Fragmente eines Werks: Roland Barthes Handbuch von Angela Oster

Barthes-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Angela Oster, Metzler, 2025.

Dritte Form des Schreibens

Roland Barthes‘ Position konsolidierte sich erst im Laufe der Zeit. Im 21. Jahrhundert ist dieser Rang unumstritten, aber die Universitäten der Gegenwart und ihre Geistes- und Kulturwissenschaften sind nicht mehr die der 1960er und 1970er Jahre. Durch die radikale Neukonzeption des Schreibens („écriture“) als gewählte Haltung (Am Nullpunkt der Literatur) und die programmatische Abschaffung des Autors als Sinn-Garant (Der Tod des Autors) befreite er die Literaturwissenschaft von positivistischen und essentialistischen Dogmen. Barthes’ theoretisches Werk ist selbst Literatur in Kurzform („écriture courte“), die mit Lust und Wollust affektive und körperliche Dimensionen in die Ästhetik einführte (Die Lust am Text). Sein Spätwerk, das sich der Autofiktion und Biographematik widmete (Über mich selbst, Die Vorbereitung des Romans), indem es das Subjekt nicht eliminierte, sondern in seinen fragmentarischen Widersprüchen annahm, lieferte ästhetische und philosophische Argumente für die post-autobiographischen Strömungen der Gegenwart. Barthes revolutionierte nicht nur die Kritik und Theorie in Frankreich, sondern stellte der „auf Leistung und das fertige Produkt ausgerichtete[n] Gesellschaft“ (Resch, Eintrag Nr. 29) ein Credo des Scheiterns und des Begehrens entgegen, das bis heute nachwirkt.

Roland Barthes erfand sich als Autor unentwegt neu und wurde als Literatur- und Kulturwissenschaftler, Philosoph, Semiologe, (Post-)Strukturalist, Soziologe und Ideologiekritiker bezeichnet. Sein Schreiben bedient sich ganz selbstverständlich literarischer Verfahren und muss als solche sprachliche, literarische Form ernst genommen werden muss. Das von Angela Oster herausgegebene Barthes Handbuch: Leben – Werk – Wirkung (Metzler, 2025) ist nicht nur Kompendium, sondern selbst ein literaturtheoretisches Zeugnis, das Barthes‘ Werk in seiner ganzen, oft widersprüchlichen, Fülle zugänglich macht. Barthes’ Beitrag zur französischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts ist dabei kaum zu überschätzen: Er war die zentrale Figur, die die Grenzen zwischen Kritik, Theorie, Essayistik und fiktionalem Schreiben auflöste und damit die literarische Moderne und Postmoderne maßgeblich prägte. Angela Oster positioniert Barthes als „Polygraph“ (eine Bezeichnung, die Barthes selbst für Sartre prägte) und als „Essayist“. Für die Literatur ist diese Rolle entscheidend, da Barthes bewusst die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Schreiben verwischte. Sein Werk forderte, „als sprachliche, als literarische Form ernst genommen zu werden“ (5), da Barthes eine „dritte Form“ oder „dritte Gattung“ des Schreibens anstrebte, die weder eindeutige Wissenschaft noch fiktiver Roman war. Barthes‘ Schreibweise („écriture“) selbst war eine Innovation. Er übernahm Stilistika von Nietzsche, nutzte Neologismen und eine verschachtelte Syntax mit Interjektionen, um das „anders Sprechen“ zu kultivieren. Die Bereitschaft, „sich auf ungewohnte Wege der Erkenntnis zu begeben“, ist notwendig, um Barthes‘ ludischen Umgang mit Texten zu erfassen. Diese ästhetische Haltung, die bewusst „immer wieder sich selbst widersprochen hat“, ist laut Oster ein Schlüssel zur Erschließung seiner Wirkung.

Fragment und Biographematik

Der Totalitätsanspruch eines Handbuchs ist wenig affin zum Werk von Roland Barthes. Viele seiner Analysen fiktionaler und literarischer Texte spiegelten Barthes‘ Bevorzugung für „kleine Schreibweisen“ wider, wie Aphorismen und Essays. Seine späten Texte wie Die Lust am Text und Fragmente einer Sprache der Liebe nutzten das Fragment als explizite Form des Schreibens, um das „Monster der Totalität“ zu bezwingen und eine Geschichte in eine Serie von Figuren zu zerlegen, die alphabetisch und somit dem Zufallsprinzip folgend angeordnet sind. Die Gliederungsstruktur des Barthes Handbuchs selbst ist primär thematisch und systematisch organisiert, anstatt einer streng chronologischen Abfolge zu folgen, um die systematischen Schwerpunkte in Barthes’ Schreiben zu bündeln. Ziel des Handbuchs ist es, einen umfassenden, wenngleich exemplarischen und repräsentativen, Überblick über Barthes zu geben. Die Struktur gliedert sich hauptsächlich in Einträge, die Leben, Werk und Wirkung, einzelnen Büchern und Texten Barthes’ gewidmet sind, beginnend mit Teil I („Roland Barthes: Biographeme“), der in zwei Einleitungskapiteln die Vita Barthes‘ unter synchronen und diachronen Gesichtspunkten behandelt. Teil II beleuchtet die Rezeption und Fortführung von Barthes‘ Werk in verschiedenen Kulturräumen, wobei sich die Unterkapitel auf deutsche, romanisch- und slavischsprachige Gebiete, Asien und Nordamerika konzentrieren. Die Kapitel von Teil III bis Teil XI bieten einen umfangreichen Überblick über Barthes‘ Bücher und Texte als Kritiker, Theoretiker und Wissenschaftler, während der abschließende Teil XII zentrale Denkfiguren Barthes‘ aufgreift, die von „Atopie“ bis „Tragödie“ reichen. Innerhalb dieser Struktur sind Querverweise enthalten, die eine vernetzende Lektüre ermöglichen und Barthes‘ transdisziplinären Ansatz aus mehreren Blickwinkeln beleuchten.

