Das verletzte Recht: Nelly Alard

Staatsangelegenheit

Alors que le préfet de police soutient qu’il a été touché par un projectile envoyé par un casseur, des vidéos circulant sur les réseaux accusent les forces de l’ordre.

Während der Polizeipräfekt behauptet, er sei von einem von einem Randalierer geworfenen Gegenstand getroffen worden, beschuldigen in den sozialen Netzwerken kursierende Videos die Ordnungskräfte.

Dieser Satz steht im Zentrum der ästhetisch-ethischen Spannung von La Manif. Er konfrontiert zwei konkurrierende Wahrheitsregime: das institutionelle und das mediale. Auf der einen Seite die offizielle Version der Macht – die Stimme des Staates, vertreten durch den Polizeipräfekten, der die Schuld einem „casseur“ zuschreibt, einer Figur aus dem Repertoire des urbanen Chaos. Auf der anderen Seite die visuelle Gegenmacht digitaler Bilder, die über soziale Netzwerke eine alternative Lesart anbieten: die Schuld der Polizei. Diese Opposition verweist auf zentrale Fragen des Romans: Wer spricht Recht? Wem gehört die Wahrheit? Und was passiert, wenn institutionelle Narrative von zivilgesellschaftlichen Gegen-Erzählungen herausgefordert werden? Alard entlarvt hier nicht nur die Fragilität des staatlichen Diskurses, sondern betont auch die prekäre Rolle von Bild und Beweis. Die Videos sind zwar Anklage, aber sie garantieren keine Gerechtigkeit. Vielmehr verschärfen sie die Ambivalenz: Sichtbarkeit ist nicht gleich Wahrheit, und Öffentlichkeit nicht gleich Gerechtigkeit. Der Satz eröffnet damit ein Spannungsfeld, in dem sich La Manif literarisch positioniert: zwischen Repräsentation und Realität, zwischen staatlicher Ordnung und zivilem Zweifel. In diesem Zwischenraum entfaltet sich die narrative Poetik des Romans – als Suchbewegung nach Wahrheit, Gerechtigkeit und moralischer Verantwortung.

Nelly Alards Roman La manif (Gallimard, 2025), inspiriert von realen Ereignissen, beleuchtet die verheerenden Auswirkungen staatlicher Gewalt und institutioneller Ungerechtigkeit auf eine Familie, als Kritik an der mangelnden Transparenz und Rechenschaftspflicht des französischen Staatsapparates, insbesondere der Polizei und des Justizsystems, indem er eine persönliche Tragödie zu einer „Staatsangelegenheit“ erhebt. Darüber hinaus wird die Erzählung die vielfältigen psychologischen und emotionalen Belastungen der Opfer und ihrer Angehörigen thematisieren, die zu tiefgreifender Enttäuschung, dem Verlust des Vertrauens und einer Neubewertung familiärer Beziehungen führen. Inmitten medialer Verzerrung, behördlicher Vertuschung und familiärer Ohnmacht entwickelt der Text ein komplexes ästhetisch-narratives Verfahren, das Gerechtigkeit nicht behauptet, sondern sucht, bezeugt aber auch einfordert.

Der Roman beginnt am 26. Mai 2016, als Agnès und Gilles erfahren, dass ihr 28-jähriger Sohn Romain nach einem „Vorfall“ am Rande einer Demonstration gegen das Arbeitsgesetz im Koma liegt und sein Leben in Gefahr ist. Während der Polizeipräfekt behauptet, Romain sei von einem Projektil eines „Chaoten“ getroffen worden, beschuldigen im Internet kursierende Videos die Ordnungskräfte. Diese Diskrepanz stürzt die Familie – bestehend aus Romain, seinen Schwestern Clotilde und Judith, seiner Freundin Nastassja, seinen Eltern Agnès und Gilles sowie seiner Großmutter Françoise – in einen Schockzustand und zwingt sie, die offizielle Darstellung infrage zu stellen. Es beginnt ein langwieriger Kampf um die Wahrheit, der die Familie durch Krankenhausflure, widersprüchliche Medienberichte und Begegnungen mit hochrangigen Regierungsvertretern führt. Als Romain wie durch ein Wunder aus dem Koma erwacht, leidet er unter erheblichen physischen und psychischen Folgen. Der anschließende juristische Kampf ist geprägt von Verzögerungen, Vertuschungen und schließlich der endgültigen Einstellung des Verfahrens, was bei der Familie tiefe Verbitterung und Resignation hervorruft.

