Inhalt
Ivan Jablonka, Le Troisième Continent ou la littérature du réel, Seuil, 2024.
Einleitung: Interpretieren und Verändern
In Le Troisième Continent unternimmt Ivan Jablonka, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Sorbonne Paris Nord und Mitglied des Institut Universitaire de France (IUF), eine Neukartierung der intellektuellen Welt und der Schreibformen. Die traditionelle intellektuelle Landkarte wird demnach seit dem 19. Jahrhundert von zwei „Kontinenten“ dominiert: der Belletristik und der wissenschaftlichen Forschung. Der erste Kontinent, die „Fiktions-Literatur“, wird als Reich des Vergnügens und der Freiheit betrachtet, während der zweite, die „graue Literatur“, als Sphäre der Wahrheit und Strenge verstanden wird, wobei Romane den Sozialwissenschaften gegenübergestellt werden. Diese binäre Aufteilung, so Jablonka, sei überholt.
Die eigentliche Problemstellung liegt in der Nicht-Anerkennung oder Marginalisierung jener Schreibweisen des Realen („écrits du réel“), die weder vollständig zur Fiktion noch zur reinen akademischen Forschung gehören. Diese „umherirrenden Texte“ („textes errants“), wie Jablonka sie nennt, umfassen Berichte, Zeugenaussagen, Biografien, Reportagen, Tagebücher und Reiseberichte. Sie werden weder zur Würde des ersten Kontinents zugelassen noch vom zweiten Kontinent vollständig willkommen geheißen, der sie bestenfalls als „Quellen“ betrachtet. Jablonka fragt, wie diese Texte, die eine andere Art des Weltverständnisses und eine andere Literatur darstellen, ihren rechtmäßigen Platz finden können.
Dans leurs fleuves de sang, les violences de masse du XXe siècle ont charrié une littérature nouvelle, dont les quatre fonctions vitales – alerter, témoigner, prouver, réparer – ont permis aux survivants de ne pas complètement sombrer.
In ihren Blutströmen haben die Akte von Massengewalt des 20. Jahrhunderts eine neue Literatur hervorgebracht, deren vier wesentliche Funktionen – warnen, bezeugen, beweisen, wiedergutmachen – den Überlebenden halfen, nicht vollständig zu versinken.
Das zentrale Anliegen des Buches ist die Versöhnung der literarischen Kreation mit den Sozialwissenschaften. Jablonka schlägt die Existenz eines „dritten Kontinents“ vor, wo „Wahrheits-Literatur“ („littérature-vérité“) verortet ist, die sich gleichermaßen von Fiktionsliteratur wie grauer Literatur unterscheidet. Das Korpus dieser Literatur des Realen ist reicht von Massenpresse-Erzeugnissen des späten 19. Jahrhunderts bis hin zu den literarischen Zeugnissen der Gegenwart. Seine eigene Arbeit versteht er als Versuch, das Unrecht der „Verschwundenen“ zu „reparieren“, im Sinne der Wiedergutmachung bzw. Reparation. Das Ziel ist es, eine Literatur zu schaffen, die die Welt interpretiert und verändert.
Die entscheidenden Fragen, die Jablonka in diesem Werk aufwirft, sind vielfältig: Wie kann man schreiben, für wen und warum, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Fiktion und die Definition von Literatur? Wie können die Sozialwissenschaften durch die Annahme einer literarischen Dimension modernisiert werden, ohne ihre wissenschaftliche Genauigkeit zu verlieren? Und wie kann die Forschung ihre eigene Form reflektieren und dabei das „Ich“ des Forschenden integrieren?
