Man kaut all das
Der Anfang von Raphaël Sigals Géographie de l’oubli (Laffont, 2025, Prix Méduse) trägt die sprechende Überschrift „Fausse route“ – ein Verweis auf das Verfahren der Umwege, des falschen Starts, der Unmöglichkeit, den „richtigen“ Zugang zu finden. Sigal beginnt nicht mit einer kohärenten Familiengeschichte, sondern mit dem Eingeständnis des Scheiterns, das sich in die Textgestalt einschreibt. Die Eingangspassage ist paradigmatisch für den ganzen Roman: sie setzt die entscheidenden Motive – Erinnerung und Vergessen, Schweigen und Sprechen, jüdische Ritualpraxis und literarische Poetik, Misstrauen gegenüber Fiktion und zugleich das unausweichliche Einschreiben ins Fiktionale.
Der erste Satz – „Je grandis dans une famille sans histoire“ – ist bereits ein palimpsestartiges Produkt von Korrektur. Ursprünglich stand da „J’ai grandi…“, eine abgeschlossene Vergangenheit, die der Autor im Schreibprozess bewusst durch die offene Dauerform des Präsens ersetzt. Diese kleine Verschiebung verweist auf das Kernproblem: jede Vergangenheitsform erstarrt die Erfahrung zu einem Bild, einer statuarischen Darstellung, die der Realität der Überlebenden nicht gerecht wird. „Verben in der Vergangenheitsform statuisieren Szenen, zwingen sie in einen Rahmen, der nach Roman riecht“ 1 – dieser Verdacht gegenüber der Fiktionalität ist fundamental. Sigal sucht nach einer „grammaire“ und „lexique“, die es erlauben, das Geschehen zu schreiben, ohne es zu verraten.
Um der Erzählung die „Intensität des erlebten Moments“ zu verleihen, versucht der Erzähler, sich der Vergangenheit zu entledigen und die Erinnerungsfragmente in ein „warmes und formbares Präsens“ (présent chaud et malléable) zu gießen. Aber auch der Satz „Ich wachse in einer Familie ohne Geschichte auf“ funktioniert nicht. Obwohl das Passé Composé namentlich erwähnt wird, wird die Verwendung von Vergangenheitsformen generell als problematisch angesehen, da sie die Szenen zu sehr verfestigen und ihnen einen romanhaften Anstrich geben. Der Text bewegt sich daher in seinen Entwürfen zwischen dem verworfenen Passé Composé, dem ebenfalls nicht funktionierenden Präsens und sogar dem Conditionnel, der die „Möglichkeit der Erzählung dessen, was ihm nicht übermittelt wurde“ begründen soll.
Die Szene des Familienmahls, die Sigal beschreibt, ist zunächst in das jüdische Ritual des Seder eingebettet. Die symbolischen Speisen – Lammknochen als Zeichen des Opfers, die Bitterkräuter für das Leiden der Vorfahren, das Charosset als Mörtel, das Salzwasser für die Tränen – verweisen auf die biblische Geschichte der Befreiung aus Ägypten. Sigal beschreibt, wie dieses Ritual zugleich die historische Erfahrung der eigenen Familie überlagert: „Man kaut all das, um schon von Kindheit an die dramatische Geschichte der biblischen Vorfahren zu verinnerlichen, überlagert von der Geschichte der realen Vorfahren, die im Laufe der Generationen immer wieder aktualisiert wird.“ 2 In der Verschränkung von liturgischem Gedenken und familiären Traumata liegt das doppelte Gedächtnis, das der Text kartographieren will.
Das Ritual selbst ist performativ: man liest, singt, diskutiert, lacht, schweigt, und vor allem isst man. Sigal insistiert auf der Körperlichkeit des Erinnerns: „Wir lesen unsere Geschichte, wir singen sie, wir diskutieren sie, wir verschlingen sie.“ 3 Geschichte wird nicht nur erzählt, sondern durch den Mund, durch den Geschmack, durch die Gesten des Trankopfers eingeschrieben. Erinnerung ist hier somatisch, aber auch brüchig, da sie jederzeit von Lachen, Müdigkeit, Störungen unterbrochen wird. Gerade in diesen Brüchen treten die „bouts de phrases“ auf, die der Erzähler als sein Erbe beschreibt.
Der Großvater bringt diese Fragmente hervor: „Ich habe mein Leben riskiert (sie sind gestorben); ich hätte sterben können (sie sind gestorben).“ 4 Sigal deutet diese Splitter, indem er „mes mots d’adulte“ in den Mund des Großvaters legt: „Ich bin tot und sitze hier an diesem Tisch und erzähle Ihnen, wie ich dem Tod entkommen bin und ihn durchlebt habe.“ 5 Hier wird das Dilemma sichtbar: Das Zeugnis des Großvaters existiert nur als nachträgliche Übersetzung durch den Enkel. Es ist stets schon vermittelt, schon geschrieben, nie authentisch. Zugleich wird die Spannung zwischen der Sprechkraft des Großvaters und dem Schweigen der Großmutter inszeniert: „Meine Großmutter ist da, sie sagt nichts.“ 6 In dieser Polarisierung – fragmentarische Rede hier, schweigende Abwesenheit dort – setzt sich die Familiengeschichte als Erbe der Lücke fort.
Die Szene kippt in ein Unheimliches, als das Schweigen am Tisch „wie die Rauchsäule eines unsichtbaren Feuers“ 7 beschrieben wird. Das Bild der Rauchwolke verweist auf die Assoziationen von Shoah, Asche, verbrannten Körpern – und zugleich auf die Wolkensäule, die im Exodus-Mythos das Volk Israel durch die Wüste führt. Hier überlagern sich erneut biblisches Narrativ und historische Vernichtung. Der Rauch ist Erinnerung und Auslöschung zugleich, genau das Spannungsverhältnis, das Sigal im Begriff Shoalzheimer später verdichten wird.