Die multiperspektivische Erzählweise ermöglicht dabei einen tiefen Einblick in die subjektive Erfahrung des Traumas und die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der Charaktere. Hier ein Beispiel, wie polyperspektivisches Erzählen im Buch umgesetzt wird:

Agnès und Gilles (Romains Eltern)

Ihre Perspektive ist von anfänglichem Schock und Unglauben geprägt, als sie erfahren, dass ihr Sohn bei einer Demonstration verletzt wurde – etwas, das sie sich bei Romain nicht vorstellen können. Sie erleben die Reise nach Paris voller Angst und die widersprüchlichen Informationen und das befremdliche Verhalten des Krankenhauspersonals und der offiziellen Stellen. Gilles ist besonders wütend und sieht von Anfang an eine Verschwörung, während Agnès oft zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt.

Clotilde (Romains ältere Schwester)

Als Ärztin ist sie in der Lage, Romains medizinischen Zustand fachlich zu beurteilen, was ihre Angst und Sorge auf eine andere Ebene hebt. Sie ist diejenige, die die Familie koordiniert und mit dem Krankenhauspersonal spricht. Ihre Perspektive zeigt auch ihre Frustration mit der Bürokratie und der Gleichgültigkeit, die sie wahrnimmt. Sie ist pragmatisch und will die Fakten klären, was sie später dazu bringt, an die Medien zu gehen.

Judith (Romains jüngere Schwester)

Judith ist die Emotionalste der Geschwister, bricht sofort in Tränen aus. Sie ist zunächst skeptisch bezüglich Romains Rolle in der Demonstration, da sie ihn als jähzornig kennt. Ihre Perspektive ändert sich drastisch, als sie die Videos der russischen Fernsehsender sieht, die die tatsächlichen Umstände von Romains Verletzung zeigen und die offizielle Version widerlegen. Sie ist desillusioniert von der Justiz und der Art, wie die Medien die Geschichte behandeln.

Françoise (Romains Großmutter)

Sie hat eine besondere, fast mystische Verbindung zu Romain. Ihre Sichtweise ist geprägt von Reue, da sie sich wünscht, sie hätte Romain davor gewarnt, zu der Demonstration zu gehen. Sie ist auch tief enttäuscht von der Politik und der Entwicklung der Gesellschaft.

Romain (das Opfer selbst)

Seine Perspektive ist anfangs durch Koma, Verwirrung und Delirium geprägt, in dem er sich gefangen und gefoltert fühlt. Nach dem Aufwachen und der Genesung erlebt er die Schockwellen der Ereignisse und die Ungerechtigkeit des Rechtssystems am eigenen Leib. Seine anfängliche naive Hoffnung auf Gerechtigkeit weicht einer tiefen Ernüchterung.

Nastassja (Romains Freundin)

Sie erlebt die Nachricht von Romains Verletzung in Island und ihre panische Rückreise. Ihre Perspektive zeigt die emotionale Belastung und die physische Angst, die sie empfindet, insbesondere in Bezug auf Romains Verletzung am Kopf und seine veränderte Persönlichkeit.

Sandro (Clotildes Partner)

Als medizinischer Experte unterstützt er Clotilde mit Fachwissen und ist entsetzt über die Missstände im System. Er ist derjenige, der die kompliziertesten medizinischen Details an Agnès und Gilles übersetzt.