Dieses jüngste Werk von Jablonka ist nicht als isolierte Veröffentlichung zu verstehen, sondern als eine Weiterentwicklung seiner bereits in L’Histoire est une littérature contemporaine: manifeste pour les sciences sociales (2014) dargelegten theoretischen Überlegungen. In diesem früheren Manifest für die Sozialwissenschaften argumentierte Jablonka bereits, dass Geschichtsschreibung, Soziologie und Anthropologie durch die Schaffung literarischer Texte, die ein breites Spektrum narrativer Modi und rhetorischer Figuren nutzen, sowohl eine größere Genauigkeit als auch ein breiteres Publikum erreichen können. Die Wiederholung und Verfeinerung dieser Kernidee, die Brücke zwischen Sozialwissenschaften und Literatur zu schlagen, deutet darauf hin, dass Le troisième continent eine Kulmination oder eine weitere Ausarbeitung eines langjährigen intellektuellen Vorhabens darstellt. Es ist ein Sammelband aus Artikeln, Rezensionen, Interviews und Reden, der Einblicke in Jablonkas Arbeitsweise als Historiker und Herausgeber bietet. Die konsistente Entwicklung dieser Ideen über mehrere Werke hinweg zeigt einen nachhaltigen Versuch von Jablonka, disziplinäre Grenzen und Methoden neu zu definieren. Die Bedeutung von Le troisième continent lässt sich daher nur vollständig erfassen, wenn man es als eine ausgereifte Artikulation seiner Vision innerhalb einer breiteren intellektuellen Laufbahn betrachtet.
Argumente
Vom Roman zur Untersuchung
Jablonka skizziert seinen eigenen Weg vom Romanautor zum Historiker als exemplarisch für die Entstehung dieses „dritten Kontinents“. Er begann als angehender Schriftsteller, der nach den großen Romanen der Bibliothek seiner Mutter strebte und mehrere Romane verfasste, die jedoch alle von Verlagen abgelehnt wurden. Er schloss seine „belletristischen Hefte“ und gab seine „Berufung“ auf, stattdessen konzentrierte er sich auf seine Geschichtsthese. Seine späteren Werke wie Histoire des grands-parents que je n’ai pas eus und Laëtitia sind „Geschichtswerke, in denen alles wahr ist“. Nichts ist erfunden, alles ist belegt und basiert auf Dokumenten und Zeugenaussagen. Jablonka betont, dass er im Gegensatz zu Romanautoren nichts ausschmückt und sein Anliegen auf Gewissheit abzielt. Dies führte ihn zur Erkenntnis, dass „Forschung der Literatur nicht widersprach und dass es möglich war, an einer Schöpfung in den Sozialwissenschaften zu arbeiten“. Für ihn wurde die Geschichte zu seiner „literarischen Schule“, die ihn zu Nüchternheit, Klarheit, Präzision und intellektueller Strenge verpflichtete. Seine Ästhetik liegt darin, die Strukturen des menschlichen Handelns sichtbar zu machen und diese mit den Strukturen des Textes in Einklang zu bringen. Er wollte keine Charaktere mehr erschaffen, sondern Formen. Ein Schlüsselkonzept ist die „Fiktion der Methode“ („fiction de méthode“), die er definiert als „gestützte, angenommene, gerahmte Fiktionen, die als solche zur Argumentation beitragen“. Dies können Hypothesen, kontrafaktische Argumentationen oder Anachronismen sein, die im Rahmen einer Beweisführung genutzt werden, um die Realität besser zu erklären. Das Romanhafte („romanesque“) kann somit als narratives Element in den Sozialwissenschaften existieren, ohne die Anforderung an die Genauigkeit zu beeinträchtigen.