Das Kapitel thematisiert auch das Verhältnis von Erinnerung und Fiktion. Sigal macht deutlich, dass jede Niederschrift, jede Rekonstruktion im Netz der Fiktion gefangen ist: „Jedes Mal, wenn ich die Worte dieses schweigsamen Großvaters niederschreibe (und im Hintergrund das Unausgesprochene mitschwingen lasse), verheddere ich mich in den Netzen der Fiktion.“ 8 Diese Skepsis gegenüber Fiktion speist sich aus einer ethischen Haltung: Sigal lehnt es ab, die Shoah zu „fiktionalisieren“. Er distanziert sich vehement von Benignis La vita è bella, das er als „clowneries“ empfindet, und von Spielbergs Schindler’s List, die er für „irresponsable“ hält. In einem zentralen Satz lautet sein Verdikt: „Man erfindet keine Geschichten über Lager und Vernichtung.“ 9 Er positioniert sich damit im Diskurs um Repräsentierbarkeit der Shoah und reiht sich in eine Tradition von Autoren und Theoretikerinnen ein, die Fiktion als gefährliche Verfälschung begreifen (vgl. etwa Susan Suleiman, die er zitiert: „Ich bin nicht in der Lage, Romane über die Lager zu lesen – was ich will und brauche, sind Ereignisse, an die man sich erinnert, auch wenn sie verzerrt oder verschwommen sind.“).
Der Text schwankt so zwischen autobiographischem Anspruch und poetologischer Selbstblockade. Der Erzähler erklärt: „Sobald ich die Familiengeschichte zu Papier bringe, überkommt mich Zweifel. Ich bezweifle, dass ich überhaupt etwas darüber schreiben kann.“ 10 Und weiter: „C’est toujours trop écrit, les mots figent les corps et les postures.“ 11 Das Schreiben droht, das Lebendige zu zerstören, es in eine starre, falsche Darstellung zu verwandeln. Darum sucht Sigal nach einer Sprache, die der Erfahrung gerecht wird, ohne sie zu verraten. Der Versuch, vom passé composé ins Präsens zu wechseln, ist ein solcher Rettungsversuch: das Geschehen soll als lebendige Gegenwart erfahrbar bleiben, nicht als museale Vergangenheit. Doch auch das Präsens bietet keinen Ausweg: „Aber es funktioniert immer noch nicht, die Fiktion knistert immer noch, es gibt kein Entkommen.“ 12
Am Ende bleibt die Szene selbst unverdaulich. Sie wird beschrieben wie ein Mahl, das im Hals steckenbleibt: „Dieses Familienessen wird zu einer Fantasie, genährt von den Träumen und Fantasien anderer. Ich habe diese Szene erlebt, aber diese Szene ist, einmal niedergeschrieben, unerträglich. Sie ist zu sehr geschrieben, um erlebt zu werden. Sie öffnet ein Buch, das ich schreiben möchte, und das Buch will nicht entstehen. Es bleibt irgendwo zwischen Magen und Kehle stecken.“ 13 Diese Metapher macht den Körper erneut zum Schauplatz des Erinnerns: das Buch selbst steckt im Körper, es ist noch nicht hervorgebracht, es ist wie ein unverdaulicher Bissen, der nicht geschluckt werden kann.
Der Anfang des Romans ist damit eine dichte Inszenierung der Grundproblematik: das Schwanken zwischen Erinnerung und Schweigen, Ritual und Trauma, Zeugnis und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart. Er zeigt bereits die ästhetische Form, die Sigal prägen wird: ein Schreiben, das ständig seine eigenen Bedingungen reflektiert, sich selbst in Frage stellt und in der Spannung von Zeugnis und Unmöglichkeit des Zeugnisses verharrt. „Fausse route“ ist insofern keine Abweichung, sondern das eigentliche Programm des Textes: Schreiben über die Shoah und das familiäre Erbe ist immer ein Umweg, ein falscher Weg, der nur in Andeutungen, Fragmenten, in Überlagerungen von Bibel und Familiengeschichte, in der Gleichzeitigkeit von Sederfest und Todeserinnerung, begangen werden kann.
Doppeltes Auslöschen
Géographie de l’oubli von Raphaël Sigal ist eine Auseinandersetzung mit ererbter Stille, familiären Geheimnissen und der Unmöglichkeit, die Geschichte der Großmutter ohne die Fallstricke der Fiktion festzuhalten. Der Autor ringt mit der fiktionalen Erinnerung („mémoire fictionnelle“) und der Spannung zwischen der unvorstellbaren Erfahrung seiner Großeltern und der Notwendigkeit, diese schriftlich darzustellen, ohne falsche Bilder zu konstruieren. Er erbt nur Satzfetzen und verschwommene Erinnerungen, was ihn dazu bringt, die autobiografische Erzählung seiner Großmutter in der ersten Person zu versuchen, wobei er sich strikt darauf beschränkt, nur das zu verwenden, was sie ihm tatsächlich vermittelt hat, um ihren Schweigekodex zu respektieren.
Hélène Cixous hat in vielen Texten – besonders in Osnabrück oder Les rêveries de la femme sauvage – ihr eigenes Schreiben als eine Bewegung zwischen Leben, Erinnerung und Verlust verstanden, getragen von dem, was nicht erzählbar ist. Sie beschreibt eine „écriture féminine“, die von Brüchen, Körperlichkeit, Unbewusstem, vom Überschuss gegenüber Logik und Narration bestimmt ist. Charakteristisch ist ihr Insistieren auf das Schreiben aus dem Fehlen: aus dem Schweigen der Mutter, aus dem Tod des Vaters, aus einer jüdisch-französisch-deutschen Zwischenexistenz.
