die Gefahr vermeiden, Mbougar Sarrs Themen durch eine zu starke Ästhetisierung zu verharmlosen, wie Panaïté es als Risiko der „Ästheten-Position“ sieht.
Die Einführung des Konzepts des „enchevêtrement“ (Verschränkung) als Topologie zur Beschreibung von Mbougar Sarrs Ästhetik, die die Koexistenz heterogener Welten betont, erfordert weitere Anwendung und Ausdifferenzierung über die bisherige Analyse hinaus.
Für Romane wie Silence du chœur ist eine vertiefende Funktionsanalyse der verschiedenen verwendeten Textgattungen (Reisebericht, Zeitungsartikel, Theaterstück) notwendig, um deren Beitrag zur Übertragung des Migrations- und Traumaerlebnisses besser zu verstehen.
Es wird auf das wiederkehrende Motiv der Musik in Mbougar Sarrs gesamtem Werk hingewiesen (z. B. Super Diamono, Tango, Niani). Eine umfassende intertextuelle Untersuchung der Musik und ihrer Funktion als Kommunikationsform, die neue Gemeinschaften schafft und Widerstand leistet („intermélodicité ‘récituelle’“), wird als offene Aufgabe angedeutet.
Obwohl Mazauric Männlichkeiten in den ersten drei Romanen analysiert, wird im Gespräch über Silence du chœur die Notwendigkeit angedeutet, eine tiefergehende, umfassendere Gender-Analyse auch der weiblichen Charaktere durchzuführen, die in ihrer Komplexität innerhalb der polyphonen Struktur nicht immer leicht zu unterscheiden sind.
Gesamtsicht auf den Sammelband
Der Sammelband Le Labyrinthe littéraire de Mohamed Mbougar Sarr ist eine notwendige Ressource für die Rezeption des Autors. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber haben es erfolgreich geschafft, die zentralen ästhetischen und politischen Spannungsfelder im Werk des Autors aufzugreifen.
Gefahr der Intentionalitätsfalle
Obwohl der Band Mbougar Sarrs metareflexive Strategien hervorragend analysiert, könnte der starke Fokus auf La plus secrète Mémoire des hommes (aus verständlichen Gründen des Goncourt-Erfolgs) die Gefahr bergen, Mbougar Sarrs gesamtes Werk zu stark aus der Perspektive des späteren Romans zu lesen. Die Thesen von Autoren wie Burnautzki und Brueton, die Mbougar Sarrs Roman als philosophisch-poetologischen Kommentar lesen, könnten die Rezeption in eine rein ästhetizistische Richtung lenken, was der dekolonialen Kritik Panaïtés entgegenläuft, die vor der Gefahr warnt, materielle und ideologische Zwänge zugunsten der „Freiheit der Kunst“ auszublenden.
Multiperspektivität und Vielstimmigkeit
Die große Stärke des Bandes liegt in seiner echten Multiperspektivität, die nicht nur akademische Stimmen (Germanistik, Romanistik, Literaturtheorie) vereint, sondern auch entscheidende Akteure des Literaturbetriebs – den Autor selbst, den Blogger, den Scout und den Literaturagenten – zu Wort kommen lässt. Dies ermöglicht eine umfassende Analyse der „Politik der Literatur“ und des Spannungsverhältnisses zwischen dem zentralistischen Sog von Paris und der Notwendigkeit einer Bibliodiversität.
Kritische Verortung
Der Band verortet Mbougar Sarrs Werk erfolgreich an den Schnittstellen globaler Debatten: Nekropolitik und strukturelle Gewalt (Ruhe, Imorou), Queerness und lokale Homophobie (Gehrmann), dekoloniale Ästhetik und Kanonkritik (Brueton, Panaïté, Lévesque-Jalbert) sowie multidirektionale Erinnerung (Montoya). Die Analysen zeigen, dass Mbougar Sarrs Werk die Komplexität des (Un-)Menschlichen („l’inhumain“) und die Ablehnung einfacher Dichotomien betont.
Der Sammelband stellt in der Tat eine Kartographie des Mbougar Sarr’schen Labyrinths dar. Er bietet eine intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Autor, dessen Werk die gesamte literarische Maschinerie — von der Gattungsreflexion über die Kanonbildung bis hin zur Buchökonomie — zum Gegenstand seiner Kunst macht. Die Beiträge liefern nicht nur Lektüren, sondern setzen die vielschichtige Reflexion von Mbougar Sarrs Werk auf akademischer und praxisorientierter Ebene fort.