Uchronie des Ukrainekriegs: Antoine Rault

Wer die Charaktere tatsächlich sind

„Das erste Opfer, wenn Krieg ausbricht, ist die Wahrheit“, so sagt man. 1 Anders als die Kriegspropaganda kann Literatur dieses Prinzip überwinden: Der Roman L’angle mort du destin von Antoine Rault verwendet eine gewagte Struktur, um eine Uchronie zu entwerfen, die in zwei alternativen Erzählsträngen – Szenario A („Ce qui n’arriva pas“), der Friede, und Szenario B („Ce qui arriva“), der Krieg – die Schicksale derselben Figuren kontrastiert. Das Werk beleuchtet auf diese Weise den Schwindel („vertige“), der entsteht, wenn man misst, was „Entscheidungen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen“, unseren Existenzen zufügen. Die Gegenüberstellung ist nicht nur ein literarisches Gedankenspiel, sondern eine tiefgreifende moralische und existenzielle Untersuchung der postsowjetischen Gesellschaft, in der die Figuren entweder an ihrer Korrumpierbarkeit im Frieden oder an ihrer Läuterung im Angesicht der Invasion zerbrechen oder wachsen. Raults Roman nutzt die Doppelstruktur einer Uchronie, um den Ukrainekrieg nicht nur zu erzählen, sondern ihn als eine Möglichkeit unter anderen denkbar zu machen. So zeigt der Roman, wie fragile Zufälle über das Schicksal ganzer Leben entscheiden. Diese Gegenüberstellung von Frieden und Krieg legt den „blinden Fleck des Schicksals“ offen: dass Gewalt nie naturgegeben ist, sondern eine Entscheidung, die das Menschliche – Empathie, Moral, Liebe – ebenso zerstören kann, wie sie es im Frieden erblühen lassen kann. Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht:

Der Romantitel L’angle mort du destin („Der tote Winkel des Schicksals“) verweist auf das zentrale existenzielle und strukturelle Thema des Werkes: die unvorhersehbare, oft katastrophale Rolle externer historischer Kräfte bei der Gestaltung persönlicher Leben. Der „tote Winkel“ ist jener Bereich, der der Sichtbarkeit und Kontrolle der Protagonisten entzogen ist, aber dennoch die unerbittliche Richtung ihres Schicksals bestimmt. Die gesamte Romanstruktur, welche die zwei Szenarien „Ce qui arriva“ (der Krieg, die Realität) und „Ce qui n’arriva pas“ (der Frieden, die Fiktion) gegenüberstellt, dient dazu, diesen toten Winkel des Schicksals auszuleuchten. Die Figuren – ob sie nun eine glänzende Architektenkarriere in Kiew beginnen, von einer Mode-Influencer-Karriere träumen oder versuchen, ihren autistischen Sohn in Israel zu therapieren – unterliegen alle dem Unerbittlichen („à l’inexorable“). Dieses Unerbittliche manifestiert sich als eine abrupte, geopolitische Entscheidung, der russischen Invasion vom 24. Februar 2022, welche die Lebenspläne der Individuen jäh zunichtemacht. Der Titel ruft daher beim Leser einen wahren Schwindel („véritable vertige“) hervor, da er das Ausmaß misst, mit dem Entscheidungen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen („des décisions qui nous échappent“), unsere gesamte Existenz prägen. Er beleuchtet das prinzipiell Unbekannte und die schockierende Macht der Geschichte, die mit einem harten, aber enthüllenden Licht („une lumière crue mais révélatrice“) auf die condition humaine treffen.

Der „tote Winkel des Schicksals“ fungiert zugleich als moralischer Messstab, der die wahre Integrität der Figuren im Angesicht unterschiedlicher Formen der Prüfung offenbart. Im Szenario A, dem Frieden, ist der Kampf subtiler und ethischer Natur: Die Figuren sind dem Virus der Angst und des Hasses („virus de la peur et de la haine“) ausgesetzt, der die postsowjetische Gesellschaft Russlands vergiftet, oder sie kämpfen mit der allgegenwärtigen Korruption in der Ukraine. Roman Paschenko muss seine ethischen Bedenken als Architekt gegenüber dem Schutz antiker Grotten abwägen, und Yulia reflektiert ihre eigene Feigheit und mangelnde Selbstbestimmung im Moskau des Friedens: „Ton problème, c’est que tu n’as pas osé être toi-même“. Das Schicksal im toten Winkel (der Krieg in Szenario B) beseitigt jedoch die Möglichkeit moralischer Kompromisse und erzwingt eine klare, existenzielle Haltung. Die „décisions qui nous échappent“ bestimmen nicht nur den äußeren Verlauf des Lebens, sondern auch die innere Moral: Während Roman im Frieden fast in der Klebstoff („glu“) der Korruption versinkt, findet er im Angesicht des Krieges heldenhafte Entschlossenheit. Der Titel veranschaulicht somit die Dualität menschlicher Freiheit und Determination: Im Schatten des angle mort entscheiden politische Mächte über Krieg und Frieden, aber erst die Konfrontation mit dieser externen Kraft zeigt auf drastische Weise, wer die Charaktere tatsächlich sind.