Hier setzt Sigal an. Wenn er sich auf Cixous bezieht, dann um sein eigenes Projekt zu legitimieren: ein Schreiben aus dem Mangel heraus, aus den „lambeaux“ und „bouts de phrases“, die ihm bleiben. Cixous bietet ihm ein Modell, wie man aus Lücken Literatur machen kann, ohne diese Lücken zu verraten. So wie Cixous aus der Sprachmischung ihrer Herkunft (Deutsch, Französisch, Arabisch) eine Poetik des Übersetzens, Verrückens und Verschiebens entwickelt, so formt Sigal aus den Bruchstücken des Familiengedächtnisses eine Poetik des Vergessens. Besonders wichtig ist bei Cixous das Motiv der Mutter-Sprache. Sie schreibt: „Ich habe immer in der Sprache meiner Mutter geschrieben, die die Sprache des Anderen war“ 14 – und diese Verschiebung ist ein prägendes Element. Auch Sigals Großmutter bewegt sich zwischen Sprachen: Deutsch, Französisch, Hebräisch als liturgische Sprache. Der Verweis auf Cixous erlaubt ihm, dieses Sprach-Exil literarisch zu verarbeiten.
Hinzu kommt, dass Cixous immer wieder betont, dass Schreiben eine Form des Trauerns sei. Es geht nicht um das Erzählen der „wahren“ Geschichte, sondern um das Arbeiten am Verlust. In diesem Sinn spiegelt Sigal ihre Haltung, wenn er erklärt, dass er keine Recherchen betreibt und nichts ergänzt, was ihm nicht direkt überliefert wurde: „Was sie mir nie erzählt hat, wird auch nicht in dem Buch stehen.“ 15 Auch das ist eine Cixous’sche Geste: das Respektieren des Schweigens, das Einrichten im Nicht-Wissen, das Umformen der Stille in eine literarische Stimme. Pointiert gesagt: Der Verweis auf Cixous macht deutlich, dass Sigals Géographie de l’oubli im Raum einer Poetik des Schweigens und der Spur steht, die sich bei Cixous entwickelt hat. Er schreibt nicht gegen die Leere an, sondern mit ihr; er sieht im Verstummen der Großmutter nicht nur Verlust, sondern auch den Ort, aus dem Schreiben überhaupt erst möglich wird.
Die Figuren in Sigals Roman sind genealogisch verknüpft. Im Zentrum steht die Großmutter, die durch Shoah und Alzheimer gleich doppelt entzogen ist. Der Großvater spricht sporadisch Fragmente, etwa die Sätze über die Toten der Familie in Polen: „Weißt du, in Polen waren wir 150, 147 sind gestorben.“ 16 Der Vater wird zum Vermittler, der die Krankheit benennt, aber das Schweigen über die Vergangenheit fortsetzt. Der Erzähler als Enkel nimmt eine doppelte Rolle ein: Er ist Erbe der Lücken, aber auch derjenige, der sie literarisch ausformt. In „La règle du je“ verteidigt der Autor seine Methode, ohne Archive zu schreiben, und die „Sinnlichkeit der Substitution“ („sensualité de la substitution“), auch wenn ihm „Exzess an Fiktion“ vorgeworfen wird. Er schreibt über die „Nostalgie dessen, was ihm nie widerfahren ist“ („nostalgie de ce qui ne m’est jamais arrivé“). Bemerkenswert ist, dass Sigal die weibliche Linie als besonders verschlossen markiert: „Sie erzählen ein wenig über ihre Kindheit, ihre Jugend, ihren Erfolg. Sie erzählen nichts. Als hätten sie kein Leben gehabt.“ 17 Die Geschlechterdifferenz verschränkt sich hier mit der Logik des Vergessens: Frauen erscheinen als Trägerinnen eines noch tiefer gehenden Schweigens, das dem Erzähler zugleich unzugänglich und verpflichtend ist.
Im Zentrum der Erzählung steht das Konzept zweier Arten des Vergessens: Einerseits das unfreiwillige Vergessen der Großmutter aufgrund der Alzheimer-Krankheit, das ihre Erinnerungen, ihren Humor und ihre Sprache langsam auslöscht. Andererseits ein aktives, freiwilliges Vergessen, das notwendig war, um als Überlebende des Traumas (Shoah) weiterzuleben, ein „Schweigen, das die Erinnerung an das Trauma ebenso kraftvoll überträgt wie Schreie und Geflüster“. Dieses aktive Vergessen wird unbewusst als „crypte“ oder „Phantom“ an die nächste Generation weitergegeben. Um diese duale Natur des Vergessens zu benennen, prägt der Autor den Neologismus „Shoalzheimer“, der das unaussprechliche Trauma und die Krankheit, welche die letzten Lebensjahre der Großmutter bestimmen, zusammenführt.
Elle est là, assise dans le livre comme dans son canapé, pleine d’amour et d’oubli. Elle ne voit pas de quoi ça parle. Je me mets à reconstituer son enfance à partir des quelques lambeaux de son histoire dont j’ai hérité. Je me donne pour règle d’écrire strictement à partir de ce qui, de sa vie, a été déposé en moi. Je m’interdis toute forme de recherche ou d’enquête. Pas de questions non plus à mon père sur sa mère. C’est une manière de respecter son silence. Ce qu’elle ne m’a jamais dit ne sera pas dit dans le livre.
J’interroge ses langues. Je me rappelle un jour un livre pour enfants écrit en allemand, Der Struwwelpeter, rangé dans un coin de sa bibliothèque, à l’étage. Avec ses ongles de Maldoror et sa tête perdue dans un monceau de cheveux blonds hérissés, en permanence électrisés, ce petit monstre me paraît beaucoup trop loin. Je préfère les brigands d’Ungerer avec leurs chapeaux noirs et leurs tromblons. Mais le Struwwelpeter, c’est elle. C’est un souvenir d’enfance, je le mets dans le livre. Je l’utilise pour tracer un trait d’union entre nous. Je n’ai pas souvenir d’elle me le lisant. Elle me traduit le livre, je crois, de sa langue maternelle à ma langue maternelle. J’imagine que Der Struwwelpeter est intact, de l’autre côté du seuil. Dans son enfance à elle, là où Alzheimer n’est pas encore arrivé avec son rouleau compresseur.