Der Diskurs der Methode
Jablonka unterscheidet zwischen „Texten“ und „Nicht-Texten“ („non-textes“) in der akademischen Produktion. Während „Nicht-Texte“ rein instrumental und sprachlich tot seien, dazu bestimmt, eine Botschaft zu übermitteln und ihre Literarität abzuwehren, um die Wissenschaftlichkeit nicht zu gefährden, sind „Texte“ Werke, die über den Kreis der Kollegen hinaus ein breiteres Publikum erreichen. Er argumentiert, dass die Forschung ohne Schreiben unvollständig ist, „Waise ihrer Form“. Die literarische Dimension eines Textes muss nicht „hübsch, schick oder wünschenswert“ sein, sondern beruht auf einer Konzeption der Sozialwissenschaften im Dialog mit der literarischen Schöpfung, die darauf abzielt, Formen und „Forschungs-Texte“ zu erfinden. Ein zentrales Element seiner Methode ist das „Ich der Methode“ („je de méthode“). Dieses „Ich“ dient dazu, die Position des Forschenden zu verdeutlichen, den Forschungsprozess zu erzählen und die Begegnungen und Reisen des Autors transparent zu machen. Es ist eine Reflexion über die eigene Subjektivität, die nicht aus Narzissmus, sondern aus wissenschaftlichen Gründen notwendig ist, um die Voreingenommenheit zu minimieren und die eigene Verortung explizit zu machen. Das „Ich der Methode“ ist somit eine „Subjektivität, die vom Narzissmus gerettet wurde“. Die Pluridisziplinarität ist ebenfalls ein Eckpfeiler seiner Methode. Jablonka zufolge geht es nicht darum, verschiedene Disziplinen nebeneinanderzustellen, sondern darum, „alle Sozialwissenschaften sowie die von ihnen geschaffenen Werkzeuge zu mobilisieren, um die Probleme zu beantworten, die sich die Forscher stellen“. Dies zeigt sich etwa in seinen Biografien, wie der über Jean Genet, die Geschichte, Soziologie und Literaturwissenschaften vereint.
Literatur ohne den Roman
Jablonka wendet sich entschieden gegen die Gleichsetzung von Literatur mit dem Roman und Fiktion. Er fragt, was aus Poesie, Theater, Essay, Tagebüchern, Geschichte und Soziologie würde, wenn der Roman das alleinige Zentrum der Literatur wäre. Sein Buch Laëtitia wird oft „wie ein Roman“ gelesen, doch er lehnt diese Bezeichnung ab, da sie zu eng mit Fiktion verbunden ist. Stattdessen bevorzugt er den Begriff der „Untersuchung“ („enquête“), der den Journalismus, die große Reportage, die Lebensgeschichte, die Autobiografie, den Reisebericht, das Zeugnis und die Geisteswissenschaften verbindet. Die Untersuchung könnte für das 21. Jahrhundert werden, was der Gesellschaftsroman für das 19. Jahrhundert war: ein Unternehmen zur Entschlüsselung der Welt. Jablonka definiert Literatur nicht primär durch Fiktion, sondern als „eine Arbeit an der Sprache, eine narrative Konstruktion, ein Geflecht von Stimmen, einen Rhythmus, eine Atmosphäre, die Entdeckung eines Anderswo, die Klärung des Wahren“. Dies ist eine offene Definition, die die Sozialwissenschaften nicht ausschließt.
Der Zorn der Wahrheit
Für Jablonka ist das Schreiben oft von einem Zorn getragen – „Zorn gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit“. Dies zeigt sich besonders in seinem Werk über Laëtitia Perrais, wo er nicht das Verbrechen oder den Kriminellen in den Mittelpunkt stellt, sondern die „Verschwundene“ („disparue“) selbst. Sein Ziel ist es, ihr Leben jenseits ihres Todes zu erzählen und sie aus der Anonymität der „Opfer“ zu befreien. Er betrachtet Laëtitias Leben als ein „totales soziales Faktum“ („fait social total“) im Sinne von Marcel Mauss, das die tieferen gesellschaftlichen Verwerfungen offenbart – von männlicher Gewalt bis hin zu sozialen Ungleichheiten und dem Versagen staatlicher Institutionen. Dies erfordert eine „totale Untersuchung“, die sowohl mikro- als auch makroskopische Dimensionen verbindet. Er legt großen Wert darauf, seinen Arbeitsprozess transparent zu machen: „Es erscheint mir wichtig, im Buch zu erzählen, wie ich gearbeitet habe, wen ich gesehen habe.“ Für ihn ist die narrative und die Wissenskonstruktion dasselbe.
