Sarah Kofman und die französisch-jüdische Literatur: Esra Akkaya

Esra Akkaya, Sarah Kofmans literarisches WerkFrankreichs verdrängte Gedächtnisse. Berlin: De Gruyter, 2025. 

Leben und Werk

Sarah Kofman (1934–1994) war eine der französischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts – Philosophin, Literaturwissenschaftlerin, Nietzsche-Interpretin und Shoah-Überlebende. Geboren in Paris in eine jüdisch-orthodoxe Familie, erlebte sie als Kind die Verhaftung ihres Vaters durch die französische Polizei während der Razzia im Juli 1942. Er wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Dieses prägende Trauma – die Erfahrung von Verfolgung, Verlust und doppelter Ausgrenzung – bildet ein existenzielles Fundament ihres Denkens und Schreibens. Kofman studierte bei Jean Hyppolite, Gilles Deleuze und Jacques Derrida, mit dem sie eng verbunden war, und lehrte später selbst Philosophie an der Universität Paris I. Ihr Werk umfasst über zwanzig Bücher, darunter tiefgründige Auseinandersetzungen mit Nietzsche (Nietzsche et la métaphore), Freud (L’Enfance de l’art, Freud et la question de l’art) sowie kultur- und literaturkritische Texte über Autobiographie, Gewalt, Sprache, Geschlecht und Macht. In den 1980er Jahren wandte sich Kofman verstärkt einer literarischeren Schreibweise zu – einer Sprache, die nicht argumentiert, sondern bezeugt, tastend, fragmentiert. Ihre späten Texte – insbesondere Paroles suffoquées (1987) und Rue Ordener, Rue Labat (1994) – markieren einen Bruch mit dem philosophischen Diskurs und eröffnen ein anderes Register: das einer literarischen Ethik der Erinnerung, in der das Schreiben selbst zu einem Akt der Verantwortung wird. Sarah Kofman wählte im Jahr 1994 den Freitod.

Problemstellung und forschungsgeschichtlicher Rahmen

Die Arbeit von Esra Akkaya, hervorgegangen aus ihrer am Peter-Szondi-Institut eingereichten Dissertation, leistet einen fruchtbaren Beitrag zur Relektüre des Werks der französischen Philosophin Sarah Kofman, indem sie einen blinden Fleck der bisherigen Forschung identifiziert: die literarischen Texte Kofmans sind bislang kaum als solche gewürdigt worden. Die dominierende Rezeption hat laut Vf.in diese Texte entweder anekdotisch genutzt – etwa im Sinne einer Lebensbeichte – oder sie lediglich als Illustration biografischer Umstände betrachtet. Gerade das Werk Paroles suffoquées, mit dem Kofman 1987 eine neue, literarische Schreibweise einführt, wurde zumeist im Licht ihres Suizids 1994 retrospektiv gedeutet.

Akkaya setzt dieser biografistisch-reduktionistischen Tendenz eine präzise, methodisch reflektierte und historisch kontextualisierte Analyse entgegen. Sie will zeigen, dass es sich bei Kofmans literarischen Arbeiten um ein eigenes, distinktives Werk handelt, das sowohl literarisch-poetologisch als auch politisch-ethisch ernst zu nehmen ist. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept des parler sans pouvoir (Sprechen ohne Macht), das Akkaya als zentrale Schreibweise identifiziert. Diese spezifische Artikulationsform steht für eine Ethik der Zeugenschaft, die gerade im Schweigen, in der Zurückhaltung und Fragmentierung eine Gegenstimme zur Macht artikuliert – sei sie staatlich, diskursiv oder sprachlich.

Kofman, so Akkaya, schreibt nicht „über“ die Shoah, sondern aus ihrer Erfahrung – und zwar in einer Sprache, die sich gegen jede Form von Sinnstiftung, Heroisierung oder Auflösung des Traumas wendet. Kofmans Schreiben ist nicht Opferliteratur im klassischen Sinne, sondern ein intellektuelles, literarisches und politisches Engagement gegen die blockierten Gedächtnisse Frankreichs, gegen das Leugnen, Verdrängen und Umdeuten der französischen Kollaboration, gegen die Sprachlosigkeit des Schreckens und die Sprachmacht der Institutionen.

Literaturwissenschaft, Ethik und Geschichtspolitik

Akkayas Vorgehen ist durch eine interdisziplinäre, aber durchweg textnahe Methodik geprägt. Sie kombiniert literaturwissenschaftliche Lektüre mit geschichtstheoretischen, ethischen und diskursanalytischen Ansätzen. Ihr theoretisches Fundament speist sich unter anderem aus der Shoah-Zeugenschaftstheorie (besonders Giorgio Agamben und Shoshana Felman), aus der französischen Literaturtheorie (Blanchot, Barthes, Deleuze/Guattari), sowie aus geschichtspolitischen Debatten der französischen Öffentlichkeit.