Comme elle oublie, le livre doit oublier aussi. Oublier de cet oubli involontaire qui s’appelle Alzheimer et qui transforme peu à peu les êtres aimés en ombres d’eux-mêmes. Oublier de cet oubli mortifère qui force les proches des malades à un deuil long et progressif, le deuil inconcevable d’un parent vivant et méconnaissable. Comment écrire ce livre qui oublie ? Comment ça parle, l’oubli ? Existe-t-il un « truc » pour transmettre la sensation de l’oubli ? Cette histoire de « truc » me désespère, parce que truquer la réalité est à la fois inévitable et à l’opposé de ce que je désire. Et comme je ne sais quasiment rien de ses souvenirs, je ne réussis même pas à me figurer ce qu’elle oublie.
Mon livre se peuple d’individus sépia, d’enfants sages à bretelles, de murs tapissés de vieux rose. Au centre de l’édifice fantasmatique trône une immense bibliothèque. Dans cette bibliothèque, tous les classiques de la grande culture allemande imprimés en lettres gothiques, reliés dans des cuirs sombres et frappés de lettres d’or.
Plus je me rapproche d’elle, plus je m’écarte de mes mots. J’imite ma grand-mère dans le vide. J’enrobe le peu de souvenirs qui me sont parvenus d’un flot d’adjectifs dont je me sers comme on se sert d’un tuteur pour faire tenir une plante fragile qui menace de s’effondrer. Je m’accroche à des symboles, j’ajoute des points de suspension, j’abuse des blancs.
Sie sitzt da, in dem Buch wie auf ihrem Sofa, voller Liebe und Vergessenheit. Sie versteht nicht, worum es geht. Ich beginne, ihre Kindheit aus den wenigen Bruchstücken ihrer Geschichte, die ich geerbt habe, zu rekonstruieren. Ich habe mir zur Regel gemacht, ausschließlich über das zu schreiben, was aus ihrem Leben in mir zurückgeblieben ist. Ich verbiete mir jede Form von Recherche oder Nachforschungen. Auch keine Fragen an meinen Vater über seine Mutter. Das ist eine Art, ihr Schweigen zu respektieren. Was sie mir nie erzählt hat, wird auch nicht in dem Buch stehen.
Ich befrage ihre Sprachen. Ich erinnere mich an ein Kinderbuch, das auf Deutsch geschrieben war, Der Struwwelpeter, das in einer Ecke ihres Bücherregals im Obergeschoss stand. Mit seinen Maldoror-Fingernägeln und seinem Kopf, der in einem Haufen struppiger, ständig elektrisierter blonder Haare verschwindet, erscheint mir dieses kleine Monster viel zu weit entfernt. Ich bevorzuge die Räuber von Ungerer mit ihren schwarzen Hüten und ihren Donnerbüchsen. Aber der Struwwelpeter, das ist sie. Es ist eine Kindheitserinnerung, ich nehme sie in das Buch auf. Ich benutze ihn, um eine Verbindung zwischen uns herzustellen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir daraus vorgelesen hat. Sie übersetzt mir das Buch, glaube ich, aus ihrer Muttersprache in meine Muttersprache. Ich stelle mir vor, dass Der Struwwelpeter auf der anderen Seite der Schwelle unversehrt ist. In ihrer Kindheit, wo Alzheimer noch nicht mit seiner Dampfwalze angekommen ist.
So wie sie vergisst, muss auch das Buch vergessen. Vergessen dieses ungewollten Vergessens, das Alzheimer heißt und das geliebte Menschen nach und nach zu Schatten ihrer selbst werden lässt. Vergessen dieses tödlichen Vergessens, das die Angehörigen der Kranken zu einer langen und schrittweisen Trauer zwingt, der unvorstellbaren Trauer um einen lebenden und nicht mehr wiedererkennbaren Elternteil. Wie schreibt man dieses Buch, das vergisst? Wie spricht das Vergessen? Gibt es einen „Trick”, um das Gefühl des Vergessens zu vermitteln? Diese Geschichte mit dem „Trick” macht mich verzweifelt, denn die Realität zu manipulieren ist sowohl unvermeidlich als auch das Gegenteil von dem, was ich möchte. Und da ich fast nichts über ihre Erinnerungen weiß, kann ich mir nicht einmal vorstellen, was sie vergisst.
Mein Buch ist bevölkert von sepiafarbenen Gestalten, braven Kindern mit Hosenträgern, mit altrosa Tapeten tapezierten Wänden. Im Zentrum des Fantasiegebäudes thront eine riesige Bibliothek. In dieser Bibliothek stehen alle Klassiker der deutschen Hochkultur, gedruckt in gotischer Schrift, gebunden in dunkles Leder und mit goldenen Buchstaben geprägt.
Je näher ich ihr komme, desto mehr entferne ich mich von meinen Worten. Ich ahme meine Großmutter ins Leere nach. Ich umhülle die wenigen Erinnerungen, die mir geblieben sind, mit einer Flut von Adjektiven, die ich wie eine Stütze benutze, um eine zerbrechliche Pflanze zu stützen, die zusammenzubrechen droht. Ich klammere mich an Symbole, füge Auslassungspunkte hinzu, missbrauche Leerzeichen.