Diese verschiedenen Perspektiven ergänzen sich und zeigen, wie ein einziges, traumatisches Ereignis eine ganze Familie auf unterschiedliche Weise beeinflusst und wie schwer es ist, in einem komplexen System die „Wahrheit“ zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen. Die polyperspektivische Erzählung ermöglicht es der Autorin, die emotionalen, psychologischen, medizinischen und rechtlichen Dimensionen der Geschichte umfassend zu beleuchten.

Alards Erzählweise ist dezentral, vielstimmig, von intimer Nähe zu den Figuren geprägt. Es ist eine Poetik der Verlangsamung und des psychologischen Tiefenblicks, die der juristischen wie politischen Verhärtung die Weichheit der Subjektivität entgegensetzt. Die Kapitel springen zwischen Angehörigen, erzeugen eine zersplitterte, aber kohärente Erzählung familiären Schmerzes. Der Roman zeigt, wie politisches Unrecht sich in privaten Biografien einnistet, wie der Körper des Opfers (Romain) zum stummen Archiv einer gesellschaftlichen Verwerfung wird. In dieser Vielstimmigkeit liegt das ethisch-ästhetische Engagement des Textes: Er schreibt sich nicht auf die Seite einer simplen Anklage, sondern erzeugt – durch genaue Recherchen, detailreiche medizinische und juristische Szenen sowie psychologisch glaubwürdige Innenwelten – ein literarisches Verfahren der Wahrheitsproduktion. La Manif ist kein Traktat, sondern ein Verfahren: Literatur als Anhörung, als Untersuchung, als Prozessform, die Gerechtigkeit als offene, noch zu erreichende Größe behandelt.

Damit wird der Roman selbst zu einem Akt zivilgesellschaftlichen Widerstands – nicht durch Lautstärke, sondern durch Hartnäckigkeit, Empathie und Struktur. Alard gelingt eine engagierte Literatur jenseits des Pamphlets: eine narrative Form des Rechts, die dort interveniert, wo das Rechtssystem selbst versagt. Die Autorin wechselt zwischen verschiedenen Sprachregistern. Von der rohen, emotionalen Sprache der Familie in Momenten des Schocks und der Wut, über den präzisen, aber oft kalten medizinischen und juristischen Fachjargon, bis hin zur zynischen und manipulativen Sprache der offiziellen Stellen. Dieser Wechsel verstärkt die Entfremdung und das Gefühl der Ohnmacht der Familie gegenüber dem System.

Vertuschung und Selbstschutz

Die unfreiwillige Konfrontation mit staatlicher Gewalt und die erschütternde Suche nach der Wahrheit

Der Roman stürzt die Familie aus ihrem Alltag in einen Albtraum, der von Anfang an durch die Diskrepanz zwischen offizieller Darstellung und persönlicher Erfahrung geprägt ist. Die Nachricht von Romains Zustand erreicht Agnès und Gilles im Cap Ferret, weit entfernt von den Pariser Protesten. Clotilde, die als Erste von der Nachricht erfährt, ist von der Beteiligung ihres Bruders an einer Demonstration überrascht: „eine Manifestation – aber Romain n’a jamais manifesté de sa vie – qu’est-ce qu’il faisait dans une manifestation“. Diese Ungläubigkeit teilt die ganze Familie, da Romain nicht als politischer Aktivist bekannt ist, sondern als jemand, der „lieber immer beobachten, am Rande bleiben“ wollte.

Die offizielle Version des Polizeipräfekten, dass Romain von einem „Projektil, das von einem Chaoten geschleudert wurde“ getroffen wurde, wird (wie einleitend gesagt) schnell durch im Umlauf befindliche Videos in den sozialen Netzwerken widerlegt. Gilles ist außer sich vor Wut über die offensichtliche Lüge: „Mais qu’en plus on se foute de leur gueule, qu’on ose les balader avec des histoires de boules de pétanque et de mobilier urbain, il y avait de quoi devenir fou.“ Die Familie wird so in einen Kampf um die Anerkennung der Wahrheit gezwungen, der von Beginn an als eine „affaire d’État“ deklariert wird, was die politische Dimension des persönlichen Leidens unterstreicht. Die Tatsache, dass Romains Anrufbeantworter-Nachricht vom Tag des Vorfalls nur ein „langes Geheul“ enthält, verstärkt die Ungewissheit und den Schrecken für die Familie.

