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À partir du moment où elle avait commencé les cours de danse, les premières années de sa vie s’étaient effacées comme un mauvais brouillon. Elle avait eu l’impression de naître une seconde fois. Ou plutôt, c’était à ce moment-là qu’avait eu lieu sa vraie naissance. (Patrick Modiano, La danseuse, 2023.)
Von dem Moment an, als sie mit dem Tanzunterricht begonnen hatte, waren die ersten Jahre ihres Lebens wie ein schlechter Entwurf ausgelöscht worden. Sie hatte das Gefühl, ein zweites Mal geboren worden zu sein. Oder besser gesagt, in diesem Moment fand ihre wahre Geburt statt.
Seit seinem Debütroman La Place de l’Étoile (1968) hat Patrick Modiano, der in diesem Jahr so alt wird „wie die Nachkriegszeit“ (Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen vom 30. Juli 2025), eine poetische Welt geschaffen, die von Erinnerungsschatten, verschobenen Identitäten und geheimnisvollen Abwesenheiten durchzogen ist. Seine Romane – melancholisch, elliptisch, durchzogen von Vergessen und Wiederkehr – kreisen um eine paradoxe Bewegung: das Erinnern durch das Verlieren, das Erleben durch das Verschwinden. In diesem ästhetischen Spannungsverhältnis gewinnt der Tanz eine besondere Rolle: als Motiv, als Bild, als Erzählform. Insbesondere in seinem jüngsten Roman La danseuse (2023) gerät dieses Motiv zur poetischen Metapher: Die Tänzerin wird zur Figur des Erinnerns, zur Projektionsfläche eines tastenden Ich-Erzählers und zur Allegorie eines kaum fassbaren Lebens. Der Tanz steht hier nicht im Zentrum einer Handlung, sondern inszeniert sich als schwebende Spur, als rhythmisches Prinzip des Erzählens, als flüchtige Figur, die das Erzählen selbst choreographiert. Patrick Modiano, der französische Literaturnobelpreisträger von 2014, hat mit seinem neuesten Roman La danseuse (dt. Die Tänzerin) einmal mehr die Leser in sein einzigartiges, von Nebel durchzogenes Universum der Erinnerung entführt. Das nur rund hundert Seiten umfassende Werk, das im Oktober 2023 in Frankreich und im April 2025 in deutscher Übersetzung erschien, wird von Kritikern als ein Konzentrat seines Schaffens beschrieben, das seine typischen Themen und seinen unverwechselbaren Stil pflegt.
In La danseuse erzählt ein namenloser Ich-Erzähler von seiner Erinnerung an eine junge Tänzerin, die ihm vor Jahrzehnten in Paris begegnet ist – eine geheimnisvolle, flüchtige Figur mit den Namen Camille oder Brune, die in verschiedenen Episoden seines Lebens auftaucht und wieder verschwindet. Sie trainiert hart im Studio Wacker unter der Anleitung des realen Ballettmeisters Boris Kniaseff. Die Begegnungen mit ihr sind fragmentarisch, eingebettet in das diffuse Pariser Milieu von Probesälen, Cafés, zwielichtigen Bekanntschaften und verblichenen Orten. Die Figuren Modianos sind oft namenslos oder rätselhaft und scheinen stets auf der Suche nach einem verlorenen Teil ihrer Identität zu sein. Der Erzähler unternimmt den Versuch, ihr Bild zu rekonstruieren – anhand von flüchtigen Eindrücken, Gesprächen, Ortsverweisen –, doch bleibt die Figur letztlich ungreifbar. Sie gleitet durch seine Erinnerung wie ein Schatten, wie eine Bewegung, die sich nicht festhalten lässt. Der Roman verzichtet auf eine lineare Handlung und folgt stattdessen der inneren Bewegung des Erinnerns, in einer Sprache von äußerster Einfachheit und poetischer Musikalität.
Ein zentrales Thema ist die Parallele zwischen Tanz und Schreiben. Kniaseffs Aussage, dass Tanz eine Disziplin sei, die „einem das Überleben ermöglicht“, wird auf die Literatur übertragen. Der Erzähler erkennt, dass auch das Schreiben eine schwierige Übung ist, die viel Arbeit erfordert, um die Illusion von Leichtigkeit zu erzeugen. Modiano selbst, der seine Sätze „chirurgisch“ kürzt, sieht das Schreiben als eine Form der „Reinheit“. Die Tänzerin steht sinnbildlich für Modianos zentrale Themen: das Verschwinden, die Identitätsunschärfe, die melancholische Bewegung durch eine Zeit, die sich nicht fassen lässt. Der Tanz wird zur Metapher für diese Schwebe: Er ist kein Ausdruck der Bühne, sondern eine Form des Daseins im Übergang, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Präsenz und Abwesenheit. Die Erinnerung des Erzählers gleicht einer Choreographie, die um eine Leerstelle kreist. So wird La danseuse zu einem späten, fast meditativ verdichteten Werk innerhalb von Modianos Œuvre – ein poetisches Nachsinnen über die Flüchtigkeit der Begegnung, das Unrettbare im Erinnern und die Schönheit einer Bewegung, die nie ganz der Zeit gehört.