Der achte Teil des Handbuchs, betitelt „Barthes und die Künste“, widmet sich Barthes’ vielfältiger und zutiefst interdisziplinärer Auseinandersetzung mit nicht-literarischen Zeichensystemen. Die Einführung von Angela Oster zu diesem Abschnitt (Nr. 31) stellt klar, dass Barthes’ Verhältnis zu den Künsten von seiner semiologischen Tätigkeit geprägt ist. Anstatt die diffuse „Intermedialität“ zu bemühen, die in Barthes’ Schriften nirgends zu finden sei, operiert das Handbuch mit dem präziseren Konzept der Interartialität, da Barthes stets nach gemeinsamen Fundamenten von Musik, Literatur, Film, Photographie und Bildender Kunst suchte. Barthes betrachtete dabei Töne, Farben und Buchstaben als Zeichensysteme und war stets bemüht, die ästhetische Praxis als eine ‚Körpertechnik‘ zu verstehen, die die Koordination von Sehen, Fingerbewegungen und Hören beinhaltet.

Paul Strohmaier gibt in seinem Beitrag „Fragment“ (Nr. 52) im Teil XII des Handbuchs eine detaillierte Analyse der Rolle des Fragments in Roland Barthes‘ Werk, als eine Strategie seiner écriture. Diese Form erlaubt die Thematisierung und Destruierung von „Ganzheitserwartungen“. In Barthes’ Selbstporträt Über mich selbst (Nr. 27) wird das Fragment als Mittel beschrieben, um „[d]as Monster der Totalität“ zu bezwingen, und die Wahl des Fragments wird als der „Zusammenhanglosigkeit der Ordnung vorzuziehen“ gerechtfertigt. Das Fragment tritt als explizites Strukturmoment besonders in den drei Hauptwerken der 1970er Jahre in Erscheinung: Die Lust am Text, Über mich selbst und Fragmente einer Sprache der Liebe. Jedes dieser Werke kann als Verabschiedung eines spezifischen Ganzheitskonzepts gedeutet werden (Text als Werk, Subjekt als Kohärenz, Liebe als konventionelle Geschichte). Das Fragment dient Barthes als Meistertrope zur Perspektivierung seines eigenen Schreibens. In Über mich selbst bezeichnet Barthes die Gesamtheit seiner Texte als „[d]er Kreis der Fragmente“. Dies impliziert, dass für seine Schriften das Moment des Anfangs („Initialität“) dominiert, während der Wunsch nach einem konkludierenden „letzten Wort“ zurücktritt. Diese diskursive Abdrift rückt die Denkfigur des Fragments in die Nähe der Atopie („Ortlosigkeit“), da es sich als Bruchstück eines Sinns keiner ursprünglichen Ganzheit zuordnen lässt. Schließlich kann das Fragment transitiv als Zielhorizont einer analytischen Praxis gefasst werden, die scheinbar selbstverständliche Sinnganzheiten mittels der Semiologie „einer Fragmentierung unterzieht“. Dies zeige sich bereits in der ideologiekritischen Methode der Mythen des Alltags und in radikaler Form in der Analyse von Balzacs Sarrasine in S/Z. In S/Z zergliederte Barthes den Text in 561 willkürlich abgegrenzte Lexien (sogenannte sekundär erzeugte „Fragmente“), wodurch die Syntagmatik der Erzählung zum Erliegen kommt und die bürgerliche Vorstellungswelt als Sammelsurium heterogener Bestandteile entlarvt wird. Strohmaier schließt mit der Feststellung, dass Fragment und Fragmentierung Barthes als Strategien dienen, um die „Schreibbarkeit“ der eigenen Texte und die „prospektive“ Offenheit zu sichern und gleichzeitig zur „Lesbarkeit“ geronnene kulturelle Artefakte (Literatur, Kultur, Gesellschaft) erneut „schreibbar“ zu machen. Er thematisiert auch Barthes’ selbstreflexive Zweifel, ob das Fragment nicht doch nur eine „besondere List des Imaginären“ sei, da auch das Bruchstück sich letztlich der rhetorischen Kodifizierung nicht entziehe.

Auch zur traditionellen Autobiographie entwickelte Barthes im Spätwerk die „Biographematik“ als Gegenmodell. Angela Oster merkt an, dass es sich bei Werken wie Über mich selbst (roland Barthes par roland barthes) (1975) und Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) nicht um Autobiographien im gattungstypologischen Sinne handelt, sondern um Autofiktionen. Jobst Welge bestätigt, dass der fiktionale Charakter von Über mich selbst vom Originaltitel deutlicher erkannt wird als von der deutschen Übersetzung. Osters beide Einträge in Teil I etablieren die grundlegende Prämisse des Handbuchs, indem sie Barthes’ Leben nicht als statischen Hintergrund, sondern als dynamischen, intratextuellen Prozess begreifen. Gemäß dem Eintrag „1. Vita: Stationen, Diskurse und Zeitgeschehen“ konstituiert sich das Leben durch komplexe Verfahren im Schreiben. Die Leistung des Kapitels liegt darin, die Person „Roland Barthes“ als eine sich verschriftlichende Figur darzustellen und aufzuzeigen, wie biografische Erfahrungen – wie etwa die lange Muße während seiner Tuberkulose-Aufenthalte – die Grundlage für die frühen theoretischen und schriftstellerischen Projekte legten. Das Kapitel „2. Vita Nova: Positionierungen und Konzeptualisierungen“ beleuchtet Barthes’ Hinwendung zur Figur der Vita Nova als Chiffre für eine unablässige Suche nach Neuem, auch im fortgeschrittenen Alter. Barthes’ Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit führte zu der Forderung nach einer „literarischen Bekehrung“ und der Entdeckung einer neuen Schreibpraxis. Diese späte Neukonzeptualisierung, beeinflusst durch den Tod der Mutter und das Erlebnis des „Da-gewesen-seins“, markiert eine Abkehr von der Strenge des literarischen Strukturalismus und dessen „Kälte der Verallgemeinerungen“ hin zu einer Akzeptanz des „biographischen Sternenhaufens“ und der subjektiven Affektivität. Diese Haltung wurde in Barthes’ letzter Vorlesungsreihe Die Vorbereitung des Romans (1978–1980) bestätigt. Barthes bekannte sich zur „Wiederkehr des Autors“ und zu einem Vergnügen an dem „biographischen Sternenhaufen“. Barthes sah im früheren Strukturalismus eine Strenge und „Kälte der Verallgemeinerungen“, die nun einer „Entverdrängung“ des Autors und einer „gewisse[n] ‚psychologische[n]‘ Affektivität“ weichen musste. Barthes akzeptierte die „Manien und Eigenarten“ des schreibenden Subjekts und betonte, dass der Weg des Schreibens („scripturire“) wichtiger sei als das fertige Werk.

