Der verwaiste Künstlereingang: Patrick Modiano und Christian Mazzalai

Poetik eines Orts und Fortsetzung eines Werks

Das Werk 70 bis, entrée des artistes von Patrick Modiano und Christian Mazzalai ist eine erzählende Untersuchung (récit-enquête), die sich einem einzigen, doch historisch zentralen Ort in Montparnasse widmet: der Adresse 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs. Die Absicht der Autoren ist es, diesen scheinbar vergessenen Ort wieder zum Leben zu erwecken, der einst, vom Zweiten Kaiserreich bis zur Nachkriegszeit, „ein Dorf und ein Zentrum für Künstler“ („un village et un foyer d’artistes“) war. Sie möchten den „seltsamen Zug“ („un curieux cortège“) jener Menschen verfolgen, die seit 1850 dieses Portal durchschritten haben – seien es illustre oder unbekannte Männer und Frauen, Maler, Schriftsteller oder Dichter.

Der Ursprung des Projekts liegt in einem Zufallsfund: einer Kiste mit Dokumenten, Briefen, Fotografien und Presseausschnitten, die in einem Keller entdeckt wurde. Dieses gefundene Archivmaterial wurde zum Rohmaterial für eine Untersuchung, die Patrick Modiano und Christian Mazzalai gemeinsam durchführten. Die Ko-Autorenschaft wird von der Kritik als überraschend und innovativ („Modiano surprend une nouvelle fois“) bewertet. Modiano ist hier nicht der einzige, oft auto-fiktionale Erzähler, der sich in der Dämmerzone seiner unvollständigen Erinnerungen bewegt. Stattdessen tritt Christian Mazzalai als Archivar und Materialfinder in Erscheinung, dessen Entdeckungen die Grundlage für die literarische Arbeit Modianos bilden. Modiano übernimmt die Rolle der poetischen Restitution, indem er das dokumentarische Material literarisch verknüpft und rahmt. Die Zusammenarbeit führt zu einer Entlastung der fiktiven Gedächtnissuche. Modianos traditionelle Methode konzentrierte sich auf die persönliche, auto-fiktionale Amnesie und die Leere der eigenen Erinnerung, wie sie in Werken wie Pedigree oder Honeymoon zentral ist. In 70 bis verschiebt sich der Fokus auf eine kollektive und topografische Amnesie, die durch eine externe, konkrete Archivarbeit behoben werden soll. Die Kooperation ermöglicht es, die Lücke zwischen der oft „leeren“ Erinnerung des Erzählers und dem konkreten historischen Beleg zu überbrücken. Dies bedingt die Verlagerung des Genres hin zum Dokumentarischen.

De soixante ans à sa mort, il vécut dans un hôtel particulier, tout près du bois de Boulogne. Mais du temps de sa jeunesse, il avait dû participer aux fêtes de La Boîte à Thé et y avait sans doute rencontré George Sand. Ou bien entendait-il les éclats de rire qui venaient du jardin ? Un soir d’été, peut-être, le singe Jacques s’était introduit chez lui par une fenêtre entrouverte et avait mangé les pages d’un manuscrit qui traînait sur son bureau. On ne le saura jamais.

Von seinem 60. Lebensjahr bis zu seinem Tod lebte er in einem Herrenhaus in der Nähe des Bois de Boulogne. Aber in seiner Jugend hatte er wohl an den Festen der Boîte à Thé teilgenommen und dort George Sand kennengelernt. Oder hörte er das Gelächter, das aus dem Garten drang? An einem Sommerabend vielleicht war der Affe Jacques durch ein offenes Fenster in sein Haus gelangt und hatte die Seiten eines Manuskripts gefressen, das auf seinem Schreibtisch herumlag. Wir werden es nie erfahren.

Dieser Abschnitt, der sich auf den populären Romanschriftsteller Xavier de Montépin bezieht, ist ein Musterbeispiel für Modianos autopoetologische Verwendung der lückenhaften Geschichte. Anstatt Fakten zu präsentieren, erzeugt der Autor durch die Verwendung von Modalverben und Vermutungen („avait dû participer, y avait sans doute rencontré, peut-être“) eine erzählerische Atmosphäre der Möglichkeit. Die charmante Anekdote, in der der Affe Jacques möglicherweise Manuskriptseiten gefressen hat, wird sofort durch die nüchterne Feststellung beendet: „Man wird es niemals erfahren“ („On ne le saura jamais“). Dies unterstreicht, dass die Wahrheit zurücktritt Gegenüber einem poetischen Potenzial der Lücke.