Die Geisteswissenschaften modernisieren
Jablonka kritisiert, dass die Geisteswissenschaften oft an Methoden und Schreibweisen festhalten, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, und sich von moderneren Formen der Erzählung und Darstellung abkoppeln. Er plädiert dafür, dass die Forschung nicht nur auf Zitate und Kommentare reduziert wird, sondern auch zur Schöpfung fähig ist. Die Literarizität stärkt die Methode der Sozialwissenschaften, anstatt sie zu schwächen. Er fordert die Integration von Imagination, Kühnheit und Strenge, um „eine Methode in einer Literatur“ zu praktizieren. Die Konsequenzen der Methode sind literarisch: Das „Ich“ dient dazu, die eigene Perspektive zu klären, die Untersuchung zu erzählen, die Leidenschaft des Fragens zu nutzen und zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu wechseln. Er betont, dass die „Form der Funktion folgt“ – dass die Schreibweise aus der Methode resultiert. Jablonka nennt konkrete Beispiele für diese Erneuerung: Jean Rouchs und Edgar Morins Film Chronique d’un été, Joe Saccos Graphic Novel Gaza 1956 und Kriminalromane, die gleichzeitig ethnographische und historische Studien sind. Diese neuen Formen sollen nicht nur fesseln und bewegen, sondern auch besser argumentieren und Wissen vermitteln.
Die Präsenz der Verschwundenen
Jablonkas eigene familiäre Geschichte – als „Shoah-Kind“ und Enkel von Deportierten – prägt seine Forschung. Seine Bücher, wie Histoire des grands-parents que je n’ai pas eus, sind Versuche, die Geschichte seiner Angehörigen zu erforschen und dabei das Familiäre, das Unbekannte und das Unrecht zu überwinden. Er unterscheidet hierbei das „Ich der Filiation“ („je de la filiation“), das „Ich des Humanen“ („je de l’humain“) und das „Ich des Untersuchers“ („je de l’enquêteur“). Letzteres ist das wichtigste, da es die Konstruktion der Geschichte sichtbar macht und die eigene Rolle als Forscher reflektiert. Dies steht im Gegensatz zur traditionellen „Ego-Geschichte“ (ego-histoire), die oft eine Trennung zwischen persönlicher Erzählung und akademischer Arbeit aufrechterhält. Jablonka plädiert dafür, dass das „Ich“ im gesamten wissenschaftlichen Prozess präsent und sichtbar ist. Die Geschichte ist für ihn ein Kampf gegen das Nichts und das Vergessen, insbesondere im Kontext des Genozids, der darauf abzielt, Leben und die Erinnerung daran auszulöschen. Er möchte „Abwesenheit in Präsenz verwandeln“. Dies ist eine der zentralen Aufgaben des Historikers. Sein Werk über seine Großeltern ist ein Versuch, sie aus dem „Nichts“ zu entreißen und ihnen ihr Leben zurückzugeben. Er verweist auf Daniel Mendelsohns Les Disparus, das das individuelle Schicksal im Genozid hervorhebt, und Edmund De Waals The Hare with Amber Eyes, das Familiengeschichte mit größeren historischen Fragen durch Objekte verbindet. Beide Werke sind Beispiele für die Fähigkeit, über die „kleinen Dinge“ des Alltags das „große Ganze“ zu verstehen.
Eine zentrale Kritik an Le troisième continent, die von Alexandra Arsene 1 vorgebracht wird, betrifft die anfängliche thematische Begrenzung des „Dritten Kontinents“. Arsene stellt fest, dass das Buch „auf eine bestimmte Anzahl von Autoren beschränkt ist, die alle mit einem spezifischen Thema verbunden sind: dem Holocaust“. Sie argumentiert, dass die Merkmale der Texte, die diesem „dritten Kontinent“ zugeordnet werden könnten, nicht auf ein einziges Thema beschränkt sein sollten. Stattdessen sollten die Auswahlparameter „zusätzlich zu den Themen, die variieren könnten (Kommunismus, verschiedene Kriege, Naturkatastrophen, Familien- oder persönliche Geschichten) – mit den von den Autoren verwendeten Techniken und Methoden sowie der Art der Darstellung verknüpft sein“. Als Beispiel für eine breitere Anwendbarkeit schlägt Arsene vor, dass die Literatur über die „kommunistische Erinnerung“, insbesondere von Autoren wie Svetlana Alexievich und Vasile Ernu, „ein integraler Bestandteil dieser in Osteuropa produzierten Literatur des Realen sein könnte“. Diese „persönliche nicht-fiktionale Literatur“ konzentriere sich auf „sichtbare Traumata auf individueller und gesellschaftlicher Ebene“, im Gegensatz zur Holocaust-Literatur, die sich stärker mit „Spuren, Verschwinden“ befasst.