Säuseln oder Stammeln

Vergleicht man die Rezeption von Roland Barthes in Deutschland und in der Romania (es gibt keinen gesonderten Eintrag nur zu Frankreich, aber weitere Einträge zur Slavia, zu Amerika und Asien), so war diese in beiden Räumen von Ambivalenz und Verzögerungen geprägt, aber erfuhr zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Gründen eine systematische Anerkennung. In Deutschland wurde eine systematische akademische Auseinandersetzung erst ab den späten 1980er Jahren (im Westen) und verstärkt seit der Jahrtausendwende sichtbar, oft im Zuge der Entgrenzung der Geisteswissenschaften hin zu kulturwissenschaftlichen Zugängen. In Frankreich setzte eine erste große Welle der Forschungsbeiträge bereits ab den späten 1970er Jahren ein, obwohl dies oft in Form selektiver, nicht-inklusiver Studien geschah, um sein Werk einem besseren allgemeinen Verständnis zuzuführen. Laut „3. Barthes in Deutschland“ von Sandra Fluhrer wurde die akademische Rezeption Barthes’ in Deutschland zunächst durch einen „bedenklichen Konservatismus“ behindert, was dazu führte, dass die Auseinandersetzung lange Zeit am Rande der Universitäten stattfand. Barthes‘ literarisch-essayistischer Stil galt zunächst als hinderlich für eine dezidiert akademische Auseinandersetzung, obwohl sein Buch Mythen des Alltags ab 1964 zum Kultbuch avancierte und Impulse für politische Diskurse und lustvolle Theorielektüren lieferte. Eine wichtige Leistung des Eintrags ist es, die konträre Entwicklung in Ost- und Westdeutschland aufzuzeigen: Während Barthes im Westen lange feuilletonistisch rezipiert wurde, war er in der DDR bereits früh Gegenstand systematischer, wenn auch ideologisch-kritischer wissenschaftlicher Studien. Der Eintrag „4. Barthes in der Romania“ von David Klein argumentiert, dass die Rezeption Barthes’ in der Romania, insbesondere in Frankreich, aufgrund der thematischen und konzeptionellen Vielfalt seines Werkes kaum einheitlich fassbar ist. Ein zentrales Argument ist die enge Verflechtung der Rezeption mit der öffentlichen Perzeption der Autorenfigur Barthes, zumal dieser „freiwillig oder unfreiwillig die ein oder andere Kontroverse angestoßen hat“. Der Eintrag leistet für das Verständnis der Rezeptionsgeschichte die wichtige Differenzierung, dass die französische Forschung ab den späten 1970er Jahren in verschiedenen Zyklen verlief und Barthes‘ Werk zunehmend selektiv für moralische, ethische oder philosophische Fragestellungen herangezogen wurde, anstatt es umfassend systematisch zu erschließen.

Barthes kam erst verspätet im intellektuellen Feld Frankreichs an, das sich nach der Vorherrschaft des Existenzialismus neu formierte. Er galt als „enfant terrible der traditionellen Philologie“ und Doyen der Modernität. Seine Kritik an der traditionellen Literaturwissenschaft, insbesondere durch seine Racine-Forschungen (Sur Racine, 1963), löste eine umfassende Empörung und die sogenannte „Anti-Barthes-Kampagne“ aus. Barthes nutzte seine marginale Position an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) – eine Alternative zur Sorbonne – um eine Polemik gegen die etablierte, positivistisch geprägte Literaturwissenschaft loszutreten. Spätestens seit den 1970er Jahren stand Barthes als wichtige intellektuelle Figur im Fokus der Beobachtung, wobei sich die Rezeption seines Werks in Frankreich nur schwer von der öffentlichen Perzeption seiner Autorenfigur trennen ließ, die freiwillig oder unfreiwillig Kontroversen auslöste. In den 1970er Jahren wurde er immer mehr zur Medienfigur, was sich auch in der medialen Resonanz seiner Antrittsvorlesung am Collège de France zeigte. In seiner Antrittsvorlesung Lektion (1977), die den Höhepunkt seiner akademischen Karriere markierte, entwarf Barthes das Projekt einer Semiologie, die sich dezidiert in einem Raum außerhalb der Macht („hors-pouvoir“) verortet. Er nutzte seine Position am Collège de France, um die Macht der Sprache selbst zu thematisieren, die er sogar mit „Faschismus“ verglich. Barthes war von der Dekonstruktion im Umfeld der Zeitschrift Tel Quel inspiriert und wurde zeitweise als Avantgarde-Verfechter angesehen. Dennoch äußerte er im Laufe der Zeit Skepsis gegenüber der Avantgarde, die er zunehmend als den „leicht überschwänglichen, leicht exzentrischen Teil der bürgerlichen Armee“ einstufte. Er bekennt sich zum „Klassizismus“ seiner Subjektivität, obwohl er von der Dekonstruktion inspiriert war. Seine Berufung an das renommierte Collège de France im Jahr 1976 verdankte er den Fürsprachen von Naturwissenschaftlern, Historikern und Ethnologen (wie Michel Foucault und Claude Lévi-Strauss), und nicht primär den Geisteswissenschaftlern. Barthes’ Tätigkeit lässt sich am ehesten als die eines Literatursemiologen bezeichnen.

Barthes definiert „Rauschen“ („bruissement“) als metaphorischen Ausdruck für alles, was die Botschaft „unrein“ oder „rau“ macht, wodurch es sich von idealisierten, „glatten“ Sinnstrukturen abgrenzt. Er interpretiert das Rauschen als ein begrüßenswertes „Säuseln des Sinns“, das dem „Gestammel“ des ergebnisorientierten und sich selbst verstärkenden Diskurses entgegensteht. Das Konzept des Rauschens dient Barthes als Strategie, um sich den „faschistoiden“ Tendenzen der Sprache zu entziehen, indem er die literarische, raunende Schreibweise der epistemologischen Erklärung vorzieht und auf die „Machenschaften des Sinns“ pocht.

Pervertere und Doxa

„Fragmente einer Sprache der Liebe (Fragments d’un discours amoureux)“ (1977) präsentieren in 80 alphabetisch angeordneten „Figuren“ die schmerzhafte und schillernde Sprache des Liebenden in Aktion, wobei das alphabetische Prinzip die Linearität einer Liebesgeschichte methodisch unterbindet. Barthes vermeidet es nach Angela Osters Eintrag bewusst, den Geschlechtsunterschied des Geliebten zu betonen, wodurch er die schöpferische und oft ambivalente Natur des Liebesdiskurses aus subjektiver Perspektive darstellt. Das Werk dient als paradigmatisches Beispiel für Barthes’ späte fragmentarische Poetik und seine Hinwendung zu einem Schreiben, das das eigene subjektive Begehren jenseits der Doxa aufruft.