Denis Cosnard 1 hob explizit die memorielle Dimension des Buches hervor. Es wird bescheinigt Modiano, dass er „ein hochrangiges Zentrum des Montparnasse von einst wiederauferstehen lässt“. Dieses Urteil bestätigt, dass der Ort in Modianos Text über seine reine Adresse hinausgehoben und in den Pantheon des verschwundenen Paris aufgenommen wird. Modianos literarisches Genie liegt nicht primär in der Erfindung neuer Geschichten, sondern in der poetischen Aufwertung und Transzendierung des Gefundenen, des Unvollständigen. Das dokumentarische Material, das Mazzalai lieferte, wirkt als Katalysator, der Modianos Schreibimpuls – die topografisch determinierte Erinnerungssuche – direkt bedient. Die Präzision der Örtlichkeit setzt die in der Nobelpreisrede hervorgehobene Poetik des Ortes konsequent fort.

Ein signifikantes Merkmal des Buches ist seine Materialität. Mit 208 Seiten und 147 Illustrationen weist das Werk ein Text-Bild-Verhältnis auf, das für Modiano, dessen minimalistischer Stil traditionell von der Leerstelle lebt, beispiellos ist. Die Autoren komponieren ein „album de mémoire“, in dem die Illustrationen (Fotos, Briefe, Anzeigen) als materielle Ankerpunkte für die literarische Rekonstruktion fungieren und als „matière première“ dienen. Die Dichte der Bilder stellt die Kritik vor ein interpretatives Paradoxon. Modianos Stärke lag stets in der suggestiven Leerstelle, die das Mysterium der Erinnerung und die Unsicherheit der Identität bewahrte. Eine solche Fülle an Dokumenten könnte theoretisch die Ambivalenz reduzieren. Doch Modianos hüllt mit seinem Text die Dokumente erfolgreich in seinen Schleier der Ambivalenz ein, indem er die Lücken zwischen den Bildern hervorhebt.

La rue Notre-Dame-des-Champs se trouve au cœur du village de Montparnasse. Mais peut-on parler d’un village comme on le dit de Montmartre ? Il n’existe pas, pour le Montparnasse d’il y a deux cents ans, l’équivalent des pages si émouvantes et si élégiaques que Gérard de Nerval a consacrées au Montmartre des années 1840. « Il y a là des moulins, des cabarets et des tonnelles, des élysées champêtres et des ruelles silencieuses… » Alors il faut rêver à ce que pouvait être à la même époque la rue Notre-Dame-des-Champs, qui s’était appelée jadis le « Chemin Herbu ».

Die Rue Notre-Dame-des-Champs befindet sich im Herzen des Dorfes Montparnasse. Aber kann man von einem Dorf sprechen, wie man es von Montmartre sagt? Für das Montparnasse von vor zweihundert Jahren gibt es kein Äquivalent zu den so bewegenden und elegischen Seiten, die Gérard de Nerval dem Montmartre der 1840er Jahre gewidmet hat. „Dort gibt es Mühlen, Kabaretts und Lauben, ländliche Elysées und stille Gassen …” Man muss sich also vorstellen, wie die Rue Notre-Dame-des-Champs, die früher „Chemin Herbu” hieß, zur gleichen Zeit ausgesehen haben könnte.

Das Werk versucht, die von Gérard de Nerval für Montmartre geschaffene „elegische Chronik“ für Montparnasse nachzuliefern, wobei die Bilder die notwendige dokumentarische Basis liefern, die der Vergangenheit des Ortes fehlte. Jérôme Garcin formuliert treffend in seiner Besprechung: „Patrick Modiano hat ein so gutes Gedächtnis und ist so begabt darin, verlorene Zeit wiederzufinden, dass er sich sogar an etwas erinnert, das er gar nicht erlebt hat.“ 2

Patrick Modiano wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, für ein Œuvre, das die Fähigkeit demonstriert hatte, Reste von historischer Dokumentation wie alte Telefonnummern oder Straßenadressen zu nutzen, um der Vergangenheit in der Fiktion eine schwebende Existenz zu verleihen. Seine Poesie des Ortes, in der die Topografie von Paris, insbesondere die melancholische Atmosphäre alter Arbeiterquartiere, Cafés und Boulevards, dient hierbei als Trägerin verlorener Erinnerungen. Modiano ist ein Flaneur, dessen Suche nach verschwundenen Identitäten untrennbar mit der präzisen Geografie der Hauptstadt verbunden ist. Das neue Gemeinschaftswerk Modianos behält die Obsession mit dem Ort bei, versucht aber, die Lücken nicht nur zu poetisieren, sondern zugleich durch archivarische Funde zu füllen. Das Gebäude ist ein Ort, an dem sich Namen kreuzen, die auch in Modianos eigenen Romanen auftauchen, wie der Magier Georges Gurdjieff (den er in Souvenirs dormants erwähnt).