Besonders hervorzuheben ist Akkayas Bestreben, komplexe Diskurse – etwa zur Revisionismusdebatte der 1980er Jahre in Frankreich oder zur Rolle der Psychoanalyse in der Erinnerungskultur – präzise in die Analyse der literarischen Texte Kofmans zu integrieren. Sie entwirft ein konsequent nicht-biografistisches Lektüreprogramm, das die ästhetische Form, die Erzählhaltung, die Körpersemantik und die intertextuelle Dynamik der Texte in den Vordergrund stellt.

Die wiederkehrende Frage lautet: Wie gelingt es Kofman, eine Sprache für das Unsagbare zu finden, ohne das Unsagbare zu verraten? Die Antwort findet Akkaya in der Konzeption eines Schreibens ohne Macht, das sich explizit von den totalisierenden Diskursen der Philosophie, der Historie oder des Rechts unterscheidet. In dieser Spannung zwischen Zeigen und Verschweigen, zwischen literarischer Autonomie und ethischer Verpflichtung, entfaltet sich die eigentliche Poetik Sarah Kofmans.

Einleitung und Grundlagen – Gegen die biografistische Vereinnahmung

In ihrer Einleitung legt Akkaya drei Grundannahmen offen: Erstens soll Kofmans literarisches Werk aus dem Schatten ihrer philosophischen Arbeiten hervorgeholt werden. Zweitens wird der Begriff parler sans pouvoir als methodischer Leitbegriff etabliert. Drittens wird Frankreichs offener oder impliziter Geschichtsrevisionismus in der Nachkriegszeit als zentraler gesellschaftlicher Kontext eingeführt.

Besonders kritisch setzt sich Akkaya mit der dominanten Rezeption von Paroles suffoquées auseinander, die sie als exemplarischen Fall einer „biografistischen Lesart“ analysiert. Statt einer literarischen Interpretation wurde der Text als Verschriftlichung eines Kindheitstraumas oder gar als Ankündigung des späteren Suizids gelesen. Akkaya entzieht sich diesem Interpretationsreflex und zeigt, dass Kofman selbst gegen eine solche Lesart Einspruch erhoben hat. Ihr Schreiben ziele nicht auf eine persönliche Wahrheit, sondern auf ein kollektives Erinnern, das sich gegen die Sprachmacht der Verdrängung stelle.

Schreiben gegen das Schweigen – Revisionismus, Antelme, Shoah

Im zweiten Kapitel „Schreiben im Angesicht des Geschichtsrevisionismus im Frankreich der Fünften Republik“ analysiert Akkaya drei Texte Kofmans aus dem Jahr 1991: das Interview Schreiben ohne Macht, das Gedicht Shoah (ou la Dis-Grâce) und den Text Tot, unsterblich, ein imaginärer Brief an Robert Antelme. Diese Texte werden in den Kontext der französischen Debatten um den Holocaust-Revisionismus gestellt, die in den 1980er Jahren an Brisanz gewannen – insbesondere durch die Leugnungen von Robert Faurisson und die intellektuelle Komplizenschaft von Noam Chomsky.

Akkaya stellt Kofmans Schreiben als bewusste Gegenstimme (contre-discours) zur französischen Öffentlichkeit dar, welche die Rolle des Vichy-Regimes bagatellisierte oder gar leugnete. In dieser Situation, so Akkaya, kann Literatur eine Funktion übernehmen, die Philosophie versagt bleibt: Sie kann – ohne Anspruch auf Wahrheit – Raum für Zeugenschaft und Affektivität eröffnen.

Im Interview Schreiben ohne Macht formuliert Kofman ihre literarische Haltung als einen radikalen Bruch mit der spekulativen Philosophie, die „in Wahrheit“ gerade das Unsagbare vernichte. Das Gedicht Shoah wird von Akkaya als Form eines poetischen Widerspruchs gelesen – eine sprachlich gereizte, rhythmisch gebrochene Reaktion auf die Leugnung von Verbrechen. Der fiktive Brief an Antelme ehrt dessen Werk L’espèce humaine als Modell für eine Zeugenschaft, die dem Grauen eine Sprache verleiht, ohne es zu relativieren.

Der Gewinn dieses Kapitels liegt in der fundierten historischen Kontextualisierung der Texte und der Herausarbeitung eines „Schreibens ohne Macht“ als ethischer und poetischer Grundhaltung: Es handelt sich um ein Schreiben, das sich dem Geschichtsrevisionismus widersetzt, nicht durch Widerlegung, sondern durch Subversion der Sprachlogik der Macht.