Das Trauma und seine vielschichtigen psychologischen Auswirkungen auf die Familie

Das Ereignis und die folgende Ungewissheit zehren an den Nerven der ganzen Familie. Agnès erlebt einen Zustand der „intranquillité“, ein Gefühl, dass „alles, in jedem Moment, passieren konnte? Sogar das Schlimmste. Vor allem das Schlimmste.“. Dieses Gefühl ist eine direkte Folge des 26. Mai 2016 und des Zusammenbruchs der gewohnten Ordnung. Agnès leidet besonders unter der fehlenden physischen Zuneigung in ihrer Familie, während sie Sandro, den Partner ihrer Tochter, für seine „warmherzige, taktile“ Art bewundert.

Clotilde, die Ärztin, ist es gewohnt, schlechte Nachrichten zu übermitteln, doch im familiären Kontext hat sie Mühe, ihre Professionalität aufrechtzuerhalten. Sie fühlt sich ihrer Mutter gegenüber zu „kalt“, da sie in ihrer Familie die Rolle der „organisierten, rationalen Frau“ übernimmt. Ihre professionelle Objektivität wird jedoch auf die Probe gestellt, als sie im Krankenhaus auf Ärzte wie Dr. Troadec trifft, der Romain anscheinend als „Gauner“ oder „Rüpel“ betrachtet. Clotilde ist fassungslos über die fehlende Empathie und den unangemessenen Sprachgebrauch von Professor F., der über Romains Zustand sagt: „Ah ça on peut dire qu’il a bien morflé, son hémisphère gauche, il a sacrément morflé.“.

Romains Erwachen ist zunächst ein Schock für die Familie. Anstatt ihren Sohn zu sehen, steht Agnès einer „wilden Bestie“ gegenüber, die mit Schläuchen und Fesseln an sein Bett gefesselt ist und unverständliche Beleidigungen murmelt, darunter die wiederholte Phrase: „Pas un CRS, un manifestant“. Judith erkennt ihren Bruder nicht wieder und beschreibt seinen Blick als den eines „Verrückten“. Diese Szene zeigt die extreme Traumatisierung Romains und die damit verbundenen psychischen Veränderungen. Er glaubt, entführt oder in einer psychiatrischen Klinik zu sein. Die fehlende Erinnerung an den Vorfall und die Tatsache, dass seine Familie ihm die Wahrheit vorenthält, verstärken seine Qual. Nachdem er das Video gesehen hat, das den Vorfall zeigt, erinnert er sich an alles, einschließlich der Worte, die Polizisten zu ihm im Krankenwagen gesagt haben: „tu diras que c’est pas un CRS, mais un manifestant qui t’a fait ça“, was die Verschwörungshypothese von Gilles und Sandro unterstützt.

Die institutionelle Vertuschung und die Enttäuschung über das Justizsystem

Das juristische Verfahren entpuppt sich als zermürbender Kampf gegen ein System, das auf Vertuschung und Selbstschutz ausgelegt zu sein scheint. Die Familie muss schnell feststellen, dass „die Affäre Romain D. zu einer Staatsaffäre wurde“. Der Minister des Inneren und der Polizeipräfekt zeigen sich zunächst scheinbar besorgt, doch ihre Aussagen bleiben vage und widersprüchlich. Der Polizeipräfekt beharrt auf der Darstellung, Romain sei von einem Projektil eines „casseur“ getroffen worden. Gilles und Clotilde konfrontieren den Minister mit den Ungereimtheiten, wobei Gilles unverblümt die Wahrheit fordert: „Soit vous nous expliquez que c’est une affaire d’État et qu’on doit vous couvrir et vous nous expliquez pourquoi, soit vous nous dites la vérité. Quelle option voulez-vous choisir, c’est important cette question.“. Die Familie hofft auf die Zusage des Ministers, „die ganze Wahrheit“ ans Licht zu bringen.