Elles ont été lancées du 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs, de 1901 aux années 1930, tels des signaux de morse. Combien de personnes y ont répondu ? La plaquette or gravé et Dick, le jeune chien fox-terrier à « poil rude », ont-ils été retrouvés depuis tout ce temps ? Comment était l’insigne que portaient les membres du club des cinémaniaques ? Et pourquoi ne pouvait-on voir qu’un seul jour l’exposition des peintures du capitaine Vladimir Perfilieff, artiste et explorateur ? Tant de questions et de petites annonces sans réponses comme cette chaise vide qu’avait photographiée un jour Josef Breitenbach dans le jardin du 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs.

Sie wurden von 1901 bis in die 1930er Jahre aus der Rue Notre-Dame-des-Champs 70 bis wie Morsezeichen verschickt. Wie viele Menschen haben darauf geantwortet? Wurden die gravierte Goldplakette und Dick, der junge Foxterrier mit „rauer Fell“, seitdem wiedergefunden? Wie sah das Abzeichen aus, das die Mitglieder des Filmclubs trugen? Und warum konnte man die Ausstellung mit Gemälden des Künstlers und Forschers Kapitän Vladimir Perfilieff nur an einem einzigen Tag sehen? So viele Fragen und Kleinanzeigen ohne Antworten, wie dieser leere Stuhl, den Josef Breitenbach einst im Garten der Rue Notre-Dame-des-Champs 70 bis fotografiert hatte.

Hier wird die Materialität der Archivarbeit – in diesem Fall Petites annonces – als poetisches Element inszeniert. Die Anzeigen werden mit „Morsezeichen“ verglichen, was ihre fragmentarische und signalhafte Natur betont. Der Autor nutzt diese Fundstücke nicht, um endgültige Antworten zu liefern, sondern um eine Kette unbeantworteter Fragen zu generieren. Die Erzählung kapituliert bewusst vor der Vollständigkeit und endet mit dem Bild des „leeren Stuhls“, einem Symbol für die Abwesenheit, das die ganze Untersuchung motiviert. Die Aufgabe des Autors ist es, diese Fragen zu stellen, nicht sie zu beantworten.

Die Vorgehensweise kombiniert literarische Annäherung mit akribischer Recherche. Christian Mazzalai hat Archive, Fotografien und Kleinanzeigen wiedergefunden, die Modiano nutzt, um „La Boîte à Thé“ und die Ateliers zu rekonstruieren und wiederaufleben zu lassen. Dieser Ansatz ist notwendig, da für das Montparnasse früherer Jahrhunderte kein Äquivalent zu den „bewegenden und elegischen Seiten“ Gérard de Nervals über das Montmartre der 1840er Jahre existiert. Daher, so folgern die Autoren, muss man von diesem Ort, der einst der „Kräuterweg“ (Chemin Herbu) hieß, „träumen“ (rêver). Die Struktur des Buches folgt diesem Zug der Biografien chronologisch und thematisch, beginnend bei Le Singe Jacques und endend bei den letzten dort ansässigen Künstlern, den Garaches. „Dieses traumhafte Zusammentreffen zweier Ästheten hat ein sehr traumhaftes, also ‚modianeskes‘ Buch hervorgebracht“, schreibt Louis-Henri de la Rochefoucauld in seiner Rezension. 3

Die Lektüre von Nathalie Crom in Télérama unterstrich die Kohärenz des Unternehmens mit seinem Gesamtwerk. Demnach ist 70 bis, entrée des artistes keine Abweichung, sondern eine logische Fortführung von Modianos lebenslanger Suche mit neuen Mitteln. Nathalie Crom sieht in der gemeinsamen Untersuchung eine neue Methode, sich der „Rätselhaftigkeit der Gesichter, die man nur kurz kreuzt, der Leben, die kurz aus der Dunkelheit auftauchen, bevor sie dorthin zurückkehren“ zu nähern. 4 Dieser Satz fasst den zentralen Modiano’schen Impuls zusammen: die flüchtigen, unbekannten Figuren vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Das heißt, die Enquête tritt an die Stelle der fiktiven recherche, wobei sie dasselbe Ziel verfolgt. Die Verwendung von gefundenen Fragmenten, wie etwa den „petites annonces retrouvées“, wird als Parallele zu Modianos Umgang mit unsicheren Identitäten und lückenhaften Biografien interpretiert, da diese banalen Dokumente zur Destillation der Atmosphäre eines verlorenen Ortes genutzt werden.

