Autosoziobiographie als französische Gattung

Autosoziobiographie: Poetik und Politik, hrsg. von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, Metzler, 2022.

Der Sammelband „Autosoziobiographie: Poetik und Politik“, herausgegeben von Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel, widmet sich der Untersuchung einer literarischen Textform, die seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims (Retour à Reims, 2009/2016) eine unübersehbare Konjunktur erlebt. Die Herausgeber verfolgen die Intention, dieses „noch junge Genre“ zu sichten, zu systematisieren und zu reflektieren, um es als relevantes literaturwissenschaftliches Forschungsobjekt zu etablieren und die literarische Form (Poetik) im Kontext ihrer politischen und gesellschaftsanalytischen Ansprüche zu untersuchen. Die Beiträge diskutieren aktuelle autosoziobiographische Texte und ihre literarhistorischen Kontexte unter den drei Schwerpunkten ‚Literarische Epistemologie des Sozialen‘, ‚Zum Politischen der Form‘ und ‚Transition und Narration‘.

Im Kontext von Annie Ernaux, von Didier Eribon und Édouard Louis wurde hier bereits die Gattung diskutiert. Der Begriff der Autosoziobiographie leitet sich von Annie Ernaux ab, die das Adjektiv „auto-socio-biographique“ zur Beschreibung ihrer eigenen Werke verwendete. Die Kategorie beschreibt Texte, die eine autobiografisch grundierte Sozioanalyse des Klassenübergängers leisten und soziologische Praktiken und deren Wissen in sich aufnehmen. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge stellen fest, dass das Genre im deutschsprachigen Raum bisher vor allem Impulse aus der Soziologie erhielt, weshalb der Band die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung forciert.

Die Konjunktur des Genres wird maßgeblich auf den Erfolg von Didier Eribons Rückkehr nach Reims zurückgeführt. Eribon zitierte selbst Pierre Bourdieu und Annie Ernaux, während Édouard Louis ihn als „Gründerfigur“ anerkannte, wodurch die „Trias Ernaux–Eribon–Louis“ im Zentrum der bisherigen Forschung steht. Die Beiträge des Bandes konzentrieren sich stark auf diese französische Traditionslinie, erweitern den Blick jedoch kritisch über diese enge Filiation hinaus auf andere französische Autorinnen und Autoren und den akademischen Kontext.

Annie Ernaux und die literarische Epistemologie des Sozialen

Sarah Carlotta Hechlers Beitrag („Zwischen Autobiographie und Autosozioanalyse“) analysiert die enge Verbindung zwischen Annie Ernaux’ autosoziobiografischen Erzählungen und der Soziologie Pierre Bourdieus. Ernaux positioniert ihr Schreiben zwischen dem „‚persönlichsten‘ Bekenntnis“ und der „objektivierenden Distanz“. Ihre Lektüre von Bourdieus soziologischen Arbeiten, insbesondere Les héritiers und La reproduction, führte bei ihr zu einem „Gefühl der Evidenz“ (sentiment d’évidence) und zur Erkenntnis, dass individuelles Leid in objektivierbaren sozialen Tatsachen begründet sei. Diese Erfahrung beschrieb Ernaux als „Arrachement à soi“ (Sich-selbst-entrissen-Werden) und nutzte sie als Grundlage für ihr Schreibprojekt.

Hechler beleuchtet Ernaux’ Schreibweise, die sie als écriture plate (platte/sachliche Schreibweise) oder écriture de la distance (Schreibweise der Distanz) bezeichnet. Diese Form ist elementar für die Autosoziobiographie und dient Ernaux dazu, jegliche „Verklärung“ der Realität abzulehnen und eine „Komplizenschaft mit dem gebildeten Leser“ zu vermeiden. Ernaux akzeptiert die Feststellung, sie sei „Bourdieu als Roman“, unter der Bedingung, dass Roman durch Literatur ersetzt werde. Hechler arbeitet heraus, dass Ernaux’ Texte Bourdieus Konzepte wie Habitus und symbolische Gewalt nicht nur abstrakt referieren, sondern diese auf einer ästhetisch-affektiven Ebene erfahrbar machen. Im Gegensatz zu Bourdieus Autosozioanalyse, die eine Objektivierung der sozialen Bedingungen der Erfahrung anstrebt, steht bei Ernaux die Erfahrbarmachung sozialer Unterschiede durch das Subjektive im Vordergrund.