Modianos Werk ist tief von den Themen Zeit, Erinnerung und dem Altern durchdrungen, was sowohl in seinem Roman La danseuse als auch in seiner Nobelpreisrede auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommt. Diese Konzepte sind eng miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig, sowohl auf der Ebene der Charaktere als auch in der Wahrnehmung von Raum und der künstlerischen Praxis. In La danseuse sind die Spuren des Alterns und des Zeitvergehens allgegenwärtig. In seiner Nobelpreisrede ging Modiano auf ähnliche Themen ein und verband sie mit seiner persönlichen Erfahrung und seinem Schreiben. Modiano bezeichnet sich darin als „Kind der Kriegsgeneration“ und betont, dass ein Schriftsteller „auf unvergängliche Weise von seinem Geburtsdatum und seiner Zeit geprägt ist“. Die Erinnerungen an die dunkle Zeit der Besatzung in Paris sind flüchtig, und viele wollten sie vergessen. Dies erklärt, warum seine Bücher von „diesem Paris böser Träumen“ heimgesucht werden. Wie in La danseuse ist die Erinnerung auch in der Rede fragmentiert. Modiano beklagt, dass die Suche nach der verlorenen Zeit nicht mehr mit der „Kraft und Offenheit von Marcel Proust“ möglich ist, da die Erinnerung heute „viel unsicherer“ sei und „ständig gegen Amnesie und Vergessen ankämpfen“ müsse. Es gelingt nur, „Fragmente der Vergangenheit, unterbrochene Spuren, flüchtige und fast ungreifbare menschliche Schicksale“ einzufangen. Dies korrespondiert mit der Puzzle-Metapher aus La danseuse. Modiano beschreibt, wie „jeder Stadtteil, jede Straße einer Stadt im Laufe der Jahre eine Erinnerung, eine Begegnung, einen Kummer, einen Glücksmoment hervorruft“. Die Stadt wird zu einem „Palimpsest“, auf dem das gesamte Leben in übereinanderliegenden Schichten lesbar wird. Modiano merkt an, dass die Zeit sich seit dem 19. Jahrhundert „beschleunigt“ hat und „ruckartig“ voranschreitet, was die Unterschiede zwischen den „großen Romanen der Vergangenheit“ und den „diskontinuierlichen und zerstückelten Werken von heute“ erklärt.
Ainsi depuis quelques jours me revenaient, par bribes, les images d’une période très lointaine de ma vie. Jusque-là, elles étaient recouvertes par une couche de glace. J’avais quand même par instants le vague pressentiment que cela ne durerait pas. Il était fatal qu’un jour ou l’autre la glace fonde et que ces images réapparaissent comme remontent les noyés à la surface de la Seine.
So kamen mir seit einigen Tagen in Bruchstücken Bilder aus einer längst vergangenen Zeit meines Lebens zurück. Bis dahin waren sie von einer Eisschicht bedeckt. Dennoch hatte ich manchmal das vage Gefühl, dass dies nicht von Dauer sein würde. Es war unausweichlich, dass das Eis eines Tages schmelzen und diese Bilder wieder auftauchen würden, wie Ertrunkene an die Oberfläche der Seine steigen.
Modianos Konzept der Erinnerung meint eine Kraft, die latent vorhanden ist, wie Bilder, die „von einer Eisschicht bedeckt waren“, nur um unerwartet wieder aufzutauchen. Die eindringliche Metapher von „Ertrunkenen, die an die Oberfläche der Seine steigen“ legt nahe, dass diese Erinnerungen, obwohl lange unterdrückt oder vergessen, unweigerlich danach verlangen, anerkannt zu werden, manchmal auf beunruhigende oder gewaltsame Weise. Dieses unwillkürliche Wiederauftauchen der Vergangenheit ist ein Schlüsselelement seines Erzählstils und treibt die Versuche des Erzählers an, seine eigene Geschichte und seine Verbindungen zur „Tänzerin“ und anderen Figuren zu verstehen. Es unterstreicht die Vorstellung, dass die Vergangenheit niemals wirklich verschwunden ist.
Modianos Werk ist ein ewiges Wiederbeginnen, eine endlose Variation derselben grundlegenden Melodie. Seine Romane kreisen unermüdlich um die Erinnerung und das Vergessen, wobei sie die „süße Schwere der Erinnerung“ erforschen. Charaktere und Orte tauchen aus dem Nebel der Vergangenheit auf, oft unscharf und rätselhaft, wie „Erloschen geglaubte Sterne“ oder „Ertrunkene an der Oberfläche der Seine“. Die Stadt Paris ist in Modianos Büchern stets mehr als nur eine Kulisse; sie ist ein Charakter an sich. Er beschreibt ein melancholisches Paris der 1960er-Jahre, das er wie ein „schreibender Geograf“ durchstreift. Dieses vergangene Paris steht im krassen Gegensatz zum heutigen, von Touristen und Rollkoffern überfluteten „fremden Stadt“, die einem „großen Vergnügungspark oder Duty-Free-Bereich eines Flughafens“ gleicht.