Die Literaturkritik identifiziert das Werk als einen überzeugenden Versuch, Modianos Ästhetik des Verschwindens und der Erinnerungssuche auf ein dokumentarisches Fundament zu stellen. Das hybride récit-enquête nutzt Archivmaterial als Spiegel eines Ortes und seiner flüchtigen Bewohner, anstatt fiktive Figuren über diese Schauplätze wandeln zu lassen. Modianos Kooperation und die Archivarbeit stellen eine faktengestützte Methode darstellen, um die klassischen Obsessionen des Autors – die énigme des visages und die Poesie des verlorenen Paris – zu erforschen. Die Bedeutung von 70 bis, entrée des artistes liegt in seiner Funktion als Manifest für seine Mnemopoetik, die nun explizit auf gefundenes und dokumentiertes Material angewendet wird, anstatt auf die Leere der eigenen Erinnerung zu rekurrieren. Dieser Wandel vom fiktiven Roman zum literarisch veredelten Bericht signalisiert eine evolutionäre Bewegung im Spätwerk nach der Nobelpreisverleihung. Modiano unternimmt eine Selbstreflexion über die Grenzen und Möglichkeiten der Erinnerungsarbeit. Die Zusammenarbeit mit Mazzalai, die die notwendigen physischen Beweise (147 Illustrationen) liefert, befreit Modianos Text von der Notwendigkeit der reinen Erfindung, ermöglicht ihm jedoch, seine poetische Dichte auf die Fragmente der Geschichte zu projizieren. Die Literaturkritik schlussfolgert, dass die Rekonstruktion eines verlorenen Ortes, der Schauplatz unzähliger vergessener Künstlerschicksale war, nur durch die Verschmelzung von harter Archivarbeit und Modianos spezifischer, elegischer rêverie gelingen konnte. Das Werk wird daher als hyper-konsequente Anwendung seiner literarischen Methode bewertet: Es füllt die Lücken der Geschichte mit poetischer Dichte, indem es die Dokumente selbst zu Gegenständen der literarischen Kontemplation macht. Trotz der formalen Abweichung und der Fülle an konkreten Details bestätigt die initiale Literaturkritik, dass 70 bis, entrée des artistes die zentralen Modiano’schen Obsessionen auf innovative Weise fortführt.

Patrick Modiano hält im Interview mit dem Nouvel Observateur fest, dass es zwar auch andere Künstlerorte wie La Ruche in Montparnasse gab, diese jedoch meist über kürzere Zeiträume existierten. Modiano gibt zu, dass er Montparnasse in seiner Jugend (mit 18 oder 19 Jahren) als einen Ort empfand, der eine Art Traurigkeit ausstrahlte, mit Verweisen auf die Rue d’Odessa und Hotelzimmer. Er schreibt Christian Mazzalai zu, dass dieser ihm geholfen habe, „einen anderen Blick“ auf den Ort zu werfen, da Mazzalai nicht durch diese „Geister“ belastet war. Ihn überraschte, dass die Bewohner in erster Linie akademische Maler („peintres pompiers“) waren. Darunter befanden sich viele Ausländer, insbesondere ausländische Frauen (darunter Skandinavierinnen und Amerikanerinnen), die kamen, um in den wenigen für Frauen geöffneten Akademien Malerei zu lernen. Modiano ist der Ansicht, dass dieser Ort schon ab dem Zweiten Kaiserreich das lebendige, kosmopolitische und nachtaktive Montparnasse der 1920er Jahre vorwegnahm. Das Buch durchstreift auch die Geschichte von Paris, darunter die Zeit der Kommune, den Ersten Weltkrieg (mit der Maskenwerkstatt für die gueules cassées, die im 70 bis eingerichtet wurde) und den Zweiten Weltkrieg.