Didier Eribon und die Poetik der Rückkehr und Scham

Carolin Amlinger („Literatur als Soziologie“) untersucht die autosoziobiografische Form anhand von Bourdieus Ein soziologischer Selbstversuch (2002) und Eribons Gesellschaft als Urteil (2017). Beide Texte fungieren als „Anti-Autobiographien“ und nutzen die Erzählstimme des Klassenübergängers als „soziologische Methode“, um soziale Erkenntnisse zu generieren und die symbolische Ordnung des Sozialen beschreibbar zu machen. Amlinger betont, dass Eribons Rückkehr nach Reims nicht nur als intellektuelle Intervention, sondern auch als autopoetologische Formarbeit des im Entstehen begriffenen Genres gelesen werden kann. Eribons autobiografische Erzählung bettet seine soziologischen Analysen in einen kollektiven Erfahrungsrahmen ein, der „kulturell marginalisierte […] Gegengedächtnisse“ legitimieren soll.

Eribon thematisiert die Scham (honte) als ein wirkmächtiges Instrument sozialer Unterwerfung und als zentrale Triebkraft seines Schreibens. Amlinger folgert, dass der Wahrheitsgehalt autosoziobiografischen Schreibens bei Eribon weniger in der Objektivierung als vielmehr im „affektiven Durchbrechen“ der Illusion über soziale Subjektwerdung liegt.

Eva Eßlinger („Wechsel ohne Schwelle“) untersucht Eribons Retour à Reims mit einem narratologischen Fokus auf das Motiv der Schwelle und der Transgression. Sie konstatiert, dass Eribons Erzählung trotz des Übergangssujets einen „Wechsel ohne Schwelle“ darstellt, da die szenische Verdichtung des Übertritts (des tatsächlichen oder gedanklichen Zurückkehrens) weitgehend vermieden wird. Stattdessen wird die Ankunft im Herkunftsort Muizon durch soziologische Beschreibung substituiert. Eribon filtert seine individuelle Erfahrung durch „kulturelle, das heißt literarische, theoretische und politische Referenzen“ (darunter Genet, Barthes und Ernaux) und rückversichert sich so in einem intellektuellen Bezugssystem. Eribon selbst beschreibt, dass erst seine Dankesrede in Yale, in der er öffentlich über seine Herkunft sprach, den Anstoß gab, das Buch fertigzustellen, wodurch die intellektuelle Karriere (Yale) das Erzählen der Herkunft (Reims) ermöglicht.

Édouard Louis und die Kollektivität des Serialen

Édouard Louis’ Schriften, wie En finir avec Eddy Bellegueule, dienen als prominente Beispiele für die Konjunktur des Genres. Louis selbst betont die Bedeutung der Lektüre Eribons als transformierendes Erlebnis, das ihn zum Schreiben seines eigenen Lebens befähigte. Louis’ Betonung des Sozialen wird in dem Band ebenfalls hervorgehoben; er fragt, ob die Klasse in Bezug auf den einzelnen „Mann“ betrachtet werden muss oder ob das Genre als Ganzes durch ein Netz von „Serialitäten“ (Louis) funktioniert.

Julika Griem („Klassenziel Einzelwertung?“) greift diese Frage nach dem kollektiven Spielraum auf. Sie analysiert kollektive Schreibexperimente, um die Fokussierung des Genres auf eine einzelne erzählende Stimme zu unterlaufen, die die Diskussion zuletzt dominierte (wie Eribon, Louis).

Der akademische und intersektionale französische Kontext

Philipp Lammers („Die Schulen der Autosoziobiographinnen“) erweitert den Fokus auf Autosoziobiographien von französischen Wissenschaftlerinnen, darunter Michelle Perrot, Mona Ozouf und Rose-Marie Lagrave. Er verortet diese Texte im Kontext der französischen ego-histoire und der universitären Institutionen (EHESS).

Besonders hervorzuheben ist Rose-Marie Lagraves Se ressaisir. Enquête autobiographique d’une transfuge de classe féministe (2021). Lagrave differenziert ihren Ansatz explizit von den Werken Eribons und Louis’ und kritisiert deren „analytische Blindheit“ gegenüber den Effekten des vergeschlechtlichten Habitus bei Bourdieu. Lagrave, die sich als transfuge de classe féministe versteht, weist den „male plot“ der Autosoziobiographen ab, da die Arbeiterklasse historisch mit symbolischem und militantem Kapital ausgestattet sei, was für Frauen oft nicht zutrifft. Sie beschreibt die Institutionen (Familie, Kirche, Schule, Staat) als die eigentlichen Akteure ihres Werdegangs.