Miniaturen der Erinnerung – Mikrotexte als widerständige Poetik

Ein weiterer Teil wendet sich Kofmans kürzeren, oft vernachlässigten Texten zu, die zwischen 1976 und 1983 entstanden. Akkaya stellt diese Texte als „Mikrotexte“ vor – Miniaturen, die in verdichteter Form Erinnerungsbruch, Sprachverlust und Traumafolgen thematisieren. Zu den analysierten Texten gehören Tombeau pour un nom propre, Ma Vie, Sacrée Nourriture und Cauchemar.

Diese Texte verbindet ein doppelter Bruch: mit der kohärenten Subjektivität des autobiografischen Erzählens und mit den Konventionen des philosophischen Arguments. Sie artikulieren Gewalt nicht durch Argumentation, sondern durch Fragment, Affekt und körperliche Reaktion. Akkaya bezieht sich dabei auf Böschensteins Begriff der „Sprengkraft der Miniatur“ und auf Deleuze/Guattaris Konzept der „kleinen Literatur“.

In Tombeau pour un nom propre verbindet Kofman die antisemitische Konnotation ihres Namens mit dem bürokratischen Vokabular der Deportation. In Sacrée Nourriture wird die Assimilation an eine antisemitische Retterin als Zwang zur Identitätsverleugnung inszeniert, deren Widerstand im körperlichen Erbrechen liegt. Ma Vie reflektiert die Unmöglichkeit, Erfahrungen auszusprechen, die nicht in die Sprache der Psychoanalyse übertragbar sind. Cauchemar arbeitet mit etymologischen Spuren des Altfranzösischen, um den wiederkehrenden historischen Albtraum zu beschwören.

Akkaya zeigt, dass diese Texte eine radikale literarische Praxis der Verweigerung von Kohärenz, Linearität und Auflösung verfolgen – gerade um der historischen Gewalt nicht mit ästhetischer Harmonie zu begegnen. Schreiben wird zur Form des Dissens, zur poetischen Unterminierung der „großen Sprache“ durch die „kleine Form“.

Rue Ordener, Rue Labat – Autofiktion als politischer Raum

Das vierte und umfangreichste Kapitel ist dem Roman Rue Ordener, Rue Labat gewidmet. Akkaya liest diesen Text als autofiktionale, aber nicht autobiografische Erzählung, die den Holocaust nicht von einem posttraumatischen Standpunkt aus beschreibt, sondern in seiner unmittelbaren Realität. Die Topografie des Pariser Nordens wird zur Karte der Kollaboration, zur Bühne eines Alltags, in dem sich Gewalt, Angst, Verrat und Liebe überlagern.

Die Figur der „Mémé“, der Retterin, ist in Akkayas Analyse besonders aufschlussreich: ambivalent, antisemitisch und zugleich fürsorglich. Das Kind Sarah wird zur Projektionsfläche widersprüchlicher Kräfte – Assimilation, Disziplinierung, Nähe und Ablehnung. Die Gewalt zeigt sich hier nicht nur im Mord an Kofmans Vater, sondern im Zwang zur Sprachlosigkeit, zum Gehorsam, zur Identitätsverleugnung.

Akkaya analysiert, wie das Schreiben selbst für das Textsubjekt zum Ort der Freiheit wird – nicht als Befreiungserzählung, sondern als stille Geste des Widerstands gegen die symbolischen Ordnungen, die über ihr Leben verfügen. Bildung, Lektüre und Literatur eröffnen Räume der Selbstermächtigung – allerdings ohne triumphalen Tonfall.

Bilanz, Relevanz und Ausblick

Im abschließenden Kapitel vergleicht Akkaya ihre Ergebnisse mit der ursprünglichen Zielsetzung. Sie argumentiert, Kofmans literarisches Werk als eigenständige, ethisch fundierte und historisch situierte Form des Schreibens erschlossen zu haben. Der biografistische Zugriff wird damit unterlaufen, das literarische Werk rehabilitiert – als politische Literatur.

Akkayas Arbeit besitzt hohe Relevanz für die französische Literaturwissenschaft, insbesondere für die postkoloniale und jüdische Literaturforschung. Sie zeigt, dass Kofmans Texte eine andere Erinnerung artikulieren – eine, die weder versöhnt noch beschuldigt, sondern die Fragmente der Geschichte offenlegt, um sie lesbar zu halten.

Ein Problem bleibt laut Akkaya die schwierige Zugänglichkeit vieler Texte Kofmans heute. Die Verfasserin betont, dass diese Werke kaum ediert oder übersetzt sind (wobei ja durchaus vieles bei Diaphanes oder Edition Diskord bereits auf Deutsch erschienen ist). Ihre Monographie legt eine weitere editorische Auseinandersetzung mit Kofmans literarischem Erbe nahe.


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