Die juristische Untersuchung verläuft jedoch schleppend. Der IGPN-Bericht, den Romain durch seinen Anwalt erhält, weist keine pyrotechnischen Spuren auf Romains Jacke nach, findet aber Spuren von Kokain – eine Feststellung, die Romain überrascht, da er nie Drogen konsumiert hat, und die „zeigt, wie die Ermittlung ausgerichtet wurde“. Dieser Bericht entlastet den Polizisten von jeder Schuld und lehnt administrative Sanktionen ab. Der Anwalt kritisiert die Widersprüche im Abschlussbericht der Untersuchung, der „nicht vor Widersprüchen zurückschreckte“, und bemängelt, dass die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung nicht ausreichend geprüft wurden. Der endgültige Beschluss auf Einstellung des Verfahrens („non-lieu“) wird als „lunair“ und „ahurissant“ empfunden, da er die Aussagen des Polizisten über angebliche Gefährdung übernimmt, obwohl Videoaufnahmen dies widerlegen. Das Urteil der Cour de cassation im Oktober 2023, das die Ablehnung des Verfahrens bestätigt, begräbt die Angelegenheit endgültig. Romain fühlt sich von diesem Moment an nicht nur vom Polizisten, sondern vom Staat und der gesamten Gesellschaft gehasst: „c’était l’État lui-même, la société tout entière qui ne l’aimait pas.“.

Der Verlust von Illusionen und die verzweifelte Suche nach Sinnhaftigkeit

Die wiederholten Misserfolge im Kampf um Gerechtigkeit führen bei Romain und seiner Familie zu tiefer Resignation. Während Romain anfänglich an die Möglichkeit der Gerechtigkeit glaubt und sich sogar als „Wunderheiler“ oder jemand mit einer „christischen Bestimmung“ sieht, um dem Vorfall einen Sinn zu geben, zerbricht diese Illusion zusehends. Der „non-lieu“ (Einstellung des Verfahrens) bedeutet für ihn, dass er kein Recht hat, sich zu beklagen. Die Ironie liegt darin, dass der Prozess, der ihm Gerechtigkeit bringen sollte, selbst zu einem weiteren Trauma wird. Die Veröffentlichung des Verteidigungsmemorandums des Innenministeriums, das Romain eine Mitschuld an seinen Verletzungen gibt und behauptet, er habe „perfekt Kenntnis der Gefahr gehabt“, ist der letzte Schlag für ihn.

Romains Freundin Nastassja, die ihn auf seinem Leidensweg begleitet, empfindet die Situation als erdrückend und trennt sich schließlich von ihm, da sie das Gefühl hat, dass Romain „nichts mehr als das [d.h. sein Trauma und seine Rolle als ‚Wunderheiler‘] dachte, sie sprachen nur noch darüber“. Auch sie verliert ihre Illusionen über die Gerechtigkeit und die Sinnhaftigkeit des Kampfes. Die Familie muss erleben, wie Romains Schicksal, das anfänglich als „affaire d’État“ galt, in der Medienberichterstattung zu einem „winzigen, banalen fait divers“ verkommt und von neuen Katastrophen wie dem Covid, dem Krieg in der Ukraine oder den Attentaten in Nizza überlagert wird. Agnès und Gilles hadern mit der fehlenden medialen Aufmerksamkeit und dem Gefühl, nicht genug getan zu haben. Trotz allem versucht Agnès, im Angesicht der ständigen Angst, das Leben weiterzuleben. Romain beginnt, sich in Protesten zu engagieren, nicht aus Provokation, sondern aus dem Bedürfnis, sein Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen und die Revolte zu „sehen, zu fühlen, zu riechen“. Sein Ziel ist nicht mehr die Rache, sondern die Erkenntnis, dass „Gerechtigkeit, wenn sie nicht ausgeübt wird, nie weit von der Diktatur entfernt ist“.