Barthes‘ Homosexualität ist ein zentrales Biographem, das untrennbar mit seinem Schreiben und seinen theoretischen Konzepten, insbesondere den „Queer-Texten“, verbunden ist. Barthes war sich seiner Homosexualität schon in jungen Jahren bewusst. Die daraus resultierende, sowohl objektiv gegebene als auch subjektiv empfundene „notorisch[e] Abweisung“ wurde zu einem lebenslangen Motiv. Die grundlegend homoerotische Lebensweise Barthes bot eine stimulierende Vitalität, die im Kontrast zu seinem heteronormativen kollegialen Umfeld stand. Barthes musste sein „Doppelleben“ als Resultat von Repressalien führen (Strafverfolgung, berufliche Nachteile, körperliche Gewalt), denen nicht-heteronormative Menschen im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren. Er nutzte die Erfahrung der Homosexualität als Teil des Konzepts der „Perversion“, die er im lateinischen Sinne von pervertere als „umstürzlerisches ‚Sich-gegen-den-Strich‘-Verhalten“ definierte. Im Eintrag „Die Göttin H.“ in Über mich selbst (vgl. Jobst Welge, Eintrag Nr. 27) fasst er die Lust an der Perversion (Homosexualität und Haschisch) als etwas, das „ganz einfach glücklich macht“ und ein „Mehr“ an Empfindsamkeit und Wahrnehmungen erzeugt. Dieses „Mehr“ stellt den „Text des Lebens, das Leben als Text“ dar. Die „grundlegend homoerotische Lebensweise“ und die sexuelle Dimension seines Schreibens (Lust und Wollust) stellen Barthes’ „perverses Neutrum“ dar, das „gegen den Strich“ argumentiert und die binäre Ordnung der Geschlechter unterläuft. Das Linkische („Gauche“) ist eng mit der Homosexualität verbunden, da es sich von strikten binären Oppositionen abwendet. Graham Allen argumentiert, Barthes‘ Schreiben sei hinsichtlich seiner Homosexualität ein gutes Beispiel für das von ihm angestrebte „neutrale Schreiben“. Abgesehen von privaten Tagebüchern wie Incidents (Vgl. Eintrag Nr. 30 von Andreas Mahler) schreibt Barthes nie ausdrücklich als schwuler Mann, aber seine Homosexualität „schwingt […] in vielen seiner wichtigsten Texte mit und hallt in ihnen nach“. Eintrag Nr. 30 widmet sich explizit Barthes’ postum veröffentlichten privaten Reisenotizen und tagebuchähnlichen Einträgen, die durch homosexuelle Erlebnisse geprägt sind. Die Texte sind jedoch keine lüsternen Erlebnisberichte, sondern „queere Texte“, die den (homo-)sexuellen Akt chiffrieren, anstatt ihn zu beschreiben oder zu erzählen. Sie inszenieren die „neutrale Inzidenz einer hedonistischen Lust“. Das Kapitel thematisiert auch die Kritik, Barthes sei „zeitlebens der kleinbürgerliche, heimliche Homosexuelle“ geblieben, und stellt dieser die Würdigung seines Beitrags zur „queeren Literaturwissenschaft“ entgegen.

Eintrag Nr. 71, „Queer“, identifiziert Barthes als Vordenker der Queer Theory. Es untersucht queere Motive in fünf Hauptwerken (Mythen des Alltags, Die Sprache der Mode, S/Z, Das Reich der Zeichen, Fragmente einer Sprache der Liebe). Die Rekonstruktion des erotischen Begehrens in Fragmente einer Sprache der Liebe (Artikel Nr. 24) widersteht der heteronormativen Prämisse und enthält zahlreiche Beispiele für die Liebe zwischen Männern (Platon, Chateaubriand, Proust). Andreas Kraß argumentiert, Barthes’ Methodik des Queer Reading avant la lettre, insbesondere durch die Unterscheidung von „plaisir“ (Lust) und „jouissance“ (Wollust), ziele auf die Erschütterung der „historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers“. In Eintrag Nr. 24 „Fragmente einer Sprache der Liebe“ wird die prekäre Frage der autobiografischen Interpretation angesprochen, die versucht, eine dominant homoerotische Ausrichtung zu erkennen (in Bezug auf Roland Havas). Barthes legte jedoch Wert darauf, dass das „verliebte Subjekt“ und das „geliebte Objekt“ nicht wesentlich durch ihr Geschlecht bestimmt seien. Das Kapitel verweist auf Barthes‘ Wunsch, das „verliebte Subjekt“ als atopisch zu begreifen, d.h. nicht festlegbar durch Stereotypen.

Angela Osters Eintrag „Atopie“ erläutert eine Denkfigur Barthes‘, die das Unklassifizierbare und Unbeholfene bezeichnet und eine Abkehr von der Rhetorik der festen, dogmatischen Positionen markiert. Die Atopie fungiert als Modus der Bewegung und des „Driftens“, welche die Stereotypen nicht negiert, sondern sie in eine unendliche, nicht-dialektische Bewegung versetzt, und ist eng mit dem Konzept des Linkischen („Gauche“) verwandt. Das Konzept ermöglicht Barthes die Klärung seiner „individuelle[n] Art der Präsenz in den Kämpfen seiner Zeit“, indem es eine gesellschaftliche Relevanz der Schreibpraxis jenseits politischer Affirmation ermöglicht.

Teil IX des Handbuchs widmet sich Barthes’ Reflexionen über das Zusammenleben (Comment vivre ensemble) und die Etablierung einer Ethik jenseits binärer Dogmen, wie in der „Einführung: Dialog und Ethik“ (Artikel Nr. 37) angelegt. Der Kern dieses Teils liegt in der Analyse der ersten Vorlesungsreihe Barthes’ am Collège de France, „Wie zusammen leben (Comment vivre ensemble)“ (Nr. 38). Barthes interessiert sich hier nicht für die Frage der Möglichkeit des Zusammenlebens, sondern für die Figuren und Modi desselben, ausgehend von seinem „Phantasma“ der Idiorrhythmie. Diese mittlere, utopische, paradiesische, idyllische Form wird als Alternative zur klösterlichen Gemeinschaft (Zönobitismus) und zum Einsiedlertum (Anachorese) diskutiert und ist gekennzeichnet durch das „wiederkehrende Begehren“, Bilder, die sich beim Auftreffen auf ein bestimmtes Wort auskristallisieren. Barthes nutzt eine „Nicht-Methode“ und strukturiert den Durchgang alphabetisch, um die „unerträgliche Markierung des zur Schau gestellten Sinns“ und thematische Determinismen zu umgehen.