Dieser Auszug beschreibt den entscheidenden Moment und die zentralen methodischen Herausforderungen des Erzählers bei der Konstruktion seines Buches. Die Großmutter ist physisch präsent (auf ihrem Sofa), aber auch literarisch anwesend (im Buch), wobei ihre Existenz von Liebe und Vergessen geprägt ist. Sie ist der Gegenstand des Schreibens, nimmt aber selbst den Inhalt nicht mehr wahr: „Elle ne voit pas de quoi ça parle“ (Sie sieht nicht, worum es geht). Angesichts der Leere ihrer Erinnerung legt sich der Erzähler eine strenge Regel auf, um ihren „Schweigen zu respektieren“: Er rekonstruiert ihre Kindheit ausschließlich aus den wenigen Fetzen ihrer Geschichte („quelques lambeaux de son histoire“), die er geerbt hat. Er untersagt sich jegliche Recherche, Erkundung oder Befragung seines Vaters.
Der Autor erkennt, dass das Buch dem Zustand seiner Großmutter nachempfunden sein muss: „Comme elle oublie, le livre doit oublier aussi“. Der Erzähler verzweifelt daran, wie er das Gefühl des Vergessens vermitteln soll, und befürchtet, dass das Fälschen der Realität („truquer la réalité“) unvermeidlich ist, obwohl es im Widerspruch zu seinem Wunsch steht. Da er kaum etwas über ihre tatsächlichen Erinnerungen weiß, kann er sich nicht einmal vorstellen, was genau sie vergisst.
Wo konkrete Fakten und Erinnerungen fehlen, wird der Text zu einem „édifice fantasmatique“ (fantastischen Bauwerk), bevölkert von „Sepia-Individuen“, braven Kindern und einer riesigen Bibliothek deutscher Klassiker. Der Erzähler bemerkt eine literarische Distanzierung: Je näher er seiner Großmutter kommt („Plus je me rapproche d’elle“), desto mehr entfernt er sich von seinen eigenen Worten. Er umschreibt die wenigen verbliebenen Erinnerungen mit einer „Flut von Adjektiven“, die er als Stütze verwendet, um die fragile Pflanze der Erinnerung vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Die Interpretation gipfelt in der Beschreibung der konkreten literarischen Strategien, die er anwendet, um die Leere und das Schweigen zu artikulieren: „Je m’accroche à des symboles“ (Ich klammere mich an Symbole): Symbole dienen als Ersatz für die verlorenen oder unbekannten Fakten (wie das Kinderbuch Der Struwwelpeter, das er im Buch verwendet, um eine Verbindung herzustellen). – „J’ajoute des points de suspension“ (ich füge Auslassungspunkte hinzu): Diese stehen für das Gesagte, das abbricht, das Unaussprechliche und das Verlorene. – „J’abuse des blancs“ (ich missbrauche die Leerstellen/Absätze): Die exzessive Nutzung von Leerzeichen und Absätzen dient dazu, das Schweigen und die Abwesenheit der Erinnerung physisch auf der Seite darzustellen. Diese Techniken sind Versuche, das Unsagbare und die Lücken in der Familiengeschichte literarisch zu fassen, indem die Form des Textes die Zerrissenheit der Erinnerung widerspiegelt.
Der Autor verwendet den Ausdruck „crypte“, was im Kontext der psychoanalytischen Theorie von Nicolas Abraham und Maria Torok verwendet wird, um die Mechanismen der Trauma-Weitergabe zu bezeichnen. Nach dieser Theorie „begraben“ („enterrer“) Überlebende eine traumatische und unsagbare Erfahrung in einer « crypte », welche dann als „unbekanntes Phantom“ („fantôme inconnu“) auf die nächste Generation übertragen wird. Diejenigen, die diese unbewusste Last tragen, werden als „cryptophores“ (Kryptenträger) bezeichnet. Der Autor Raphaël Sigal versteht mithilfe dieser Metaphorik, dass Geheimnisse und « cryptes » sichtbar gemacht werden können. Er erkennt, dass der vererbte verschlüsselte („crypté“) Schweigekodex, den er zu entziffern versucht, nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen („l’oubli“) überträgt.
Der Erzähler stößt schließlich auf das eigene Manuskript seiner Großmutter mit dem Titel „Ma vie“ („Mein Leben“), das sie während des Fortschreitens ihrer Alzheimer-Krankheit verfasst hat. In diesem Text, den der Autor als „gestohlen“ empfindet, kommen ihre deutschen Kindheitserinnerungen und ihre anhaltende Wut auf Hitler zum Ausdruck. Dieses Autobiografie-Fragment bildet den unkorrigierten Kern des Buches. Trotz ihrer Krankheit und der Versuche, das Trauma zu verdrängen, schließt die Großmutter ihren Text mit der Feststellung: „Der Krieg ist vorbei. Ja, vielleicht, aber ich kann ihn nicht vergessen“. Der Autor versteht, dass sein eigenes Buch dazu dienen muss, diesen authentischen, unlesbaren Text seiner Großmutter hörbar zu machen, indem er ihre „Geographie des Vergessens“ aufdeckt und somit ihren doppelten Schweigeerbe verarbeitet.
Die Kommunikation in Sigals Roman ist geprägt von Brüchen, Auslassungen, Wiederholungen. Die Großmutter schweigt, oder sie redet in endlosen Schleifen, die nichts mehr mitteilen. „Meine Großmutter ist da, sie sagt nichts“ 18 – diese knappe Feststellung wird zum Leitmotiv. Doch in der Lücke, die das Schweigen lässt, beginnt die Projektion des Enkels. Er füllt das Schweigen mit eigenen Worten, er schreibt Sätze in den Mund der Großmutter, die von Rachefantasien sprechen: „Ich hätte gerne sterben können und mit mir sterben lassen … diese Verbrecher im Strudel einer Rache mit Kalaschnikows mitreißen können.“ 19 Der Autor markiert die Gewalt dieses Eingriffs, wenn er notiert: „Ich zwinge das Undenkbare in ihren Mund, um meine Traurigkeit zu lindern.“ 20 Kommunikation ist in diesem Roman statt Austausch zwischen zwei Subjekten stets eine Bewegung des Überschreibens, des Substituierens, des Füllens einer Leerstelle. Gerade dadurch bleibt sie prekär, denn das eigene Sprechen steht unter dem Verdacht, die Fremdheit des Schweigens zu verraten.