Zeugen und Vermesser
Jablonka sieht Schriftsteller wie Primo Levi, Georges Perec und Annie Ernaux als Pioniere dieser Literatur der Realität. Georges Perec wird als „Forscher in den Sozialwissenschaften“ bezeichnet, nicht im Sinne eines formalen Titels, sondern als Schriftsteller, der Forscher durch seine Methode, seine Auseinandersetzung mit dem „Infra-Gewöhnlichen“ („infra-ordinaire“) und seinen Umgang mit Einschränkungen inspiriert. Perecs Fähigkeit zur Distanzierung („estrangement“) ermöglicht es ihm, „die Realität aus einem anderen Blickwinkel“ zu sehen, was sowohl einen literarischen als auch einen wissenschaftlichen Akt darstellt. Seine Listen und Forschungen sind Versuche, sich zu erinnern und das Ausmaß des Genozids zu messen, zu einer Zeit, in der sich Universitätshistoriker kaum dafür interessierten. Annie Ernaux’ Werk wiederum artikuliert das Intime und das Kollektive in einer „auto-sozio-biographischen“ Weise. Ihre Methode besteht darin, „das Ich“ („je“) des Autors vom „Sie“ („elle“) der Figur oder vom „Man“ („on“) und „Wir“ („nous“) des Kollektivs zu trennen, um eine „kollektive Autobiografie“ zu schaffen. Ihre „flache Schreibweise“ („écriture plate“) ist „tiefgründig“, weil sie die soziale Struktur durch die Textstruktur offenbart, wodurch „das Intime historisch wird“. Ein weiteres Beispiel für die Erneuerung der Formen ist die Verbindung von Geschichte und Comic. Werke wie Art Spiegelmans Maus oder Joe Saccos Gaza 1956 sind Beispiele für „gezeichnete Untersuchungen“ („enquêtes dessinées“) oder „grafische Sozialwissenschaften“ („sciences sociales graphiques“), die die gleichen Ziele verfolgen wie große Reportagen und wissenschaftliche Forschungen: verstehen, beweisen und darstellen. Saccos Gaza 1956 zeichnet sich durch lange Recherchen, minutiöse Karten, Zeugenbefragungen und das Hinterfragen der Glaubwürdigkeit von Aussagen aus, ergänzt durch schriftliche Dokumente. Dies zeigt, dass historische Argumentation in grafischen Künsten verkörpert werden kann.
Literarische Beispiele
Ivan Jablonka diskutiert eine Reihe von literarischen Texten, die sein Konzept der „Literatur des Realen“ oder der „Sozialwissenschaften als Literatur“ untermauern oder beeinflussen. Er folgert aus diesen Interpretationen, dass sich literarisches Schaffen und sozialwissenschaftliche Forschung versöhnen und gegenseitig bereichern können, indem sie die Wahrheit über die Welt offenbaren und neue Formen des Wissenserwerbs und der -vermittlung schaffen.