Die Recherche und die Darstellung der Geschichte stellten Modiano nach eigenen Angaben vor große Schwierigkeiten: Das Komplizierteste war es, die Masse an Dokumenten zu sichten und einen fließenden Weg zu finden, die Geschichte all jener zu erzählen, die sich an dieser Adresse über mehr als hundert Jahre hinweg begegneten. Er beschreibt den Ansatz als das Finden von „neuralgischen Punkten“, ähnlich wie bei der Akupunktur. Er betont die Schwierigkeit der Transkription eines sehr seltsamen Dokuments, das sie fanden: ein Typoskript der Witwe des japanischen Malers Tanaka, Louise Gebhard Cann. Dieses Manuskript beschrieb ihre bizarre Beziehung zu einem jungen jüdischen Maler während der Besatzungszeit (1943). Modiano hatte beim Transkribieren das Gefühl, „eine Stimme direkt aus dem Jahr 1943“ zu hören, ähnlich dem Knistern von frühen Edison-Aufnahmen von Brahms. Im Buch erwähnt Modiano den Doktor Ferdière (einen Freund der im 70 bis lebenden Künstlerin Claude Cahun). Ende der 1960er Jahre hatte Modiano diesen Arzt kontaktiert und ihm seinen ersten Roman, La Place de l’étoile, mitgebracht. Ferdière zog daraufhin ein unbekanntes Theaterstück von Robert Desnos mit demselben Titel aus seiner Bibliothek. Dieses Erlebnis war für Modiano ein Schock und löste Gewissensbisse („remords“) aus, da er dachte, er habe Desnos den Titel gestohlen.

Sieben Thesen zur Interpretation von 70 bis

Topografie und historische Schichten: vom Chemin Herbu zum globalen Kunst-Nervenzentrum

Die Adresse 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs spiegelt in seinen Schichten die Transformation von Paris wider. Ursprünglich ein ländlicher Weg (Chemin Herbu), umgeben von Konventen und Feldern, wird dieser Ort unter dem Zweiten Kaiserreich durch den Bau von Ateliers (Émile Toulmouche) und die Gründung des Künstlerzirkels „La Boîte à Thé“ zu einem frühen kulturellen Pol. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelt sich das ländliche Viertel zum „Dorf Montparnasse“, das in den 1920er Jahren seinen Höhepunkt als internationales Zentrum für Avantgarde-Literatur und -Musik erreicht (Pound, Antheil). Das Buch illustriert so, wie die Mikrogeschichte eines einzigen Grundstücks die gesamte Makroentwicklung der Pariser Kunst- und Stadtgeschichte abbildet, einschließlich ihrer späteren Verödung während der „Années noires“.

Curieux Cortège: Berühmtheit, Flüchtigkeit, Vergessen

Das zentrale narrative Prinzip des Buches ist der „seltsame Zug“ (curieux cortège), der die Pforten des 70 bis durchschreitet. Dieser Zug ist durch die Gleichzeitigkeit von historischer Bedeutung und völliger Anonymität gekennzeichnet. Einerseits zogen hier Weltrangpersönlichkeiten wie Picasso, Ezra Pound, James Joyce, Robert Louis Stevenson und der alte Rodin ein. Andererseits bevölkern den Ort Hunderte namenloser oder heute obskurer Figuren: die zahlreichen Maler, die im Annuaire Didot-Bottin von 1894 gelistet sind, aber „für immer im Schatten blieben“, oder die Menschen hinter den rätselhaften Kleinanzeigen, deren Schicksale unbekannt bleiben. Modiano beleuchtet, dass der Ruhm des Montparnasse auf einem breiten Fundament vergessener Existenzen ruht, deren Spuren nur in archivarischen Fragmenten (wie Anzeigen und Adressbucheinträgen) fortleben.

Montparnasse als Laboratorium der Avantgarde

Obwohl die frühe Geschichte des 70 bis von Malern dominiert wurde, diente die Adresse später als entscheidendes Epizentrum für die literarische und musikalische Moderne. Der amerikanische Dichter Ezra Pound bewohnte von 1921 bis 1924 ein Atelier und etablierte es als einen zentralen Treffpunkt für amerikanische Schriftsteller und „Experte[n] für Genies“. Pound beriet Ernest Hemingway darin, seinen Stil prägnanter zu gestalten, und war maßgeblich an der Organisation des skandalösen Konzerts des Ballet mécanique des Avantgarde-Musikers George Antheil beteiligt. Diese Phase zeigt, dass das 70 bis nicht nur eine Ansammlung von Ateliers, sondern ein produktives, intellektuelles Labor war, das die ästhetischen Revolutionen der Zwischenkriegszeit aktiv vorantrieb.

Pound entraîne George Antheil chez un ami qui possède un piano et Antheil lui en joue pendant des heures. Il lui explique que pour lui, « la mélodie n’existe pas », seuls comptent le rythme et l’harmonie. Il a développé ces thèmes et d’autres dans quelques pages qu’il a fait imprimer. Pound lui demande s’il peut lire ces pages et, plus tard, lui apporte un texte qu’il a écrit lui-même, « Antheil and the Theory of Harmony », qu’il compte publier à Paris. Il compte aussi l’aider à organiser un concert. Pound sera donc à l’origine de celui-ci, qui fera scandale : Ballet mécanique pour orchestre, enclumes, hélices d’avion, sonnettes électriques, klaxons de voiture et pianos mécaniques.