Et pourquoi cela se faisait-il aujourd’hui dans une ville qui avait à ce point changé qu’elle ne m’évoquait plus aucun souvenir ? Une ville étrangère. Elle ressemblait à un grand parc d’attractions ou à l’espace « duty-free » d’un aéroport. Beaucoup de monde dans les rues, comme je n’en avais jamais vu auparavant. Les passants marchaient par groupes d’une dizaine de personnes, traînant des valises à roulettes et la plupart portant des sacs à dos…
Und warum geschah das gerade heute in einer Stadt, die sich so sehr verändert hatte, dass sie mir überhaupt nicht mehr bekannt vorkam? Eine fremde Stadt. Sie glich einem großen Vergnügungspark oder dem Duty-Free-Bereich eines Flughafens. Auf den Straßen waren viele Menschen, so viele, wie ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die Passanten gingen in Gruppen von etwa zehn Personen, zogen Rollkoffer hinter sich her und die meisten trugen Rucksäcke …
Paris wurde eine fremde Stadt, die sich so sehr veränderte, dass sie heute keine Erinnerungen mehr hervorruft und wie ein „großer Vergnügungspark oder der ‚Duty-Free‘-Bereich eines Flughafens“ erscheint, gefüllt mit anonymen Touristen. Dies spiegelt ein Gefühl der Entfremdung und des Verlorenseins in der heutigen Metropole wider. Der Text verschiebt sich jedoch dann zu der Idee, dass sich trotz oberflächlicher Veränderungen bestimmte Momente und Gesten in Paris ewig wiederholen. Der Erzähler findet sich dabei, vergangene Szenen an Orten wie dem Gare d’Orsay wiederzuerleben, die Stadt selbst bewahrt die „ewige Wiederkehr desselben“. Paris ist somit sowohl ein Ort der verlorenen Erinnerung als auch ein Gefäß für ihre hartnäckigen Echos.
„La Danseuse“ überrascht auch mit neuen Elementen. Die Einführung der Mystik, insbesondere die Verehrung der „Marie, die Knoten löst“, wird von Kritikern als neu in seinem Werk hervorgehoben.
Incandescence, béatitude, ravissement, extase, ces termes revenaient souvent dans les livres que lui avait donnés la doctoresse, et elle se souvenait de l’impression que ceux-ci lui avaient faite quand elle les avait lus pour la première fois. Elle avait fini par penser que l’on aurait pu utiliser les mêmes mots pour parler de la danse.
Glühen, Glückseligkeit, Entrückung, Ekstase – diese Begriffe tauchten oft in den Büchern auf, die ihr die Ärztin gegeben hatte, und sie erinnerte sich an den Eindruck, den sie beim ersten Lesen hinterlassen hatten. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass man dieselben Worte auch für den Tanz verwenden könnte.
Dieser Passus stellt eine Verbindung zwischen der rigorosen physischen Disziplin des Tanzes und den spirituellen Erfahrungen her, die in mystischen Texten beschrieben werden. Die Reflexion der Tänzerin, dass Begriffe wie „Glühen, Glückseligkeit, Entrückung, Ekstase“ auf den Tanz angewendet werden könnten, deutet darauf hin, dass ihre künstlerische Praxis eine Form der Transzendenz und tiefgreifenden inneren Erfahrung bietet, die mit spiritueller Erleuchtung vergleichbar ist. Dies erhebt den Tanz über bloße Performance hinaus zu einem Weg der tiefen Selbsterkenntnis und erhöhten Bewusstseins und weist auf die fast religiöse Hingabe hin, die erforderlich ist, und die transformative Kraft, die er für sie besitzt. Diese Suche nach Spiritualität wird als ein Weg zur Befreiung von belastenden Erinnerungen dargestellt. Auch eine seltene Andeutung von Erotik im jüngsten Buch, sogar einer triolistischen Szene, ist bemerkenswert. Die Rezeption des Romans ist überwiegend positiv. Er wird als „Meisterwerk“, „strahlende Perle“, „luftig“ und „zart-schön“ beschrieben. Niklas Bender würdigt in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.4.2025) Patrick Modianos jüngsten Kurzroman als eine feinsinnige Variation der bekannten modianoschen Themen, die jedoch mit überraschend neuen Akzenten aufwartet. Obwohl vieles vertraut scheint, erkennt Bender in Die Tänzerin eine besondere Radikalität im Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Tänzerin erscheint ihm als neuartige Symbolfigur für Literatur selbst: Ihre Entschlossenheit und künstlerische Ernsthaftigkeit inspirieren den Ich-Erzähler, der sich aus einer Phase der inneren Leere herausarbeitet. Bender hebt hervor, dass die Tänzerin damit weit mehr sei als eine Projektionsfläche: Sie verkörpere ein poetisches Ideal, das sich sogar mit Modianos eigener „traumtänzerischer Leichtigkeit“ vergleichen lasse. Kritiker loben Modianos Fähigkeit, auf wenigen Seiten eine tiefe Melancholie, Eleganz und die „Musik des Lebens“ zu entfalten. Obwohl manche die Wiederholung bekannter Motive in Modianos Werk anmerken, wird dies oft als bewusste Variation und Vertiefung verstanden, die das Gefühl des „ewigen Gegenwärtigen“ verstärkt. Seine einzigartige Fähigkeit, die Vergangenheit durch das Prisma der Gegenwart zu betrachten, bleibt intakt. La danseuse festigt, kann man nach der Rezeption in Frankreich und seit 2025 auch in Deutschland sagen, Modianos Ruf als Meister der Erinnerung und der leisen Töne, der es versteht, auch in der Kürze tiefe emotionale Resonanz zu erzeugen.