Sigal bindet sein Schreiben in einen intertextuellen Diskurs ein, der selbst von der Frage geprägt ist, wie sich die Shoah darstellen lässt. Er lehnt die „clowneries de Benigni“ und die „irresponsabilité de Spielberg“ ab und bezieht sich stattdessen auf Georges Perecs Konzept einer „mémoire fictionnelle“, auf Chantal Akermans No Home Movie und Ma mère rit. Diese intertextuellen Verweise verdeutlichen, dass Sigals Text nicht isoliert steht, sondern Teil einer kollektiven Suche nach Darstellungsformen des Unsagbaren ist. In dieser Tradition gewinnt Shoalzheimer eine doppelte Bedeutung: als individueller Begriff, der die eigene Familiengeschichte fasst, und als Beitrag zu einem literarischen Diskurs über Erinnerung, Trauma und Sprache.
Shoalzheimer
Die Metaphorik des Textes kreist um Körper, Sprache und Dinge. Alzheimer erscheint nicht nur als Verlust der Erinnerung, sondern als körperlicher Prozess: „Ich werde alt, ich werde nur noch alt und vergesse.“ 21 Der Körper wird so zur Metapher des Vergessens selbst. Sprache hingegen trägt ihre Abwesenheiten in sich, verdichtet in dem stummen h von Shoalzheimer: „Dieses h, das ist sie, das Zeichen ihrer Abwesenheit und ihrer Vergangenheit, versteckt in einer kleinen Schachtel“. 22 Auch Objekte übernehmen eine erinnerungstragende Funktion: Möbel, Bücher, Gegenstände im Wohnzimmer der Großmutter fungieren als „Anhäufung von Objekten, die flüstern, wer ich war“ 23. Diese Dinge ersetzen das, was Sprache nicht mehr zu leisten vermag, sie sind materielle Metaphern für das Überleben von Vergangenheit im Modus des Verstummens.
Die Zeitstruktur des Romans folgt nicht einer linearen Chronologie, sondern ist von Fragmentierung und Zirkularität geprägt. Alzheimer verstärkt das Zeitgefühl des Stillstands: „Die jüngsten [Erinnerungen] sind die zerbrechlichsten. Sobald sie eintreffen, vermischen sich die Ereignisse zu einer Zeit, die nicht mehr vergeht. Ich vergesse alles. Ich vergesse, dass ich vergesse.“ 24 Das Vergessen zersetzt nicht nur den Inhalt, sondern auch die Zeitform selbst. Vergangenheit und Zukunft verschwimmen, die Gegenwart wird zu einem Ort der permanenten Wiederholung und Auflösung. Shoalzheimer ist damit nicht nur eine Bezeichnung für ein Erbe des Vergessens, sondern auch für eine veränderte Zeitlichkeit, die nicht narrativ zu ordnen ist.
Der von Sigal erfundene Begriff Shoalzheimer bringt diese doppelte Dimension in einem einzigen Wort zur Sprache. Er ist nicht nur ein Neologismus, sondern eine poetische Verdichtung, die die Unvereinbarkeit von Shoah und Alzheimer in einen paradoxen Zusammenhang zwingt. „Am 20. März 2018 um 11:39 Uhr erscheint ein Wort in der Betreffzeile einer E-Mail ohne Inhalt, die von meinem Telefon gesendet wurde: Shoalzheimer. Ein Kofferwort, eine kleine Box, die ohne Vorwarnung in meinem Wörterbuch gelandet ist“, so heißt es im Text. 25 Schon die Entstehung des Wortes trägt den Charakter einer Eingebung, einer zufälligen Entdeckung, die aus der Leere aufsteigt. Damit markiert der Begriff die Bewegung des ganzen Romans: Aus dem Nichts, aus den Lücken, aus den Schweigen der Großmutter formt sich eine neue Sprache, die weder Erinnerung noch Dokumentation ist, sondern literarische Erfindung.
Shoalzheimer verweist auf das Ineinanderfallen zweier Formen des Vergessens. Die Shoah bringt eine Geschichte hervor, die von den Überlebenden oft nicht weitergegeben wird, weil das Trauma sprachlos macht, weil Schweigen selbst zu einer Überlebensstrategie wird. Dieses Schweigen prägt ganze Generationen, wie Sigal es im Rückblick beschreibt: „Man musste vergessen, um weiterleben zu können. Vergessen auf eine andere Art als die, die meine Großmutter am Ende ihres Lebens befällt.“ 26 Dem gegenüber steht das pathologische Vergessen, das Alzheimer hervorruft, ein unwillkürliches Löschen, das nicht dem Willen unterliegt. „Ihre Sätze bilden eindringliche, sich wiederholende Schleifen, enden dort, wo sie beginnen, und verschmelzen miteinander. Sie spricht, erzählt aber nichts“ 27, so wird der Sprachzerfall der Großmutter geschildert. Shoalzheimer ist das Zusammenfallen dieser beiden Kräfte: das aktive Verschweigen der Vergangenheit und das passive Vergessen der Gegenwart.
Die Poetik des Romans ist geprägt von Fragmentierung, Wiederholung und Negativität. Sigal bekennt: „Le livre devient comme un puzzle dont les pièces ne s’emboîtent plus“. Der Text verweigert jede Kohärenz, jeder Versuch, eine Szene in eine klare Vergangenheit zu bannen, scheitert und wird durch Wiederholung ersetzt. Auch typographisch und stilistisch setzt Sigal auf Brechungen, auf Kursivierungen, Einschübe, Selbstkommentare. Das Fragmentarische ist nicht Mangel, sondern Programm. Es spiegelt die Desintegration der Erinnerung, die Zersetzung durch das Vergessen. Shoalzheimer ist damit nicht nur Thema, sondern auch Strukturprinzip der Poetik.