Pound nimmt George Antheil mit zu einem Freund, der ein Klavier besitzt, und Antheil spielt ihm stundenlang vor. Er erklärt ihm, dass es für ihn „keine Melodie gibt“, sondern nur Rhythmus und Harmonie zählen. Diese und andere Themen hat er in einigen Seiten ausgearbeitet, die er gedruckt hat. Pound fragt ihn, ob er diese Seiten lesen darf, und bringt ihm später einen Text, den er selbst geschrieben hat, „Antheil and the Theory of Harmony”, den er in Paris veröffentlichen will. Er will ihm auch dabei helfen, ein Konzert zu organisieren. Pound ist also der Initiator dieses Konzerts, das einen Skandal auslöst: Ballet mécanique für Orchester, Ambosse, Flugzeugpropeller, elektrische Klingeln, Autohupen und mechanische Klaviere.

Kosmopolitismus: transnationale Biografien und gesellschaftliche Nonkonformität

Die Adresse war ein kosmopolitischer Schmelztiegel, der weit im Voraus das spätere, globale Montparnasse antizipierte. Künstler kamen aus aller Welt, darunter Skandinavier (Graf Wrangel), Japaner (Yasushi Tanaka), Peruaner und Polinnen. Für viele Ausländer, insbesondere Amerikanerinnen, Afroamerikaner wie Henry Ossawa Tanner und auch den japanischen Maler Tanaka, bot Paris und das 70 bis einen Zufluchtsort vor den rassistischen Vorurteilen, dem Puritanismus und den Verboten (wie den gemischten Ehen in den USA) ihrer Heimatländer. Das Atelier wurde zum Raum der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Diese Thematik wird durch Figuren wie Claude Cahun intensiviert, die im Atelier ein Zuhause fand, in dem sie mit ihrem Erscheinungsbild spielen, Kategorisierungen ablehnen und ein „neutrales Geschlecht“ anstreben konnte.

Le seul point commun avec Ezra Pound : son atelier à elle aussi était un lieu de rencontres pour nombre d’artistes, en particulier des écrivains, attirés par sa forte personnalité. Les deux premières années qu’elle habita au 70 bis, Ezra Pound vivait encore rue Notre-Dame-des-Champs. […] Celles et ceux qui la visitèrent au 70 bis étaient français pour la plupart et membres ou proches du groupe surréaliste : André Breton, René Crevel, Paul Éluard, Georges Bataille, Georges Ribemont-Dessaignes, Benjamin Péret, Max Ernst, Yves Tanguy, René Char, Roger Gilbert-Lecomte, René Daumal… ».

Die einzige Gemeinsamkeit mit Ezra Pound: Auch ihr Atelier war ein Treffpunkt für zahlreiche Künstler, insbesondere Schriftsteller, die von ihrer starken Persönlichkeit angezogen wurden. In den ersten beiden Jahren, in denen sie in der Rue 70 bis wohnte, lebte Ezra Pound noch in der Rue Notre-Dame-des-Champs. […] Diejenigen, die sie in der 70 bis besuchten, waren größtenteils Franzosen und Mitglieder oder Freunde der surrealistischen Gruppe: André Breton, René Crevel, Paul Éluard, Georges Bataille, Georges Ribemont-Dessaignes, Benjamin Péret, Max Ernst, Yves Tanguy, René Char, Roger Gilbert-Lecomte, René Daumal …

Interdependenz von Kunst und Kriegstrauma

Die Geschichte des 70 bis ist untrennbar mit den großen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden und demonstriert die Reaktion der Kunst auf das kollektive Trauma. Während des Sieges von 1870/71 erschufen Künstler, die einst „La Boîte à Thé“ frequentierten, „Schneestatuen“ („statues de neige) der Republik und des Widerstands – ein Zeichen der künstlerischen Mobilisierung in Zeiten der Not. Nach dem Ersten Weltkrieg diente ein Atelier im 70 bis als provisorische Werkstatt der amerikanischen Bildhauerin Anna Coleman Ladd, die Masken für verstümmelte Soldaten anfertigte. Die tiefste Zäsur markierten jedoch die „Années noires“, die Montparnasse „auslöschten und menschenleer“ machten. Das Buch erinnert an tragische Schicksale wie das des Malers Samuel Granowsky („Der Cowboy von Montparnasse“), der 1942 während der Razzia des Vél’d’Hiv verhaftet wurde und in Auschwitz starb. Zugleich diente Kunst auch als Schutz: Louise Gebhard Cann (die Witwe Tanakas) nutzte das japanische Nationalitätszertifikat ihres verstorbenen Mannes, um einem jüdischen Freund während der Besatzung Unterschlupf zu gewähren.