Vertrauen in Institutionen

La première réaction fut d’incompréhension : au lieu des images d’affrontements qu’elle s’était préparée à voir, la vidéo montrait une scène au premier abord banale, quotidienne, des passants marchant sur un trottoir tandis que des voitures roulaient tranquillement sur une avenue menant au périphérique, dont on apercevait au loin le panneau d’accès. […] Noam arrêta la vidéo. — Voilà, maintenant tu sais ce qui s’est passé. Romain s’est pris une grenade jetée par un flic. […] Que le préfet veuille venir SE RÉJOUIR de son état de santé alors même qu’il était encore en réanimation avec son trou dans la tête, uniquement parce qu’il devait penser comme tout le monde que Romain allait mourir et qu’il avait peur dans ce cas de servir de fusible, qu’il soit heureux de conserver son poste au point de vouloir venir SE RÉJOUIR à son chevet qu’un fonctionnaire sous ses ordres lui ait défoncé le crâne, Romain trouva que c’était pousser un peu loin le bouchon.

Die erste Reaktion war Unverständnis: Anstelle der Bilder von Zusammenstößen, auf die sie sich vorbereitet hatte, zeigte das Video eine auf den ersten Blick banale, alltägliche Szene: Passanten gingen auf einem Bürgersteig spazieren, während Autos ruhig auf einer Allee fuhren, die zur Ringstraße führte, deren Zufahrtsschild in der Ferne zu sehen war. […] Noam stoppte das Video. — So, jetzt weißt du, was passiert ist. Romain wurde von einem Polizisten mit einer Granate beworfen. […] Dass der Präfekt kommen wollte, um sich über seinen Gesundheitszustand zu FREUEN, obwohl er noch mit einem Loch im Kopf auf der Intensivstation lag, nur weil er wohl wie alle anderen dachte, dass Romain sterben würde und er in diesem Fall Angst hatte, als Sündenbock herhalten zu müssen, dass er so glücklich darüber war, seinen Posten behalten zu dürfen, dass er an sein Krankenbett kommen wollte, um sich darüber zu FREUEN, dass ein Beamter unter seinem Befehl ihm den Schädel eingeschlagen hatte, fand Romain, dass das ein bisschen zu weit ging.

Diese Passage demonstriert die entscheidende Rolle der Videobeweise und die schockierende Diskrepanz zwischen der offiziellen Darstellung und der Realität. Judiths anfängliche „Inkompetenz“, als sie die Videoaufnahmen von Romains Verletzung ansieht, verstärkt die Authentizität der Szene. Die Darstellung einer „banalen, täglichen“ Szene, die sich von den erwarteten „Bildern der Auseinandersetzungen“ unterscheidet, unterstreicht, dass Romain kein aktiver Demonstrant, sondern ein unbeteiligter Beobachter war, was die Brutalität der Polizeigewalt noch hervorhebt. Noams nüchterne Enthüllung („Romain s’est pris une grenade jetée par un flic“) wirkt wie ein Schlag in die Magengrube und ist der Katalysator für das Erwachen der Familie aus ihrer anfänglichen Ungläubigkeit und Naivität. Später, als Romain selbst die Videos sieht und die Nachrichten liest, versteht er die zynische Absicht der Behörden: Der Präfekt freut sich über seine Genesung, nicht aus Sorge, sondern um seinen eigenen Posten zu sichern und die Affäre zu vertuschen. Die großgeschriebenen „SE RÉJOUIR“ unterstreichen die empfundene Absurdität und den Sarkasmus. Dieser Kontrast zwischen der sichtbaren Wahrheit und den offiziellen Lügen – die selbst vor einem schwer verletzten Opfer keinen Halt machen – treibt den Kampf der Familie um Gerechtigkeit voran. Es ist eine Entlarvung der Machtmechanismen, die bereit sind, die Realität zu verdrehen, um sich selbst zu schützen.