Ricercar
Der Roman entfaltet sich in drei ineinandergreifenden Strängen: Er erzählt fragmentarische Episoden aus der Shoah, die selbst unsicher bleiben und sich mechanisch wiederholen, wie die Szene des erschossenen Onkels mit Baudelairezitat: „Hans sieht den Inhalt der Tasche, zieht seine Pistole und schießt seinem Onkel aus nächster Nähe in die Schläfe. Er bricht zusammen. ‚Ein Blitz, dann die Nacht‘“. 28 Er schildert zugleich die Alzheimer-Erkrankung der Großmutter, die Sprache und Identität zersetzt. Und er reflektiert permanent den eigenen Schreibprozess: „Ich überprüfe nichts. Schreiben und nicht überprüfen: Das ist das Motto beim Verfassen dieser Seiten.“ 29 Diese drei Stränge verschlingen sich ineinander, ohne dass einer zum dominanten wird. Gerade ihre Überlagerung ist die Form, die Shoalzheimer annimmt: eine simultane Präsenz von Trauma, Krankheit und literarischer Arbeit.
Sigals Projekt trägt den Titel „Ricercare à x + 1 voix“: ein Suchen nach den unbestimmten Stimmen der Vorfahren (x) und nach der eigenen Stimme als Nachgeborener (+1). Der Name „ricercare“ verweist auf die italienische Musik des 16. Jahrhunderts: eine polyphone Kompositionsweise, die lose Themen aneinanderreiht, sie nacheinander durchführt und dabei zu einer Einheit verschränkt, die schließlich in die Fuge übergeht. Dieses Suchen nach Themen und Stimmen, das Zusammensetzen heterogener Fragmente, wird bei Sigal zum poetischen Verfahren: Er setzt die Bruchstücke seiner Familiengeschichte, das Schweigen der Großmutter, die Splitter der Shoah-Erzählungen und seine eigenen Reflexionen nebeneinander, ohne sie jemals vollständig zu einer kohärenten Erzählung zu verschmelzen.
Im Rahmen des verworfenen Manuskripts „Ricercare à x + 1 voix“ schreibt der Erzähler einige Passagen ausdrücklich in der Vergangenheit, um die Illusion der Erinnerung („l’illusion du souvenir“) zu vermitteln, wenn er die Stimme seiner Großmutter imitiert. Er bemerkt auch, dass die gesamte Bandbreite der Verben in der Vergangenheit („toute la panoplie des verbes au passé“) ihn attackiert, wenn er versucht, die Vision seiner selbst zu beschreiben.
Die typographische Zweiteilung des Textes – recte gesetzt für die Stimme der Großmutter, kursiv für den Kommentar des Enkels – bricht nach kurzer Zeit zusammen. „Les voix se confondent“, heißt es programmatisch. Wie in einem Ricercar überlagern sich die Stimmen, imitieren einander, verlieren ihre Eigenständigkeit, bis der Text fast unlesbar wird. Das entspricht einer musikalischen Polyphonie, in der einzelne Linien nicht mehr isoliert, sondern nur noch im Geflecht hörbar sind.
Das willkürliche Vergessen erhält in diesem Prozess seinen Namen: Shoah. Wenn die Großmutter im Roman daran erinnert wird, dass sie nur deshalb überlebte, weil sie das Französische ohne Akzent sprechen konnte – eine Schibboleth-Prüfung auf Leben und Tod –, wird Sprache selbst zur existentiellen Grenze. Das richtige Wort, die richtige Intonation entscheidet über Leben und Tod; das falsche Wort bedeutet Auslöschung. Diese Erfahrung ist ein musikalisches Moment: eine kleine Abweichung, ein falscher Ton, der die Harmonie zerstört und das Stück abbrechen lässt. Das Ricercar als Form lebt gerade von solchen Abweichungen, Verzierungen, instrumentalen Spielfiguren – aber im Kontext von Shoalzheimer wird dieses freie Spiel tödlich ernst.
Besonders eindrücklich ist die Stelle, an der die Großmutter aus dem Buch „heraustritt“, als ihr die Rachefantasien zugeschrieben werden: „vengeance à la kalachnikov“. In diesem Moment wird sie „réelle“, tritt aus der musikalisch-poetischen Polyphonie heraus und wird zu einer Figur mit einer eigenen, unerhörten Stimme. Wie in einer Motette, in der plötzlich eine dissonante Linie alle anderen Stimmen überlagert, sprengt diese Stimme die Struktur. Sie zeigt, dass literarische Polyphonie immer prekär bleibt: Die Realität drängt sich ein, sie kann nicht dauerhaft ästhetisch gefasst werden.
Die Verbindung zu den historischen Ricercari vertieft dieses Verständnis. In der Musikgeschichte bilden sie eine Vorform der Fuge: eine lose Aneinanderreihung verschiedener Themen, die nach und nach reduziert werden, bis ein letztes Thema allein dominiert und den Übergang in die strengere, geschlossene Form der Fuge vorbereitet. Auch Sigals Roman beginnt mit vielen Stimmen, vielen Fragmenten, Zitaten, Kommentaren. Im Verlauf des Textes reduziert sich diese Polyphonie, immer stärker tritt der Begriff Shoalzheimer als zentrales Thema hervor, bis er schließlich das ganze Werk dominiert.
Die Nähe des Ricercar zur Fantasie, zum Tiento und zur Toccata verweist schließlich auf das freie Präludieren, das nicht Ziel, sondern Suche ist: eine improvisierte Erkundung, die den Tonraum abtastet, bevor das eigentliche Stück beginnt. Sigals Roman entspricht einer solchen „Vorspiel“-Bewegung: Er tastet den Raum der Erinnerung ab, ohne je in ein geschlossenes Werk, eine eindeutige Erzählung überzugehen. Er bleibt ein unabschließbares Suchen.