Unvollendete Recherchen und die Geheimnisse des Kellers

Für ihre récit-enquête legen die Autoren Wert auf das Fragmentarische und die Lücken der Erinnerung. Viele Fragen bleiben bewusst unbeantwortet. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den verborgenen Spuren, wie dem Diana-Gipsabdruck im Garten oder dem „geheimen Werk“ (œuvre secrète) von Hélène Garache, das sie im Atelier und in den Kellern des 70 bis ansammelte. Diese Mysterien und unbeantworteten Fragen, verstärkt durch die fotografischen Abbildungen „mysteriöser Spuren“ in den Kellern, unterstreichen Modianos literarisches Motiv, dass die Vergangenheit nie ganz entschlüsselt, sondern nur geträumt oder erahnt werden kann.

Schöpfung und Zerstörung: Kunst als Metapher für Leben und Tod

Die Ateliers des 70 bis waren Schauplatz sowohl von grandioser Schöpfung als auch von persönlicher Tragödie. Hier wurde Ezra Pounds Cantos konzipiert, aber zugleich nahm sich eine junge Künstlerin, Nuala O’Donel, dort das Leben, und der holländische Maler Frederik Hendrik Kaemmerer, dessen impressionistisch anmutende Landschaften und Kostümszenen geschätzt wurden, beging 1902 Suizid. Diese Extreme reichen bis in die jüngere Geschichte: Während Claude Garache seine leuchtenden Gemälde schuf, arbeitete seine Frau Hélène Garache an einem geheimen Werk, das nie regulär ausgestellt werden sollte. Die „statues de neige“ des Winters 1870/71 symbolisieren diesen Zyklus von künstlerischer Anstrengung und unweigerlichem Vergehen. Das Buch ist auch eine Elegie auf das unablässige, aber vergängliche künstlerische Leben in Montparnasse.

Schluss und Notwendigkeit zu träumen

Die Chronik des 70 bis rue Notre-Dame-des-Champs zeichnet die historische Ablösung der akademischen Kunst des 19. Jahrhunderts durch eine radikale Avantgarde des 20. Jahrhunderts nach. Die akademischen Künstler („peintres officiels“ bzw. „pompiers“) dominierten das 70 bis in der Ära von „La Boîte à Thé“ (ab den 1850er Jahren). Diese Maler, darunter der Mitbegründer Auguste Toulmouche und Jean-Léon Gérôme, waren fest im Establishment verankert: Sie erhielten Medaillen beim Salon des artistes français und lehrten an der École des Beaux-Arts. Ihre Themen waren entweder neo-griechisch, oder sie malten elegante Interieurs, was Zola veranlasste, von Toulmouches „köstlichen Puppen“ (délicieuses poupées) zu sprechen. Gérôme, der die Zusammenkünfte leitete, war der Prototyp des akademischen Reaktionärs; er bezeichnete die Gemälde der Impressionisten als „Unrat“ (ordures) und nannte deren Ausstellung 1900 „die Schande der französischen Kunst“. Die Ateliers beherbergten auch Bildhauer wie Jules Renaudot, dessen Skulptur Naïade aus Prüderiegründen schnell aus dem Jardin du Luxembourg entfernt wurde. Diese Kunst repräsentierte das offizielle, etablierte und oft veraltete Paris.

Gegen Ende des Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts manifestierte sich jedoch die Avantgarde in unmittelbarer Nähe und schließlich direkt im 70 bis. Diese neue Generation lehnte die „schlaffe Glätte“ (léché flasque) der akademischen Malerei ab, wie Joris-Karl Huysmans sie bei Gérômes Nachbarn William Bouguereau kritisierte. Figuren wie Gustave Courbet, der in der Nähe eine – wenn auch kurzlebige – Realismus-„Schule“ eröffnete, und Cézanne oder Gauguin in der unmittelbaren Umgebung bildeten den Gegenpol. Mit dem 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die „Génies“ die Ateliers. Die Nennung von Pablo Picasso als Adressat im Jahr 1910 markiert den Wendepunkt, ein „Donnerschlag“ („coup de tonnerre“) dieser neuen Ära, in der Künstler wie er, die nicht mehr „einer akademischen Karriere folgten“, die Vorherrschaft übernahmen. Diese Avantgarde wurde durch die amerikanischen Literaten wie Ezra Pound komplettiert, der sich selbst als „Experte für Genies“ bezeichnete. Diese Künstler, darunter der Musiker George Antheil, dessen Ballet mécanique mit Flugzeugpropellern und Klaxons im krassen Gegensatz zu den eleganten Interieurs Toulmouches stand, brachten eine Kunst der Subversion, des Rhythmus und der intellektuellen Provokation nach Montparnasse. Sie veränderten die Atmosphäre von einem verspielten, akademischen Ort (La Boîte à Thé mit dem Affen Jacques) zu einer intellektuell aufgeladenen und radikalen Umgebung (Claude Cahun, Surrealismus). Doch trotz dieser reichen Geschichte und des ständigen Wechsels von Künstlern, die aus aller Welt in diese Ateliers strömten, endet das Buch mit einer melancholischen Beobachtung: Die Schlussbemerkung des Buches lautet, dass eine Tür im 70 bis, auf der „Entrée des artistes“ (Künstler-Eingang) steht, lange nicht mehr geöffnet worden sei und die Frage offen bleibt, wo die Künstler geblieben sind.