Bürgerlichkeit und Atopie

Für Barthes ist der Gegensatz zwischen Bürgerlichkeit und Antibürgerlichkeit nicht primär eine Frage der politischen oder sozioökonomischen Zugehörigkeit, sondern ein tiefgreifender, semiologischer und ethischer Konflikt. Bürgerlichkeit („Bourgeoisie“), insbesondere das Kleinbürgertum, ist für Barthes der zentrale Gegenstand seiner Ideologiekritik. Im Gegensatz zur Arbeiterklasse, die sich in ihrem Namen benennen kann, definiert sich die Bourgeoisie dadurch, dass sie als ideologisches Faktum verschwindet und sich umfassend verallgemeinert. Barthes argumentiert, dass die bürgerliche Kultur, die durch eine bestimmte Eigentumsverfassung und politische Ordnung geprägt ist, eine Totalität darstellt, die das Alltagsleben durchdringt. Die Bourgeoisie tarnt ihre historisch partikularen Verhältnisse als universelle Natur. Dies geschieht durch Mythologisierung, ein sekundäres semiologisches System, das kontingente gesellschaftliche Inhalte in ein „System von Tatsachen“ überführt. Das Ziel dieses Mythos ist konservativ: Er möchte die Welt unbeweglich machen. Die bürgerliche Denkweise manifestiert sich in der Doxa (der Gesamtheit der unhinterfragten gesellschaftlichen Meinungen) und der Dummheit („bêtise“). Barthes sieht die bürgerliche Sprache als totalitär an; er bezeichnet eine solche Sprache als faschistisch, weil ihre Strukturen das Subjekt zur Unterwerfung und zum Sagen zwingen und ihm jegliche Individualität rauben. Die bürgerliche Realismus-Schreibweise des 19. Jahrhunderts ist weit davon entfernt, neutral zu sein, sondern „beladen mit den sichtbarsten Zeichen der Fabrizierung“.

Der Widerstand gegen diese bürgerliche Totalität ist für Barthes ein lebenslanger roter Faden seines Denkens. Antibürgerlichkeit ist für ihn keine laute politische Opposition (wie im Stil eines Sartre), sondern eine Strategie der Subversion durch die Wahl der Form und der Haltung. Wahre revolutionäre Strategien zielen auf die „Erfindung (nicht die Provokation)“ eines paradoxen Diskurses, der frei von jeder Doxa ist. Barthes fordert eine „Verantwortung der Formen“. Die Wahl der Schreibweise („écriture“) ist ein soziales Zeichen und Ausdruck des Widerstands, das soziale Machtverhältnisse infrage stellt, indem es deren Naturalisierung verweigert. Barthes stellt sich gegen das „Gespenst der Totalität“, das fordert, alles, was mit der Bourgeoisie verbunden ist, en bloc zu verurteilen. Stattdessen sucht er nach „Reizen […] der bürgerlichen Lebenskunst“ und öffnet sein Denken für die Komplexität und die Widersprüche. Die antibürgerliche Haltung findet ihre konkrete Ausprägung im Konzept des Neutrums, das versucht, binäre Oppositionen und das gewaltsame Entweder-Oder der Doxa aufzuheben. Eng verwandt ist die Atopie (Ortlosigkeit), die eine „ästhetische Notwehr“ gegen die „unerträglich empfundenen banalen Topoi“ der postmodernen Gegenwart darstellt. Die atopische Haltung entzieht sich der politischen Zwangspositionierung und zielt auf die „Suspension“ der Äußerung.

Barthes’ Haltung ist durch eine ständige Dialektik der Widersprüche gekennzeichnet, bei der die Gegensätze nicht zu einer Synthese geführt, sondern verschoben werden. Barthes erkannte, dass die Ideologiekritik selbst zur Phrase und damit zur neuen Doxa (oder „Vulgata“) gerinnen kann. Er kritisierte selbst, dass der Mythenanalytiker zwar keine Ideologie, aber Ideologismus produziere. Dies führte ihn zur Selbstmythisierung seiner Mythologie und zur Überwindung der hierarchischen Doppelstruktur von Signifikat (Ideologie) und Signifikant (kulturelles Phänomen). Die Fragmentierung als antibürgerliche Strategie dient dazu, „[d]as Monster der Totalität“ zu besiegen. Das Fragment ist atopisch, ein „Bruchstück eines Sinns“, das jeder festen Zuordnung entzogen ist. Der Ausweg aus der bürgerlichen Ideosphäre liegt in „Tricks“ und einem „listig[en] Umgang mit der Sprache“. Dies manifestiert sich in Barthes‘ Auffassung, dass seine semiologische Tätigkeit ein lustvolles Spiel war, ein kreativer Rausch, der die Systematik lediglich als „arbiträre Klassifikation“ nutzte, um Sinn zu erzeugen und ihn anschließend „abdriften“ zu lassen.

Entwicklungen eines Werks

Barthes‘ Semiologie ist die Wissenschaft von allen kulturellen Zeichen und durchlief drei Phasen: erstens die ideologiekritische Analyse der Macht in der Sprache, zweitens die „wissenschaftliche“ Phase der systematischen Strukturanalyse (z.B. der Mode), und drittens die poststrukturalistische Phase des „Textes“. Die semiologische Praxis verfolgte nach Marie Schröers Eintrag „Semiologie“ stets das Ziel, die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände und die Alltagsaktivität des Zeichenlesens verständlich zu machen, wobei Barthes sich bewusst als „bricoleur“ (Bastler) verstand, der Systeme aus Lust baut und deren Flüchtigkeit akzeptiert. Durch den späteren Fokus auf den „Text“ und die dynamische Bedeutungsproduktion distanzierte sich Barthes vom starren strukturalistischen Modell und betonte die aktive Rolle der Lesenden.