Tanz als Leitmotiv im Werk Modianos
Bereits in Villa triste (1975) begegnet man einer Tänzerin: Yvonne, eine ehemalige Eiskunstläuferin, bewegt sich durch das Erinnerungsgewebe des Erzählers wie eine Erscheinung aus Licht und Nebel. Der Tanz ist hier kein Spektakel, sondern Ausdruck einer inneren Leere, einer melancholischen Distanz zum Leben. Wie so viele weibliche Figuren Modianos lebt Yvonne im Rückzug, in einem Zustand halber Präsenz – und eben darin wird sie zur Figur des Erinnerns.
In Dans le café de la jeunesse perdue (2007) wird das Motiv des Tanzes nicht direkt thematisiert, ist aber in der Struktur des Romans eingeschrieben: Die wechselnden Stimmen, die zirkuläre Narration, die kreisenden Erinnerungen um eine abwesende Figur – Louki – erzeugen eine Art erzählerischen Tanz. Die Bewegung besteht hier weniger im physischen Sinne als im Wechsel der Perspektiven, im Kreisgang der Erinnerung.
Auch in Remise de peine (1988) erscheint die Bewegung der Figuren – insbesondere der geheimnisvollen weiblichen Akteure – als choreographiert: Modianos Figuren betreten Räume, um sie gleich wieder zu verlassen, bewegen sich durch Paris wie durch eine leere Bühne, wobei die Stadt zum Ort eines Erinnerungstanzes wird. Der Tanz bei Modiano ist so immer auch eine Frage der Raumwahrnehmung.
Modianos Werk folgt keinem klassischen narrativen Aufbau. Die Erzählzeit ist zersplittert, Erinnerungen werden angedeutet, aber nie erfüllt, Erzählungen versickern in elliptischen Pausen. Diese Erzählstruktur ähnelt einem choreographischen Prinzip: Figuren treten auf, drehen sich, verschwinden, kehren wieder – eine Dramaturgie des Schweigens. Das Motiv des Tanzes bildet hierbei eine strukturelle Analogie. Tanz wird bei Modiano nicht als Leistung oder Disziplin beschrieben, sondern als Zustand des Gleitens. Diese Bewegung entspricht der erinnernden Rückwendung, die keine geschlossene Wahrheit sucht, sondern das Flüchtige in einer poetischen Bewegung umkreist. Der Tanz ist dabei weniger Motiv als Methode.
Die späte Variation in La danseuse
In La danseuse kehrt Modiano zu einem zentralen Topos seines Schreibens zurück: der Vergegenwärtigung einer weiblichen Figur, die zugleich konkret und ungreifbar ist. Die Tänzerin – Camille oder Brune – bleibt durchgehend ambivalent. Sie erscheint nicht als Figur mit psychologischer Tiefe, sondern als Fragment einer Erinnerung, als Bild, das sich dem Zugriff entzieht. Der namenlose Ich-Erzähler ist dabei ganz auf sie ausgerichtet. Er begegnet ihr in einer diffusen Zeitspanne, verliert sie, sucht sie, erinnert sich an sie – und gerade diese narrative Bewegung ähnelt einem Tanz: einem vorsichtigen Annähern und Zurückweichen, einem Kreisen um eine Leerstelle. Modiano verweigert systematisch jede definitive Identität: Camille/Brune trägt verschiedene Namen, hat verschiedene Lebensabschnitte, gehört zu keiner klaren Milieuzugehörigkeit. Wie viele Figuren Modianos ist sie eine Frau, die auf dem Sprung ist – und eben darin liegt ihre Schönheit. Die Tänzerin wird zum ästhetischen Bild eines Seins im Übergang.
Selon Kniaseff, il fallait d’abord que le corps s’épuise pour atteindre à la légèreté et à la fluidité des mouvements des jambes et des bras… oui, il s’agissait à force d’exercices de « dénouer les nœuds », et c’était douloureux, mais, une fois qu’ils étaient « dénoués », alors on éprouvait un soulagement, celui d’être libéré des lois de la pesanteur, comme dans les rêves où votre corps flotte dans l’air ou dans le vide.