Hier sind fünf konkrete Beispiele literarischer Texte, die Jablonka für seine Argumentation bearbeitet, und seine Schlussfolgerungen aus ihrer Interpretation:
Primo Levis Die Waffenruhe (La Trêve) ist ein Reisebericht, der Levis neunmonatige Heimreise nach seiner Befreiung aus Auschwitz beschreibt. Es liest sich wie ein Schelmenroman, eine Anleitung zum Staunen, während es die Erfahrungen des Überlebens in einem Europa, das nach der nazistischen Raserei wieder zum Leben erwacht, festhält. Levi wird als „Meister des Wissens um das Wiedererwachen zum Leben“ ( maître du savoir-revivre) bezeichnet. Jablonka sieht ihn nicht nur als Zeugen, sondern auch als großen Schriftsteller und Selbsterforscher, der literarisches Schaffen und die Qualität der Argumentation miteinander verbindet. Levis Werk ist ein Beispiel für die „Literatur des Überlebens“ und die „Literatur der Wahrheit“, die darauf abzielt, zu alarmieren, Zeugnis abzulegen, zu beweisen und zu reparieren.
Das Werk von Georges Perec (insbesondere Die Dinge, W oder die Kindheitserinnerung, Der infra-ordinäre) ist äußerst vielfältig, das Œuvre umfasst Romane, Erzählungen, Autobiografien, Kreuzworträtsel und unklassifizierbare Texte. Seine Werke behandeln unter anderem die Konsumgesellschaft (Die Dinge), Kindheitserinnerungen und den Holocaust (W oder die Kindheitserinnerung), jüdische Identität (Ellis Island) und die Anthropologie des Alltags (L’infra-ordinaire). Perec kann als „Sozialwissenschaftler“ betrachtet werden. Er „erfand“ Forschungsobjekte, stellte Fragen und vertiefte Probleme. Seine „Methode des ‚Ich‘“ ( je de méthode) und das Konzept des „infra-ordinären“ sind Werkzeuge zum Verständnis der Gesellschaft. Perecs „Literatur unter Zwang“ ( littérature sous contrainte) wird mit der historischen Methode verglichen, bei der Einschränkungen zu neuer Schöpfung und Wissensproduktion führen. Sein Werk ist zutiefst historisch und soziologisch und zielt darauf ab, die Welt zu verstehen und neue Formen für die Sozialwissenschaften zu erfinden. Er verkörpert die „Literatur-Wahrheit“.
Das Werk von Annie Ernaux (insbesondere Der Platz, Die Scham, Die Jahre) umfasst autobiografische Werke, die das Intime und das Kollektive miteinander verknüpfen und Selbsterkenntnis mit Sozio-Geschichte verbinden. Ernaux praktiziert Autobiografie als eine Soziologie des Selbst (sociologie de soi), bei der das Privatleben in die Gesellschaft eingebettet ist und die Familiengeschichte untrennbar mit der Zeit verbunden ist, die ihr Sinn verleiht. Ihre „flache Schreibweise“ (écriture plate) spiegelt ihre Ablehnung der Fiktion und ihren ethischen und ästhetischen Ansatz wider, eine individuelle Existenz als gesellschaftliches Phänomen verständlich zu machen. Ihre Texte lassen mehrere Subjektivitäten koexistieren, um eine kollektive Autobiografie zu bilden. Sie erfindet Literatur neu, indem sie gewöhnlich und universell bleibt und der Realität nahesteht.
Joe Saccos Gaza 1956 (im Original Gaza 1956: Footnotes in Gaza) ist eine Graphic Novel/Reportage über Massaker an Zivilisten im Gazastreifen im Jahr 1956. Saccos Werk nach Jablonka eine „methodische Untersuchung“ (enquête méthodique) auf der Suche nach einer vergessenen Wahrheit. Jablonka lobt seine strenge Methodik, einschließlich langwieriger Ermittlungen, detaillierter Karten, Sammlung von Zeugenaussagen, Überprüfung und Eingeständnis von Zweifeln. Es verwischt die Grenzen zwischen Zeichner, Reporter und Historiker und zeigt, dass historische Argumentation in den grafischen Künsten verkörpert werden kann. Gaza 1956 veranschaulicht, wie gezeichnete Untersuchungen die Ziele und Schwierigkeiten sozialwissenschaftlicher Forschung teilen: zu verstehen, zu beweisen und darzustellen.