Die Gründungstexte der literarischen Moderne (1950er Jahre)

Laut Melanie Reicherts Eintrag „Kritik“ definiert Barthes Kritik als eine Tätigkeit, die den Text „zerschneidet“ und dessen Teile neu auf ein „neues Intelligibles“ hinordnet, was der mittelalterlichen Rolle des compilator und commentator ähnelt. Die Kritik ist keine Wissenschaft, sondern eine kreative Disziplin, die zwischen Wissenschaft und Lektüre steht; ihre Leistung besteht darin, dem als offen betrachteten Werk eine Bedeutung zu geben und dies in einer reflektierten, institutionalisierten Schreibweise darzustellen. Indem Barthes die Involviertheit des Kritikers zum Gestaltungsprinzip erhebt und die kritische Redeweise des Kritikers zur „Redeweise des Autors hinzufügt,“ mobilisiert er das Werk, ohne dessen Bedeutung endgültig festlegen zu wollen.

Barthes’ frühe Schriften stellen bereits einen großen Wurf dar und konfrontierten die französische Literaturszene direkt mit der Frage nach dem Zweck und der Form des Schreibens. Mit Am Nullpunkt der Literatur (Le degré zéro de l’écriture, 1953, vgl. Jobst Welges Eintrag) lieferte Barthes das poetologische Programm für die Kritik der „littérature engagée“ von Jean-Paul Sartre. Barthes verlagerte die Idee des Engagements vom Inhalt auf die Form des Textes. Jobst Welge (79) hebt hervor, dass Barthes die Schreibweise („écriture“) von der Sprache („langue“) und dem Stil („style“) unterschied. „Écriture“ war für ihn die „Affirmation eines bestimmten Wertes“ und eine „Wahl einer menschlichen Verhaltensweise“ (Barthes, zit. nach Zanetti). Barthes verortete die Schwelle der Moderne in der französischen Literatur bei Flaubert (nach 1848), der die „unmögliche Literatur“ suchte, und sah in Albert Camus’ Der Fremde ein Exempel der „neutralen Schreibweise“ („écriture blanche“), die „von aller Unterwerfung unter eine gekennzeichnete Ordnung der Sprache befreit“ ist (Barthes 2006, zit. nach Welge). Damit lieferte Barthes einen neuen historischen Rahmen für die Interpretation des Romans. Die Mythen des Alltags (1957, vgl. Björn Weyand) wurden zu einem „Kultbuch der sechziger und siebziger Jahre“ (Lethen, zit. nach Fluhrer) und etablierten Barthes als zentralen Ideologiekritiker Frankreichs. Barthes analysierte die Mythen als parasitäre kommunikative Verfahren, die eine primäre Bedeutungskette (Denotation) ausbeuten, um eine mythische Aussage (Konnotation/Mythos) zu reduzieren. Die Arbeit des Historikers Michelet, dem Barthes 1954 ein Buch widmete (Michelet par lui-même), blieb Barthes’ „geheimer Kern“ (Thomas, zit. nach Meyzaud) und diente ihm als Vorbild für eine „Ethnologie Frankreichs“, die sich von der Chronologie entfernt.

Strukturalismus, Autorkritik und der Text als Gewebe (1960er Jahre)

In den 1960er Jahren avancierte Barthes zum führenden Theoretiker des französischen Strukturalismus, wobei er diesen sogleich überwand. Barthes’ wichtigster Beitrag zur literarischen Theorie weltweit und in Frankreich war Der Tod des Autors (1967, vgl. Anne-Kathrin Reulecke). Reulecke (127) beschreibt den Essay als einen Text mit einem „kulturrevolutionären und beinahe polemischen Duktus“, der die Absetzung des Autors als sinnstiftende Instanz zugunsten der Leser forderte. Der Autor sei nur ein kulturhistorisch geprägtes Konzept. Barthes verwies darauf, dass „die Schrift („écriture“) jede Stimme, jeden Ursprung zerstört“ (zit. nach Reulecke, 185) und die Literatur der Moderne (Mallarmé, Proust, Valéry) bereits eine „Gleichgültigkeit gegenüber dem Autor als Ursprung“ zeigte. Der Text war grundlegend für die Poststrukturalismus-Debatten in Frankreich und führte zur Forderung: „Die Geburt des Lesers muß mit dem Tod des ‚Autors‘ bezahlt werden“ (zit. nach Reulecke, 193).

Die minutiöse Strukturanalyse von Balzacs Sarrasine in S/Z (1970, vgl. Markus A. Lenz) markiert eine „theoretische Kehrtwende“ (Samoyault, zit. 582) weg von der strukturalistischen Erzähltextanalyse hin zur Pluralisierung des Sinns. Barthes führte die Typologie des Textes in lesbar („lisible“) und schreibbar („scriptible“) ein. Der „texte scriptible“ („schreibbarer Text“) ist der plural-moderne Text, der die Leser zu aktiven „Textproduzenten“ werden lässt und eine „Möglichkeit eines unabschließbaren Weiter-Webens am Text-Sinn“ eröffnet.

Carlo Brunes Eintrag „Klassifizieren“ argumentiert, dass Barthes Klassifikationsverfahren primär spielerisch und strategisch nutzt, um die Zeichenmasse zu ordnen und Denkprozesse zu dynamisieren, anstatt ein objektives System zu postulieren. Er lehnt die teleologische Methode ab und wendet stattdessen „arbiträre Klassifikation“ an, wie die alphabetische Anordnung seiner späten fragmentarischen Texte, um Begriffe von argumentativen Zwängen zu befreien. Durch die Analogie von strukturalistischer Klassifikation zu künstlerischer „Komposition“ entlarvt Barthes den Anspruch auf Objektivität des frühen Strukturalismus und fördert eine produktive, subjektive Form der Zeichenanalyse.

Mit Jan-Henrik Witthaus, Eintrag „Realitätseffekt“, argumentiert Roland Barthes in seinem Essay von 1968, dass scheinbar redundante narrative Details einen „Realitätseffekt“ hervorrufen, der die Illusion des Realen stiftet, indem er die Funktion eines „rohe[n] Referenten“ annimmt, der außerhalb strukturalistischer Logik steht. Die Leistung des Artikels liegt in der kritischen Stigmatisierung dieser Evidenz des „Da-gewesen-seins“, welche die klassische Erzählung zur Geltung bringt. In seinem Spätwerk revidiert Barthes seine kritische Haltung: Er verbindet den Effekt des „Da-gewesen-seins“ positiv mit der ästhetischen Qualität des japanischen Haiku und der Photographie, indem er dem Realitätseffekt eine ontologische Grundierung verleiht.