Laut Kniaseff musste der Körper zunächst erschöpft sein, um die Leichtigkeit und Flüssigkeit der Bewegungen der Beine und Arme zu erreichen… Ja, es ging darum, durch Übungen „Knoten zu lösen”, und das war schmerzhaft, aber sobald sie „gelöst” waren, verspürte man eine Erleichterung, die Befreiung von den Gesetzen der Schwerkraft, wie in Träumen, in denen der Körper in der Luft oder im Vakuum schwebt.
Diese detaillierte Erklärung von Kniaseff offenbart die tiefgreifende körperliche und metaphorische Bedeutung des Tanzes im Roman. Die Vorstellung, dass der Körper sich „erschöpfen“ muss, um Leichtigkeit und Fluidität zu erreichen, ist nicht nur physisches Training; es geht darum, „die Knoten zu lösen“, was eine Befreiung von emotionalen oder psychologischen Lasten suggeriert. Der „schmerzhafte“ Prozess führt letztendlich zu einer „Erleichterung“ und dem Gefühl, „von den Gesetzen der Schwerkraft befreit zu sein“, ähnlich dem Schweben in Träumen. Dies verwandelt den Tanz in einen Weg zur Befreiung und Selbsttranszendenz und spiegelt direkt die Reise der Tänzerin wider, die ihre schwierige Vergangenheit abstreift und durch ihre Kunst eine neue, leichtere Existenz findet.
Der Tanz ist in La danseuse mehr als ein Beruf. Er wird nicht in seiner Disziplin geschildert, sondern als Lebensform: Die Tänzerin tanzt in einem Zustand der Introspektion, wie in Trance. Der Erzähler beobachtet sie, aber er versteht sie nicht. Sie tanzt nicht für ein Publikum, sondern wie jemand, der eine Spur legt – eine Spur in der Zeit. Diese Spur wird zur Metapher der Erinnerung: Der Tanz der Figur hinterlässt im Erzähler einen Eindruck, eine Melodie, ein Bild – aber keine fassbare Geschichte. Der Tanz ist hier die Bewegung des Verschwindens: Er hinterlässt eine Lücke, keine Spur im klassischen Sinn, sondern eine Leerstelle, die der Erzähler füllen will. Modianos Sprache betont diese Leichtigkeit: Die Sätze sind schlicht, fast schwebend, elliptisch. Der Tanz und die Erzählung fallen ineinander: Beide folgen einer Melodie, die unterhalb der Sprache liegt. Der Text selbst wird zur Choreographie.
Der Tanz ist in La danseuse auch eine spezifische Erfahrung von Raum und Zeit: Die Räume, in denen sich die Tänzerin bewegt – Theater, Probesäle, leere Straßen – sind nie konkret lokalisiert. Sie bilden keine reale Topographie, sondern erscheinen wie Bühnen einer Erinnerung. Auch die Zeit ist nicht linear. Der Erzähler springt zwischen Jahrzehnten, zwischen einem Paris der Nachkriegszeit, den 1980er Jahren und der Gegenwart. Der Tanz wirkt wie ein Medium, das diese Zeiten verbindet: eine Bewegung, die sich der Chronologie entzieht. Die Tänzerin ist dabei diejenige, die die Zeit „trägt“. Ihr Körper erinnert, auch wenn sie selbst nicht erinnert. Der Tanz wird zur Bewegung gegen das Vergessen.
In Modianos Romanen – und insbesondere in La danseuse – ist das Erzählen selbst eine choreographische Bewegung. Es gibt keine lineare Handlung, sondern eine Anordnung von Szenen, wie Figuren auf einer Bühne. Der Erzähler bewegt sich durch Erinnerungen wie ein Tänzer durch den Raum: tastend, zögerlich, mit dem Risiko des Fehltritts. Diese Ästhetik des Gleitens steht in Opposition zu einer kausal-logischen Erzählweise. Sie erzeugt eine poetische Schwebe, in der sich Figuren entfalten können, ohne durch psychologische Plausibilität festgelegt zu sein. Der Tanz ist damit ein ästhetisches Modell: für das Erzählen ohne Zentrum, ohne Pointe.
Gleichzeitig ist der Tanz bei Modiano auch ein Widerstand: gegen das Vergessen, gegen die Geschichtslosigkeit, gegen das Ausgelöschtwerden. In Dora Bruder (1997) etwa, wo die Erinnerung an eine verschwundene Jugendliche im Zentrum steht, ist es nicht der Tanz, sondern die Bewegung des Erinnerns, die eine ähnliche Funktion erfüllt wie in La danseuse. Die Tänzerin tanzt, auch wenn niemand zuschaut. Sie tanzt, um eine Spur zu hinterlassen, auch wenn sie nur flüchtig ist. Diese Bewegung ist ein Akt des Beharrens: Die Schönheit des Körpers in der Bewegung widerspricht dem Verschwinden.