Edmund De Waals Der Hase mit den Bernsteinaugen (im Original The Hare with Amber Eyes) ist eine Familiensaga, die eine Sammlung von Netsukes (japanische Miniaturen) über Generationen der Familie Ephrussi, Getreidehändler und Bankiers in ganz Europa, verfolgt, bis hin zum Autor selbst, einem Keramiker. Obwohl das Werk von einem Künstler stammt, ist es zutiefst ein Geschichtsbuch, da es Fragen stellt, die über die besondere Familiengeschichte hinausgehen: die Verzweigung von Familien und Vermögen im Europa des 19. Jahrhunderts, die trügerische Assimilation westeuropäischer Juden vor der Shoah, Familienmigrationen, die Zirkulation von Objekten und die Einzigartigkeit des Kunstwerks in einem Zeitalter der industriellen Massenproduktion. De Waals Gebrauch eines „dreifachen Ichs“ (Familienlinie, Ermittler, Emotion) bereichert den Argumentations- und Forschungsprozess und erhöht Transparenz und Reflexivität. Es zeigt, dass historisches und soziologisches Denken im Herzen des Literarischen verankert sein kann. Das Buch ist ein „hybrides Objekt“, das die Debatte zwischen Historikern und Literatur neu formuliert und beweist, dass ein Keramiker ein Historiker und ein Historiker ein Schriftsteller sein kann, indem er Sensibilität, Reflexivität, narrative Konstruktion und wissenschaftliche Verfahren miteinander verbindet.
Insgesamt folgert Jablonka aus der Interpretation dieser Texte, dass eine neue „Kartografie der Schriften“ notwendig ist, die über die traditionelle Trennung von Roman-Fiktion und „grauer Literatur“ (wissenschaftliche Forschung) hinausgeht. Er schlägt den „dritten Kontinent“ als Konzept vor, auf dem sich die Literatur des Realen entfaltet, angetrieben von dem Wunsch zu verstehen und strukturiert durch die Sozialwissenschaften. Diese „Wahrheits-Literatur“ („littérature-vérité“) ist fähig, die Welt zu reflektieren und zu erklären, Ungerechtigkeiten anzuprangern und soziale Veränderungen herbeizuführen. Die Literatur der Sozialwissenschaften ist nicht nur möglich, sondern notwendig, um eine tiefere und zugänglichere Kenntnis der Realität zu vermitteln.
Die Etablierung des „dritten Kontinents“ als legitime literarische Kategorie hängt stark von der Akzeptanz durch das Publikum und die Kritik ab. Die positiven Rezensionen, die Jablonkas Ansatz loben, tragen dazu bei, diesen Konsens zu bilden und die neue Form zu kanonisieren. Die Diskussionen über die „Lücke“ oder das „Defizit an Bekanntheit und Würde“ des „dritten Kontinents“ unterstreichen die Notwendigkeit einer aktiven Rezeptionsarbeit, um diese neue Form zu etablieren. Die Tatsache, dass Jablonkas frühere Werke wie Laëtitia (2016) und Goldman (2023, vgl. die Besprechung in diesem Blog) bereits breite Anerkennung und Preise erhalten haben, deutet darauf hin, dass sein Ansatz bereits eine gewisse Kanonisierung erfahren hat, was die Rezeption von Le troisième continent beeinflusst und die Grundlage für seine weitere Akzeptanz bildet.