La manif ist mehr als nur die fiktionalisierte Aufarbeitung eines realen Falles von Polizeigewalt; es ist ein zutiefst menschliches und gesellschaftskritisches Werk, das die Poetik der Zeugenschaft und des Verlustes von Illusionen meisterhaft umsetzt. Die Stärke des Romans liegt in seiner polyphonen Erzählstruktur: Indem die Perspektiven der verschiedenen Familienmitglieder – Agnès, Gilles, Clotilde, Judith, Françoise, Nastassja und schließlich Romain selbst – immer wieder wechseln, erhält der Leser ein umfassendes Bild des Traumas und seiner weitreichenden Folgen. Diese Mehrstimmigkeit betont nicht nur die Subjektivität der Wahrnehmung, sondern verstärkt auch die emotionale Wirkung, indem sie die unterschiedlichen Bewältigungsmechanismen – von Wut über Resignation bis hin zu neuem Engagement – detailliert darstellt.

Der Roman, der auf realen Ereignissen basiert, verhandelt die Frage, wie eine Gesellschaft, die sich als Rechtsstaat versteht, mit Gewalt vonseiten ihrer eigenen Organe umgeht und inwiefern der „fait divers“ eines Einzelnen zum Symptom einer umfassenderen gesellschaftlichen Dysfunktion wird. Die „intranquillité“, die Agnès erlebt, ist metaphorisch für das kollektive Gefühl einer verunsicherten Zeit. Der Roman bewertet in seiner Poetik nicht nur die konkrete Ungerechtigkeit im Fall Romain D., sondern hinterfragt die Grundlagen des Vertrauens in staatliche Institutionen und appelliert eindringlich an die Bedeutung von Wahrheit und Rechenschaftspflicht für das Funktionieren einer Demokratie.

Die Poetik des Romans zeichnet sich auch durch ihren unverblümten Realismus aus, der sich nicht scheut, die bürokratischen und menschlichen Mängel der Institutionen offenzulegen. Die detaillierte Beschreibung der Krankenhausumgebung, der juristischen Abläufe und der medialen Dynamik schafft eine authentische und beklemmende Atmosphäre. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Sprachregelung (z.B. „Vorfall“ statt „Angriff“) und der erlebten Brutalität wird durch präzise Dialoge und innere Monologe hervorgehoben, die die Frustration und das Gefühl der Machtlosigkeit der Familie spürbar machen.

In einer der letzten Szenen von La Manif sitzen Romain, aus dem Koma erwacht, und seine Mutter Agnès auf einer Bank im Jardin du Luxembourg. Es ist still. Der Frühling hat begonnen. Vögel singen. Romain spricht kaum – seine Sprache ist noch brüchig, seine Erinnerungen fragmentarisch. Und doch ist er da, gegen jede Wahrscheinlichkeit. An seiner Schläfe eine Narbe. Kein Gerichtsprozess hat Gerechtigkeit gebracht, kein Urteil wurde gesprochen. Aber sie sind da, in diesem gemeinsamen Augenblick, inmitten der Stadt, die zugleich Schauplatz des Unrechts und des Lebens ist. Diese Szene steht exemplarisch für Alards literarische Poetik: La Manif verweigert das dramatische Finale, die eindeutige Auflösung, die „Gerechtigkeit“ im klassischen Sinn. Stattdessen lässt der Text eine stille, offene Form von Gerechtigkeit aufscheinen – eine, die im Aushalten, im Miteinander und im Weiterleben liegt. Es ist ein Recht, das nicht durch Institutionen garantiert wird, sondern durch narrative Fürsorge, durch Erzählen, Erinnern und Festhalten. Alards Roman endet nicht mit einem juristischen Schlussstrich, sondern mit einer existenziellen Geste: dem Fortbestehen trotz allem. Damit formuliert La Manif eine Literatur, die nicht das Recht ersetzt, aber es herausfordert – als ethisches Gedächtnis der Gesellschaft, als Ort, an dem sich das Recht der Menschen gegen das Schweigen der Macht behauptet.


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