Die Hinwendung zu Lust, Körper und Autofiktion (1970er Jahre)

Christoph Leitgeb zeigt im Artikel „Das Reich der Zeichen (L’empire des signes)“, wie Barthes in diesem Buch von 1970 Japan stilisiert als eine fiktive, nicht-westliche Alterität, deren Kultur sich einer hermeneutischen Erklärung entzieht, indem er die Beschreibung der Kultur mit der Metasprache der Schrift verbindet. Die zentrale These ist das Fehlen eines „Zentrums“ oder einer „leeren Mitte“ im japanischen Zeichenraum, was Barthes als Gegenmodell zur westlichen Metaphysik der Wahrheit und Bedeutung nutzt. Der Text entzieht sich explizit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Japanologie; er dient vielmehr dazu, Barthes‘ eigene Position als Außenseiter zu profilieren und seine Entdeckung Japans als „Lust am Text“ zu inszenieren.

Reinhold Görlings Eintrag „Körper/Text/Psychoanalyse“ beleuchtet Barthes’ Einsatz psychoanalytischer Konzepte, um die Texttheorie mit dem Körper und dem Begehren zu verbinden, wie in der Figur des „zweifach pervers[en]“ Subjekts, das nach Lust („plaisir“) und Wollust („jouissance“) sucht. Barthes leistet einen Beitrag zur Semiologie, indem er Freuds Modell der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ des Analytikers als Vorbild für das semiologische Zuhören nutzt, um die unbewusste Sprache des Patienten zu erlernen. Die Verknüpfung von Körper, Text und Psychoanalyse dient Barthes dazu, die immer singuläre und prekäre „Strukturation“ des Lebens zu erfassen, die sich der einfachen Sagbarkeit entzieht.

In seiner Spätphase löste sich Barthes von der Strenge des Strukturalismus, um sich dem Körperlichen, Affektiven und Biographischen im Schreiben zu widmen. Mit Die Lust am Text (1973) legte Barthes die „theoretische Grundlegung“ seiner Ästhetik der Lust („plaisir“) und Wollust („jouissance“). Ottmar Ette beschreibt den Band als „lustvollen Lesetext“ und „komplexen Lebenstext zugleich“, der „in seiner Textpraxis semantisch (und erotisch) verdichtete Lebenszeichen produziert“. Die enorme internationale Durchschlagskraft des Buches war auch der Tatsache geschuldet, dass Paris in den 1970er Jahren das „weltweite Zentrum intellektueller Debatten“ war („âge d’or de la théorie parisienne“).

Der Eintrag Nr. 16 von Wolfgang Asholt, der den Teil zu Roland Barthes als Literaturkritiker abschließt, analysiert den Band Sollers écrivain (1979) und bietet damit eine wichtige Bilanz der freundschaftlichen und theoretischen Beziehung zwischen Barthes und der Avantgarde-Bewegung um die Zeitschrift Tel Quel. Der Eintrag zeigt die strategische Bedeutung dieses Bündnisses auf, das im französischen intellektuellen Feld für etwa zehn Jahre dominierte und das Zusammenwirken von literarischer Praxis und kritischem Diskurs betonte. Barthes sah in Sollers’ experimentellem Schreiben (etwa in Drame und H) eine radikale écriture textuelle, die er als Beginn einer neuen, eigentlichen Literatur feierte. Barthes interpretiert Sollers’ unkonventionelle Formen – wie den fragmentarischen Stil, der auf Interpunktion verzichtet – als Verwirklichung des „Traums des Nullpunktes des Diskurses“ und eines „Genusstext[es] eines ‚unendlichen Orgasmus‘“. Somit zeigt Asholts Beitrag, dass Barthes’ Engagement für Sollers’ Werk auch eine letzte, pflichtschuldige Huldigung an die französische Avantgarde war, die zugleich Barthes‘ eigene Ästhetik der Lust am Text und der theoriebegründeten Praxis der Subversion von Sprache und Bedeutung festigte.

Kanon und Kritik

Roland Barthes befasste sich intensiv mit verschiedenen französischen fiktionalen Texten und Autoren. Diese Auseinandersetzung diente oft als Katalysator für seine eigene literaturtheoretische und semiologische Entwicklung, was weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Autorschaft, Text und Kritik hatte. Er schrieb unter anderem über folgende französische fiktionale Texte und Autoren: Barthes widmete Jean Racine eine bedeutende, kontroverse Studie mit dem Titel Sur Racine (1963). Sades Werk war ein zentraler Bestandteil des Bandes Sade, Fourier, Loyola (1971), wobei die zwei Kapitel über den Libertin fast die Hälfte des Textes ausmachen und den Band rahmen. Barthes sah in Sade den privilegierten Ausdruck eines Kernthemas: zeichenhafte Lust. Marcel Prousts Romanwerk À la recherche du temps perdu spielte in Barthes’ späteren Jahren eine überragende Rolle. Barthes bezog sich in seinen postum veröffentlichten Vorlesungen Die Vorbereitung des Romans (1978–1980) intensiv auf Proust und veröffentlichte den Aufsatzband Proust. Aufsätze und Notizen. Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple steht in seinem Text Der Wirklichkeitseffekt (L’effet de réel, 1968) als Beispiel für die schockhafte Funktion des Konkreten. Flaubert wird allgemein als wichtiger Wegbereiter der literarischen Moderne gesehen, der die Ästhetik des Romans gegen die Erstarrungstendenzen des Realismus richtete. Barthes würdigte Philippe Sollers’ experimentelles Schreiben, unter anderem dessen „Roman“ Drame und das Werk H, im Buch Sollers écrivain (1979). Barthes veröffentlichte einflussreiche Kritiken zum Werk Robbe-Grillets, in denen er eine „Poetik des Visuellen“ beschrieb. Er revidierte später seine anfängliche Lektüre in „Le point sur Robbe-Grillet“. Barthes befasste sich mit Queneaus Zazie dans le métro in dem Essay „‚Zazie‘ et la littérature“, in dem er die parodistische Wiederholung des literarischen Mythos analysierte. Albert Camus’ Roman Der Fremde (L’Étranger) gilt Barthes als Endpunkt einer Genealogie literarischer Schreibweisen und als Verkörperung von Am Nullpunkt der Literatur (Le degré zéro de l’écriture).