Das Buch, sagte ich, stellt mehr Fragen, als es beantwortet. Diese unbeantworteten Fragen sind ein zentrales Merkmal der Poetik Modianos, da sie die Lücken in der historischen Erinnerung kennzeichnen. Der Text signalisiert oft, dass die Antwort nicht verfügbar ist: Besonders im Kapitel Petites annonces (Kleinanzeigen) werden spezifische, fragmentarische Fragen aufgeworfen, die Modiano als „Morsezeichen“ der Vergangenheit bezeichnet: Wie viele Personen haben beispielsweise auf die kleinen Anzeigen geantwortet? Wurden die gravierte Goldplakette (plaquette or gravé) und der junge rauhhaarige Foxterrier Dick (Dick, le jeune chien fox-terrier à « poil rude ») in all der Zeit wiedergefunden? Und warum konnte man die Ausstellung der Gemälde von Kapitän Vladimir Perfilieff, Künstler und Forscher, nur einen einzigen Tag lang sehen? Was ist aus dem italienischen Schriftsteller Enrico Contardi de Rhodio, dem Gründer der Académie Latinatis Excolendae, geworden? Ist es möglich, dass der zwanzigjährige Proust den Maler Thomas Alexander Harrison im 70 bis besucht und dabei Graf Wrangel gekreuzt hat? Hat Claude Cahun die Freunde von Ezra Pound getroffen, oder ist sie nur in den Korridoren oder im Hof des 70 bis auf Hemingway, Joyce, Antheil, Gurdjieff, die Prinzessin von Bassiano und das Gespenst des Affen Jacques gestoßen? Wo sind die Künstler heute, und wie lange werden die seltsamen Statuen, Büsten und Inschriften, die sich heute noch unter dem Laub verbergen, noch dort sein? Die Arbeit des Buches, eine „Untersuchungserzählung“, beruht darauf, dass die Autoren aus Fragmenten (archives, photographies et petites annonces) die Vergangenheit wiederbeleben, aber die „unbeantworteten Fragen“ und die Notwendigkeit, „träumen zu müssen“, bestimmen die poetische Methode.

Anmerkungen
  1. Denis Cosnard, Patrick Modiano ressuscite un haut lieu du Montparnasse d’antan dans son nouveau livre, Le Monde, 2. Oktober 2025.>>>
  2. „Patrick Modiano est tellement hypermnésique, et si doué pour retrouver le temps perdu, qu’il se souvient même de ce qu’il n’a pas vécu.“ Jérôme Garcin, „Le Bloc-notes de Jérôme Garcin : la mémoire de Patrick Modiano et le combat de Jafar Panahi,“ Nouvel Observateur, 22 septembre 2025.>>>
  3. „Cette rencontre rêvée entre les deux esthètes donne lieu à un livre très onirique, donc ‚modianesque‘.“ Louis-Henri de la Rochefoucauld, „Auprès de Phoenix, la petite musique surannée de Modiano renaît,“ L’Express, 2 Octobre 2025.>>>
  4. „C’est ensemble qu’ils ont fouillé, enquêté, trié dans la masse des archives, photos et documents, avant que l’écrivain s’attelle au texte de l’ouvrage, empreint de ses motifs et obsessions : l’énigme des visages tout juste croisés, des vies surgissant brièvement de l’obscurité avant d’y retourner, l’évanescence de toute chose. Le matériau rêveur et captivant dont sont faits ses romans, depuis près de six décennies.“ Nathalie Crom, „Patrick Modiano raconte sa vie d’écriture“, Télérama, 2. Oktober 2025.>>>

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