Auch Mona Ozoufs Composition française (2009) und Michelle Perrots L’air du temps (1987) werden als Institutionen-Autobiographien interpretiert, die die Rolle der Schule und der Bildungsexpansion in der Nachkriegsgesellschaft reflektieren. Ozoufs Text thematisiert die Spannung zwischen dem Universalismus der Republik (école) und dem Partikularismus der Herkunft (maison). Lammers fasst zusammen, dass diese Autorinnen die Autosoziobiographie als Fortschreibung eines Engagements verstehen und ihre Emancipation eher als generationelle oder historische Einbettung denn als schmerzhaftes Sich-Losreißen beschreiben, was sie von den männlichen „Retours“ unterscheidet.

Christina Ernst („Transclasse und transgenre“) zieht eine weitere wichtige Differenzierungslinie, indem sie die Parallelen zwischen transclasse– und transgenre-Narrativen untersucht, insbesondere Paul B. Preciados Testo Junkie (2008) und Jayrôme C. Robinets Mein Weg … (2019). Diese Texte, obwohl auf Geschlechteridentität fokussiert, nutzen ähnliche autosoziobiografische Schreibweisen zur Ausleuchtung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Preciado bezeichnet seinen Text als „Autotheorie“ und „Körper-essai“, was eine Praxis beschreibt, die Wissen aus der eigenen körperlichen Erfahrung generiert und sie politisiert. Wie Ernaux und Eribon lehnt auch Preciado eine psychoanalytische Lesart ab, da diese die Subjektivität pathologisieren würde. Ernst hebt die Relevanz der gewählten Gemeinschaft (chosen family) hervor, die sowohl für Preciado als auch für Eribon (hinsichtlich der schwulen Subkultur) eine entscheidende Ressource darstellt.

Didier Eribon und Édouard Louis im erweiterten Kontext

Die Bedeutung der französischen Tradition für das Genre wird auch in weiteren Beiträgen aufgegriffen:

Marcus Twellmann („Autosoziobiographie als reisende Form“) betont, dass die Autosoziobiographie eine „übernationale Erscheinung“ ist, auch wenn Ernaux, Eribon und Louis den Eindruck einer nationalen Besonderheit stärken. Er zeigt, dass die französische Debatte selbst durch die Rezeption nicht-französischer Texte (wie Richard Hoggarts The Uses of Literacy) geprägt wurde. Hoggarts Vermittlung durch Passeron und Grignon führte zur Diskussion um Miserabilismus und Populismus, was wiederum Ernaux’ écriture plate als stilistisches Element maßgeblich beeinflusste.

Eva Blome („Formlos“) untersucht Karin Strucks Roman Klassenliebe (1973) als eine prädiskursive Entfaltung des transclasse-Sujets. Blome stellt Strucks unfiltrierte, präteritum-vermeidende Erzählweise des Übergangs in direkten Gegensatz zur retrospektiven und „autoritären Erzählweise“ der aktuellen Autosoziobiographien (wie Eribon).

Sarah Seidel („Ich-Störung“) untersucht Autosoziobiographie als Pathographie, wobei sie Thomas Melles Die Welt im Rücken heranzieht, um die Ich-Störung als potenzielle gesellschaftsstrukturelle Bedrohung für Bildungsaufsteiger zu stilisieren. Sie zieht Parallelen zwischen Melles bipolarer Störung und den transclasse-Texten von Ernaux und Eribon, insbesondere in Bezug auf die Themen Verlust, Scham und die Suche nach Zugehörigkeit.

Zum Gesamtband

Der Sammelband erfüllt die Herausgeberintention, die Autosoziobiographie als Genre systematisch zu erfassen, indem er das französische „Gründungs“-Korpus (Ernaux, Eribon, Louis) einer tiefergehenden literatur- und soziologischen Analyse unterzieht. Er liefert wichtige Differenzierungen, insbesondere die Unterscheidung zwischen Ernaux’ und Bourdieus Ansätzen (Hechler) und die kritische Beleuchtung des „male plot“ durch die Perspektive der Akademikerinnen (Lammers, Ernst). Die Beiträge zeigen auf, dass die zentralen französischen Texte die Poetik des Genres (Formen der Distanz, narrative Introspektion, Fiktionsabwehr, Verwendung von Theorie und Affekt) maßgeblich geprägt haben, aber dass das Genre selbst dynamisch ist und sich sowohl thematisch (transgenre-Narrative) als auch formal (kollektives Schreiben, prädiskursive Formen) weiterentwickelt. Die Auseinandersetzung mit den französischen Autoren und Soziologen bleibt der zentrale Referenzpunkt, anhand dessen die „Autosoziobiographie“ als Epistemologie des Sozialen in ihren poetischen und politischen Dimensionen definiert und diskutiert wird.


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