So lässt sich sagen: Géographie de l’oubli ist als Ricercar komponiert, als polyphones Suchen nach Stimmen, die nicht mehr sprechen können. Shoalzheimer ist in diesem Sinn das letzte Thema, das übrigbleibt, die Fuge, die aus dem Scheitern aller anderen Stimmen hervorgeht. Und wie in der Musik das Ricercar nie nur von Themen, sondern auch von Ornamenten, Verzierungen und improvisierten Figuren lebt, so ist auch Sigals Text von Einschüben, Brüchen, Kommentaren geprägt, die das Schweigen umspielen. Die Poetik des Ricercare macht verständlich, warum dieser Roman keine lineare Erzählung ist, sondern ein fragmentarisches, unlesbares, zugleich zutiefst musikalisches Gewebe aus Stimmen, die sich suchen, verfehlen und im Vergessen miteinander verschwimmen.
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Die Erzählung findet ihren Schluss, als der Autor den Blick auf die letzte Zeile des Manuskripts seiner Großmutter richtet und diese trotzig liest: „Der Krieg ist vorbei. Ja, vielleicht, aber ich kann ihn nicht vergessen.“ 30 Auf dieser Grundlage formuliert der Autor die Synthese der Erzählung, indem er das freiwillige (Shoah) und das unfreiwillige (Alzheimer) Vergessen miteinander verschmilzt: „Ich habe Alzheimer und ich kann die Shoah nicht vergessen.“ 31 Die Haupt-Erzählung schließt mit der Feststellung des Autors: „Ich schreibe, und das Buch verstummt.“ 32
Anmerkungen- „„Les verbes au passé statufient les scènes, les forcent dans un cadre qui sent le roman“>>>
- „On mâche tout cela pour incorporer dès l’enfance l’histoire dramatique d’ancêtres bibliques, à laquelle se superpose l’histoire d’ancêtres réels, sans cesse réactualisée au fil des générations.“>>>
- „On lit notre histoire, on la chante, on en discute, on l’avale.“>>>
- „J’ai risqué ma vie (ils sont morts) ; j’aurais pu mourir (eux sont morts).“>>>
- „Je suis mort et je suis là, à cette table, à vous raconter comment, réchappant à la mort, je suis passé par elle.“>>>
- „Ma grand-mère est là, elle ne dit rien.“>>>
- „comme la colonne de fumée d’un feu invisible“>>>
- „Chaque fois que je couche par écrit le surgissement de la parole de ce grand-père taiseux (et dans les profondeurs le sousgissement du non-dit), je me prends les pieds dans les filets de la fiction.“>>>
- „On ne fictionne pas avec les camps et l’extermination.“>>>
- „Le doute m’assaille dès que je couche l’histoire familiale sur le papier. Je doute de pouvoir écrire quoi que ce soit à ce sujet.“>>>
- „Es ist immer zu geschrieben, Worte erstarren Körper und Haltungen.“>>>
- „Mais ça ne fonctionne toujours pas, la fiction grésille toujours et encore, pas moyen de s’en dégager.“>>>
- „Ce repas de famille devient un fantasme, nourri des rêves et des fantasmes d’autres. J’ai vécu cette scène, mais cette scène, une fois écrite, est invivable. Elle est trop écrite pour être vécue. Elle ouvre un livre que je veux écrire et le livre ne veut pas venir. Il reste bloqué quelque part entre le ventre et la gorge.“>>>
- „J’ai toujours écrit dans la langue de ma mère, qui était la langue de l’autre“>>>
- „Ce qu’elle ne m’a jamais dit ne sera pas dit dans le livre.“>>>
- „Tu sais, en Pologne, nous étions cent cinquante, cent quarante-sept sont morts.“>>>
- „Eux racontent un peu leur enfance, leur adolescence, leur réussite. Elles, rien. Comme si elles n’avaient pas eu de vie.“>>>
- „Ma grand-mère est là, elle ne dit rien.“>>>
- „J’aurais aimé pouvoir mourir et faire mourir avec moi… emporter ces criminels dans le tourbillon d’une vengeance à la kalachnikov.“>>>
- „Je force l’impensable dans sa bouche pour atténuer ma tristesse.“>>>
- „Je vieillis, je ne fais plus que vieillir et oublier.“>>>
- „Ce h, c’est elle, le signe de son absence et de son passé glissé dans une petite boîte.“>>>
- „accumulation d’objets qui murmurent qui j’ai été“>>>
- „Les plus récents [souvenirs] sont les plus fragiles. Sitôt arrivés, les événements se mêlent en un temps qui ne passe plus. J’oublie tout. J’oublie que j’oublie.“>>>
- „Le 20 mars 2018, à 11h39, un mot arrive dans le titre d’un e-mail sans contenu, envoyé de mon téléphone : shoalzheimer. Un mot-valise, une petite boîte atterrie sans prévenir dans mon dictionnaire.“>>>
- „Il a fallu oublier pour pouvoir continuer à vivre. Oublier d’un oubli d’un autre type que celui qui atteint ma grand-mère à la fin de sa vie.“>>>
- „Ses phrases dessinent des boucles entêtantes et répétitives, finissent là où elles commencent et se fondent les unes dans les autres. Elle parle mais ne raconte rien“>>>
- „Hans voit le contenu du sac, sort son pistolet et tire à bout portant sur la tempe de son oncle. Il s’effondre. ‘Un éclair, puis la nuit’“.>>>
- „Je ne vérifie rien. Écrire et ne pas vérifier : voilà ce qui préside à l’écriture de ces pages.“>>>
- „La guerre est finie. Oui, peut-être, mais moi, je ne peux pas l’oublier.“>>>
- J’ai Alzheimer et je ne peux pas oublier Shoah.>>>
- „J’écris et le livre se tait.“>>>