Die Sprache Modianos korrespondiert mit diesem Tanzmotiv: Ihre Schlichtheit, ihre elliptischen Phrasen, ihre Musikalität erzeugen einen Schwebezustand. Modiano verzichtet auf ausufernde Beschreibungen, auf psychologische Tiefe – gerade das erzeugt eine suggestive Atmosphäre. Insbesondere La danseuse ist in dieser Hinsicht ein Spätwerk, das auf maximale Reduktion setzt: Der Text ist durchzogen von Leerräumen, Wiederholungen, Bildern, die nicht aufgelöst werden. Der Tanz ist hier nicht nur Thema, sondern Methode der poetischen Verdichtung.
Zur deutschen Übersetzung

Elisabeth Edls erfahrene Übersetzung von La danseuse bei Hanser trifft Modianos Ton, hier nur ein kleiner Vergleich:
Nous nous trouvions dans la première pièce après la cuisine, celle qui servait de salon, et où se réunissaient de temps en temps les amis de la danseuse, sur le grand divan et le fauteuil de cuir où se tenait Pierre ce soir-là. La pièce suivante qui ouvrait sur le couloir était la chambre de la danseuse, et son fils Pierre occupait la chambre du fond.
Mais je n’ai pas un souvenir précis de la couleur des murs. Je crois qu’ils étaient d’une teinte assez sombre, et il me semble aujourd’hui que cet appartement je ne l’ai jamais vu en plein jour. Une lumière voilée, comme si les ampoules des lampes et du lustre dans le salon n’avaient pas le voltage suffisant.
Wir befanden uns im ersten Raum gleich nach der Küche, er diente als Wohnzimmer, hier kamen hin und wieder die Freunde der Tänzerin zusammen, auf dem großen Diwan und dem ledernen Fauteuil, in dem Pierre an jenem Abend saß. Der nächste Raum, der auf den Flur ging, war das Schlafzimmer der Tänzerin, und ihr Sohn Pierre bewohnte das Zimmer ganz hinten.
Ich habe jedoch keine genaue Erinnerung an die Farbe der Wände. Ich glaube, sie waren ziemlich dunkel, und heute ist mir, als hätte ich diese Wohnung nie bei Tageslicht gesehen. Ein trübes Licht, als wären die Glühbirnen in den Lampen und im Kronleuchter des Wohnzimmers nicht stark genug.
(Elisabeth Edls Übersetzung für Hanser, 2025.) 1
Das französische Original steht im Imparfait, dieses evoziert in Modianos Stil typischerweise einen Erinnerungsraum: Vergangenes, aber nicht ganz Vergangenes – ein Dämmerzustand. Edl wählt im Deutschen die naheliegende, sprachlich freilich nicht so markierte Entsprechung, das Präteritum in literarischer Erzählung kommt dem Imparfait am nächsten. Wenn Edl „le fauteuil de cuir“ mit „lederner Fauteuil“ übersetzt, ist das gegenüber dem neutralen Wort Sessel eine leicht altertümlich wirkende Wendung, die aber gut zum leicht verblassten Ambiente passt. Modianos Stil lebt stark von Licht-, Schatten- und Wahrnehmungsunschärfen. Edls Übertragung dieser poetischen Qualität ist besonders hervorzuheben. In der Passage „Mais je n’ai pas un souvenir précis de la couleur des murs. Je crois qu’ils étaient d’une teinte assez sombre, et il me semble aujourd’hui que cet appartement je ne l’ai jamais vu en plein jour“ ist die Übertragung „Aujourd’hui“ zu „heute ist mir, als …“ eine sehr treffende Entsprechung, die Modianos charakteristische Verquickung von Gegenwart und Erinnerung poetisch vermittelt. Die Lichtmetaphorik der zitierten Stelle bleibt erhalten, ebenso wie der Eindruck einer verhangenen, nie wirklich klar erlebten Szenerie. Die Formulierung „Je crois qu’ils étaient d’une teinte assez sombre“ kann in vielen Nuancen ganz verschieden klingen. „Teinte“ ist im Französischen ein relativ neutrales Wort, das aber auch einen leichten poetischen Unterton tragen kann – es meint nicht nur „Farbton“, sondern oft auch Stimmung oder Schattierung. „Assez sombre“ kann einfach „ziemlich dunkel“ heißen, aber je nach Kontext auch „eher düster“, „gedämpft“ oder sogar „schwermütig“ suggerieren – gerade bei Modiano. Die Wahl zwischen „waren“, „trugen“, „wirkten“, „erschienen“, „hatten“ usw. verändert den Eindruck der Erinnerung erheblich – von nüchtern feststellend bis poetisch andeutend. Wörtlich und neutral wäre etwa:
- Ich glaube, sie waren in einem ziemlich dunklen Farbton gestrichen.
- Ich glaube, sie hatten einen ziemlich dunklen Farbton.
- Ich glaube, sie waren ziemlich dunkel. (= Edls Version; elliptisch, reduziert)
Literarisch nuancierter wäre bspw.
- Ich meine, sie waren von einem eher dunklen Farbton.
- Ich glaube, ihr Farbton war eher düster.
- Ich erinnere mich, dass sie in einem gedeckten Dunkelton gehalten waren.
- Ich glaube, ihre Farbe war von gedämpfter Dunkelheit.