Folgen für die französische Gegenwartsliteratur
Jablonkas Überlegungen haben weitreichende Konsequenzen für die französische Gegenwartsliteratur. Sie fordern eine grundlegende Umorientierung weg vom dominierenden Roman als alleiniger Referenzgröße. Stattdessen wird die „Untersuchung“ („enquête“) zum neuen Gravitationszentrum der Schreibformen. Dies bedeutet eine Legitimierung der „Wahrheits-Literatur“ („littérature-vérité“), die sich deutlich von der reinen Fiktion und der traditionellen grauen Literatur abhebt. Die Förderung hybrider Formen und einer echten Pluridisziplinarität ist eine direkte Folge. Literatur wird nicht mehr als isolierte künstlerische Sphäre betrachtet, sondern als ein Raum, der offen ist für die Methoden, Fragen und Erkenntnisse der Sozialwissenschaften – Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Geografie und Politikwissenschaften. Dies ermutigt Autoren, ihren Rechercheprozess sichtbar zu machen, das „Ich der Methode“ zu verwenden und die eigene Verortung im Text zu explizieren, was die Transparenz und Ehrlichkeit der Darstellung erhöht. Die Konsequenzen sind auch zivilgesellschaftlicher Natur: Eine solche Literatur will „die Wahrheit sagen und die Welt verändern“. Sie trägt dazu bei, komplexe gesellschaftliche Phänomene verständlicher zu machen und Klarheit in undurchsichtigen Zeiten zu schaffen, in denen Populismus und „Fake News“ grassieren. Indem sie das Wissen für ein breiteres Publikum zugänglich und teilbar macht, trägt sie zur Vertiefung der Demokratie bei. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst verschwimmt, was eine lebendigere und relevantere Literatur ermöglicht, die gleichzeitig streng und zugänglich ist.
Der Ertrag von Jablonkas Le Troisième Continent liegt in seiner konsequenten Neudefinition von Literatur und wissenschaftlicher Forschung. Er überwindet die starren Grenzen zwischen Fiktion und Sachtext, indem er einen neuen Raum für die „Literatur der Realität“ eröffnet, die tief in den Methoden der Sozialwissenschaften verwurzelt ist. Seine Hauptthese ist, dass Wahrheits-Literatur nicht notwendigerweise fiktional sein muss, sondern durch die Qualität ihrer Erkenntnis, ihre methodische Strenge und ihre Fähigkeit, die Welt zu verstehen und zu erklären, definiert wird. Der „dritte Kontinent“ ist ein Ort der Begegnung, an dem das „Ich“ des Forschenden nicht aus Narzissmus, sondern aus methodischer Transparenz in den Text integriert wird, um die Objektivität zu stärken. Die Erkenntnis, dass die Forschung selbst eine Suche nach ihren Formen ist, führt zu einer Innovationsbereitschaft in den Humanwissenschaften, die sich traditionell zu sehr an veralteten Darstellungsweisen festklammerten. Das Buch ist ein Aufruf zu einer „Schöpfung in den Sozialwissenschaften“, die sowohl intellektuell anspruchsvoll als auch für ein breites Publikum zugänglich und relevant ist.
Die „Wahrheits-Literatur“, die aus einer „Versöhnung“ von Literatur und Sozialwissenschaften hervorgeht, bietet nicht nur eine neue Kartographie des Wissens, sondern auch eine neue Form des kollektiven Engagements. Indem sie menschliche Erfahrungen – ob individuelle Traumata wie in Laëtitia oder kollektive Tragödien wie die Shoah – mit der präzisen Linse der Forschung beleuchtet, ermöglicht sie eine tiefere Empathie und ein fundiertes Verständnis der Welt. Diese Literatur wird zu einem „Therapeutikum der Demokratie“, das nicht nur Fakten liefert, sondern auch die emotionalen und sozialen Resonanzen von Geschichte erforscht. Sie hilft uns nicht nur, die Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, die Gegenwart zu verarbeiten und die Zukunft mit größerer Klarheit und Menschlichkeit zu gestalten. Es ist eine Literatur, die uns lehrt, nicht nur zu wissen, sondern auch zu fühlen und zu handeln, basierend auf einer fundierten und geteilten Wahrheit, die dem Vergessen entgegenwirkt und die Wunden der Geschichte heilen hilft.
Anmerkungen- Alexandra Arsene, „The historification of the Personal: The Return of Reality in Literature“, Researchgate, Mai 2025. – „Istorificarea normalității: O întoarcerea a realului în literatură“, Meridian critic 2 (2024): 223-37.>>>