Barthes’ Engagement mit diesen fiktionalen Texten hatte tiefgreifende theoretische und praktische Konsequenzen für sein eigenes Schreiben und Wirken: Die Auseinandersetzung mit Racine in Sur Racine führte Barthes zu grundlegenden Fragen nach dem Wesen der Literatur und der Funktion der Literaturgeschichte, indem er forderte, nicht mehr den Autor, sondern die Formen der Literatur zu analysieren. Dies präfigurierte programmatisch seinen berühmten Essay Der Tod des Autors (1967), in dem er an die Stelle des Autors den Text und den Leser setzte. Johannes Ungelenk zeigt in „Kritik und Wahrheit (Critique et Vérité)“ (159), wie der Essay von 1966 polemisch gegen die „alte Kritik“ (repräsentiert durch Picard) argumentiert, als eine normative Haltung, die Urteile fällt und ihre eigenen reglementierenden Gebote (wie Objektivität und Klarheit) als unhinterfragbare Evidenzen tarnt. Barthes befürwortet demgegenüber die „neue Kritik,“ die sich durch die wissenschaftliche Erkenntnis der pluralen Sprache legitimiert und das „Recht“ auf eine vom Autor unabhängige, interpretierende „zweite Sprache“ reklamiert. Der Text etabliert eine Trias aus Wissenschaft, Kritik und Lektüre, in der die Kritik als dynamische langage zwischen dem System („langue“) und der singulären Lektüre („parole“) angesiedelt ist, was die hierarchische Symmetrie zwischen Autor und Kritiker suspendiert.

Aporie der Existenz

Der letzte Eintrag in Teil XII des Handbuchs, „Tragödie/Das Tragische“ (Nr. 77), verfasst von Angela Oster, besitzt eine besondere Bedeutung, da er ein umfassendes und fundamentales Konzept in Barthes‘ gesamtem Œuvre beleuchtet und eine verbreitete Fehleinschätzung in der Rezeption korrigiert. Die Argumentation beginnt mit der dezidierten Widerlegung der Aussage von Susan Sontag, Barthes habe „wenig Gespür für das Tragische“ gehabt. Im Gegenteil, so etabliert Oster, besaß Barthes ein untrügliches Gespür für das Tragische und die Tragödie. Die Tragödie wird nicht nur als literarische Gattung, sondern als ein Erfahrungsmodus dargestellt, der sich durch Barthes‘ gesamtes Schreiben zieht: Das Tragische prägte Barthes‘ Denken bereits in seiner Frühphase. Er veröffentlichte einen seiner ersten Texte, „Culture et tragédie“, und schrieb seine akademische Abschlussarbeit (1941) über „Évocations et Incantations dans la tragédie grecque“. Barthes’ Abschlussarbeit kreist um Begriffe wie die Idiorrhythmie (die er in späteren Texten kontinuierlich aufgreift) und wird durch ein Motto von Paul Claudel eingeleitet, das Barthes‘ späteren Fokus auf den Text als agierendes Element vorwegnimmt: „Es ist kein Schauspieler, der spricht, sondern ein Wort, das handelt“. Die Tragödie wird als „Wort-Handlung“ (parole action) verstanden, bei der die Handlung zugunsten einer überdimensionierten Rede gegen Null tendiert, wie Barthes am Beispiel von Racines Bérénice analysiert.

Das Tragische manifestiert sich in Barthes‘ Werk als eine tragische Aporie der Existenz: Es ist das „konstitutiv doppelsinnige Wesen der griechischen Tragödie“, wobei Barthes das ständige Missverstehen als das „Tragische“ definiert. Das Tragische hat eine ethisch-politische Dimension: Barthes vergleicht die kollektive Konfrontation mit der „Nacktheit der Tragödie“ in der Antike, bei der die Zerrissenheit der Ideen im eigenen Leib ausgetragen wird, mit dem modernen, introvertierten Modus der Selbstbezogenheit. Barthes sieht eine „schwache, aber authentische Weiterführung“ dieses kollektiven tragischen Festes der Antike in modernen Sportarten, wie dem Fußballspiel. Die existenzielle Grundlage des Tragischen sieht Barthes in den Maximen La Rochefoucaulds realisiert, die „janusköpfig“ zwischen Tod (der Frage an den stummen Gott: „Wer bin ich?“) und Spiel changieren. Das Tragische ist schließlich eng mit der „Unzeitgemäßheit“ des Schriftstellers verbunden und stellt seine existenzielle Grundlage im marginalen „Zwischenraum“ dar, wobei Barthes betont, „daß das Tragische kein Pessimismus“ ist. Zwischen dem Hohen und dem Niederen eines Werks sucht Barthes ein authentisches Sprechen frei von bloßer Rhetorik, so Oster, und mit Barthes: „ganz einfach die Welt, unsere Welt mit ihren wirklichen Mißständen, ihren Bedürfnissen, ihren Sackgassen und ihrer Aktualität“ (Barthes, „Die Tragödie und das Hohe“, vgl. 522).

Sascha Resch zeigt in „Die Vorbereitung des Romans (La Préparation du roman) und Vita Nova (Vita Nova)“, wie Roland Barthes‘ letzte Vorlesung (1978–1980) sein persönliches Begehren nach einer „literarischen Bekehrung“ reflektiert und seine subjektive Vorstellung eines Romans entwirft, der aus „Fragmenten“ besteht und die unmittelbare Gegenwart erfassen soll. Die Herausforderung, die diskursive Distanz der schriftlichen Äußerung mit der Erregung der erlebten Gegenwart in Einklang zu bringen, versucht er durch die postulierte „Notiz“ und die Analyse des Haiku als „minimaler Äußerungsakt“ zu lösen. Das Projekt und die eng verwandten handschriftlichen Notizen Vita Nova zeigen Barthes‘ Credo, dass nicht das fertige Werk, sondern das Begehren nach der Produktion und die Entdeckung einer neuen Schreibpraxis das eigentliche Ziel des schreibenden Subjekts darstellen.

Eine – doch noch – chronologische Zeittafel zu Roland Barthes Leben und Stationen, ein hilfreiches Werkverzeichnis und ein Personenindex von Angela Oster schließen dieses Handbuch von 541 Seiten über Roland Barthes‘ dezidiert unfertiges Werk ab.


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