- Ich glaube, sie waren ziemlich dunkel abgetönt.
Poetisch und stimmungsvoll, aber nicht mehr übersetzerisch äquivalent, wäre etwa:
- Ich glaube, sie trugen einen fast melancholisch dunklen Ton.
- Ich erinnere mich an Wände in einem Schatten von Dunkelheit.
- Ich glaube, sie wirkten wie in dunkles Licht getaucht.
- Ich habe sie in dunklen Schattierungen in Erinnerung.
- Ich meine, ihr Ton lag irgendwo zwischen Nachtgrau und verblichenem Braun.
Das folgende „une lumière voilée“ übersetzt Edl in „ein trübes Licht“ und wählt damit eine etwas entdifferenzierte Formulierung. „Voilé“ (wörtl. „verschleiert“) ist poetischer und genauer als das nüchternere, melancholischere „trüb“. Die technische Wendung „n’avaient pas le voltage suffisant“ wird sehr frei und idiomatisch übersetzt: „nicht stark genug“. Das ist stilistisch geschmeidiger, verliert aber die Beobachtungsgabe des Originals und die Assoziationen mit einer altersschwachen Altbauelektrik leicht. Edl gelingt es, Modianos Ton zu wahren – seine zurückhaltende, melancholische, leicht verschwommene Sprache, die in einem Zwischenraum von Traum, Erinnerung und Realität angesiedelt ist. Die Unbestimmtheiten Modianos trägt Elisabeth Edl ins Deutsche, die Übertragung liest sich wie ein deutscher Modiano – und das ist ja ein erhofftes Urteil für eine literarische Übersetzung.
Fazit: Tanz als poetische Geste
Der Erzähler stellt fest, dass er sich die Frage, was aus der Tänzerin und Pierre geworden ist, „seit fast fünfzig Jahren“ stellte, aber am 8. Januar 2023 schien es ihm plötzlich, als hätte es „keine Bedeutung mehr“. Er glaubt nicht mehr, dass ihre Erinnerung wie „das Licht eines vor tausend Jahren gestorbenen Sterns“ ist, sondern dass sie einem „ewigen Jetzt“ angehören.
J’avais composé, le lendemain de notre rencontre, les deux numéros que m’avait confiés Verzini, celui de son portable et celui de son « fixe », comme il disait, mais l’un et l’autre étaient muets. Inutile d’insister. Je savais bien qu’ils ne répondraient plus. Étais-je bien sûr d’avoir rencontré ce fantôme ? Ou bien s’agissait-il d’un rêve que j’avais fait la veille de cette rencontre et que je laissais persister pendant la journée, pour oublier le présent ?
Qu’étaient devenus la danseuse et Pierre, et ceux que j’avais croisés à la même époque ? Voilà une question que je me posais souvent depuis près de cinquante ans et qui était restée jusque-là sans réponse. Et, soudain, ce 8 janvier 2023, il me sembla que cela n’avait plus aucune importance. Ni la danseuse ni Pierre n’appartenaient au passé mais à un présent éternel.
Je croyais que leur souvenir me venait comme la lumière vous vient d’une étoile morte il y a mille ans, selon les mots d’un poète. Mais non. Il n’y avait pas de passé, ni d’étoile morte, ni d’années-lumière qui vous séparent à jamais les uns des autres, mais ce présent éternel.
Am Tag nach unserer Begegnung hatte ich die beiden Nummern gewählt, die Verzini mir gegeben hatte, seine Mobilnummer und seine „feste“, wie er sie nannte, aber beide Verbindungen waren tot. Sinnlos, es weiter zu versuchen. Ich wusste genau, dass sie nicht mehr antworten würden. War ich mir sicher, dass ich diese Erscheinung getroffen hatte? Oder war es nur ein Traum, den ich in der Nacht zuvor gehabt hatte und den ich tagsüber dann aufrechterhielt, um die Gegenwart zu vergessen?
Was war aus der Tänzerin und Pierre geworden und aus all den anderen, denen ich in jener Zeit begegnet war? Diese Frage, ich stellte sie mir seit fast fünfzig Jahren und hatte, bis dahin blieb sie ohne Antwort. Und plötzlich, an diesem 8. Januar 2023, schien mir das alles keine Rolle mehr zu spielen. Weder die Tänzerin noch Pierre gehörten der Vergangenheit an, sondern einer ewigen Gegenwart.
Ich glaubte, dass ihre Erinnerung zu mir drang wie das Licht, das von einem vor tausend Jahren erloschenen Stern kommt, in der Formulierung eines Dichters. Aber nein. Es gab keine Vergangenheit, keinen erloschenen Stern, keine Lichtjahre, die uns für immer voneinander trennen, sondern nur diese ewige Gegenwart.
Ich vermute, Modiano spielt auf André Schwarz-Bart an. Der erste Satz seines Romans Le Dernier des Justes (Der Letzte der Gerechten, 1959), für den er den Prix Goncourt erhielt, lautet: „Nos yeux reçoivent la lumière d’étoiles mortes.“ („Unsere Augen empfangen das Licht toter Sterne.“) Schwarz-Bart nutzte dieses Bild, um die Erinnerung an die Vorfahren und an die während der Shoah vernichteten Leben erzählerische aufleben zu lassen. Le Dernier des Justes erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie über Jahrhunderte hinweg – von den Kreuzzügen bis zu den Vernichtungslagern der Nazis. Der Roman wurde zu einem wichtigen Werk der Shoah-Literatur und markierte einen Wendepunkt in der französischen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Beide Autoren teilen eine tiefe Beschäftigung mit der Erinnerung an vergangene Welten, mit dem Erinnern auch an jüdisches Leben und mit der Art, wie das Gedächtnis fragmentarisch und unvollständig funktioniert. Modianos Verneigung vor Schwarz-Bart erweist auch im Verneinen des Verlöschens eine literarische Kontinuität zwischen zwei Generationen französischer Schriftsteller, die sich mit den Themen Erinnerung, Verlust und der Bewahrung des Andenkens an Verschwundenes auseinandersetzen.
Sowohl auf der Ebene der Charaktere als auch in der Wahrnehmung des fremd gewordenen Paris, Stadt der Gegenwart, durch den Erzähler gibt es Hinweise Modianos, dass er La danseuse auch als Alterswerk versteht. Die Erzählung beginnt mit der Feststellung, dass die Zeit die Gesichter verwischt und die Orientierungspunkte ausgelöscht hat, sodass nur noch „einige Stücke eines Puzzles, für immer voneinander getrennt“ übrigbleiben. Bruchstücke von Erinnerungen an eine „sehr weit zurückliegende Zeit“ kehren zum Erzähler zurück, nachdem sie „von einer Eisschicht bedeckt waren“. Es ist viel Zeit vergangen, und doch können Erinnerungen unerwartet wieder auftauchen können, wie Ertrunkene in der Seine. Bei der Begegnung mit Verzini fällt dem Erzähler sofort dessen Alterung auf: Er erkennt ihn, obwohl er ihn „seit langem für tot gehalten“ hatte. Verzinis Haare sind „nicht mehr schwarz, sondern schneeweiß“. Der Erzähler beschreibt detailliert die Veränderungen in seinem Gesicht: die Wangen sind eingefallen, die Nase dünner geworden, die Augen kleiner und tiefer in den Höhlen, und die Stirn freier unter den weißen Haaren. Der Erzähler stellt einmal fest, dass „fast ein halbes Jahrhundert vergangen war“, und das reichte aus, um alles zu vergessen und „sogar ein anderer geworden zu sein in einer Stadt, in der man seine alten Spuren nicht mehr finden konnte“. Dies unterstreicht die tiefgreifenden Auswirkungen des Zeitablaufs auf Identität und Ort. Der Erzähler selbst reflektiert einmal, dass „man in meinem Alter am Ende nichts mehr sicher weiß“ und dass sich die Züge eines Gesichts in fünfzig Jahren stark verändern können, in diesem „ewigen Jetzt“.
La danseuse kann als späte Wiederaufnahme der Themen von Villa triste gelesen werden: Wieder ist es ein junger Mann, der sich an eine Tänzerin erinnert, wieder verschmilzt die weibliche Figur mit einem Bild aus Licht, Musik und Schatten. Der Unterschied liegt in der Radikalität der Leere: In La danseuse gibt es keinen Versuch mehr, die Figur zu „retten“. Sie bleibt Bild. Auch Dans le café de la jeunesse perdue ist ein Referenztext: Die Struktur der wechselnden Stimmen wird in La danseuse durch ein radikales Ich ersetzt – aber das Thema der verlorenen Zeit, der unerreichbaren Frau, des zirkulären Erinnerns bleibt.
Die Tänzerin steht in einer Reihe mit Modianos anderen weiblichen Figuren: Louki, Yvonne, Jacqueline, Geneviève. Alle sind sie schwer fassbar, leben in Übergangszuständen, entziehen sich festen Zuschreibungen. Der Tanz wird dabei zum Symbol dieser Schwebezustände. Doch gerade durch den Tanz – als Ausdruck von Körperlichkeit, Präsenz, Bewegung – gewinnt die weibliche Figur an Stärke. Sie ist nicht Opfer, sondern Akteurin eines poetischen Akts. Der Tanz bei Patrick Modiano, mehr als bloßes Motiv, ist eine poetische Struktur, eine existenzielle Bewegung und eine Form des Erinnerns, die sich dem Zugriff entzieht. In La danseuse kristallisiert sich dieser Zusammenhang: Der Tanz ist Ausdruck einer radikalen Leichtigkeit, einer ästhetischen Verdichtung, einer Gegenbewegung zum Verstummen. Die Tänzerin in diesem Roman tanzt, obwohl niemand mehr zuschaut. Sie tanzt, als würde sie sich erinnern – oder vergessen.
Anmerkungen- Die übrigen Übersetzungen habe ich, da ich nicht das ganze Buch zur Hand hatte, selbst vorgenommen, wie in diesem Blog üblich.>>>