Korrumpierung des Friedens vs. Läuterung durch den Krieg

In Szenario A, dem Pfad des Friedens, sehen wir die Charaktere in einer Welt, die von Opportunismus, Korruption und persönlichem Aufstieg bestimmt wird, ein Umfeld, in dem die postsowjetischen Eliten die Machtstrukturen neu zementieren. Roman Paschenko, der aufstrebende Architekt, verkörpert zunächst den enthusiastischen Baumeister der neuen Ukraine. Er träumt davon, die Industriebrachen Mariupols, namentlich Azovstal, in kulturelle Projekte umzugestalten: „Peut-être que je serai l’architecte de ce projet“. Um diese Ambitionen zu verwirklichen, muss er sich jedoch dem Milieu der Mächtigen beugen, das von Petro Nikonov und dem Architekten Riznyk dominiert wird. Dieser Weg führt ihn zu schmerzhaften moralischen Kompromissen.

Der Wendepunkt seiner Integrität im Friedensszenario ist das Pool-Projekt für Lioubov Rubinska, die Mätresse eines regionalen Verwaltungsleiters. Hier wird Roman in einen Konflikt verwickelt, in dem er die mögliche Zerstörung archäologisch wertvoller Grotten in Kiew in Kauf nehmen soll, um das Projekt zu sichern. Obwohl er innerlich kämpft („un architecte doit avoir une éthique. Doit avancer en tenant compte du passé“), lässt er sich von Riznyk beruhigen, der ihn zynisch fragt, ob er Architekt oder Archäologe sei. Schließlich wird Roman selbst zum Sündenbock, als Riznyk ihn durch eine gezielte Falschaussage in der Presse als denjenigen darstellt, der die Existenz der Grotten aus Angst um das Projekt verschwieg. Roman erkennt, dass er im Klebstoff der Korruption gefangen ist und unfreiwillig den „assassins de Tetiana“ dient, also dem System, das Tetiana (die investigative Journalistin, die später in Szenario A ermordet wird) bekämpfte. Romans Flucht nach Dubai und seine Arbeit für die skrupellosen Partner Nikonov und Riznyk ist die bittere Konsequenz seiner Kompromisse, obwohl er später nach seiner Heimkehr in Charkiw einen bescheideneren, aber ehrlichen Weg einschlägt und in seiner Heimat ein neues Leben beginnt, das endlich im Einklang mit seinem Gewissen steht.

Anastasia Datschychin wählt in Szenario A den direkten Weg der Transaktion und des Glamours. Sie nutzt ihre Attraktivität und ihre Verbindungen, um schnell aufzusteigen, und distanziert sich von Romans romantischer Liebe, die sie als „romantisme, enfin… d’un autre temps“ abtut. Sie wird die Mätresse des einflussreichen Abgeordneten Pavlo Teremets, der ihr im Gegenzug eine Karriere als Fernsehmoderatorin ermöglicht. Diese Verbindung ist ein offenes Geheimnis der Vetternwirtschaft. Als sie nach der Veröffentlichung eines investigativen Artikels bloßgestellt wird, verlässt sie Kiew und sichert ihren Aufstieg in Moskau durch eine strategische Ehe mit dem mächtigen Produzenten Vladimir Paevski. Ihr Erfolg basiert auf einer Fassade der traditionellen russischen Werte, die sie in Hochglanzmagazinen wie Moskvitchka inszeniert. Ihre Freiheit in Szenario A ist die Freiheit des Opportunismus und der Komplizenschaft mit dem korrupten System.

Im drastischen Gegensatz dazu steht Szenario B, in dem die Invasion am 24. Februar 2022 alle Ambitionen aus Friedenszeiten vernichtet. Für Roman bedeutet der Krieg eine radikale existenzielle Wende. Er muss seine Familie (Mutter Mariana, Schwestern Kira und Olexandra, Großmutter Baba Polia) aus dem bombardierten Charkiw evakuieren. An der polnischen Grenze trifft er die entscheidende, moralisch aufgeladene Wahl, nicht ins sichere Deutschland ins Exil zu gehen, sondern in Kiew zu bleiben: „Je ne viens pas avec vous“. Dieser Akt verwandelt den „pazifistischen Bobo“ in den entschlossenen Scharfschützen der Territorialverteidigung. Im Kampf findet er einen tiefen Sinn für Gemeinschaft und Pflicht und eine neue, reine Liebe zur Ärztin Mila. Gleichzeitig entfesselt der Krieg in ihm einen brennenden, identitätsstiftenden Hass auf die Invasoren („rachistes“, eine ukrainische Zusammensetzung aus Russen und Faschisten), der ihn dazu bringt, seine Muttersprache abzulegen: „Plus jamais il ne parlerait russe. Sa langue maternelle“. Die Notwendigkeit des Überlebens und des Widerstands erzwingt hier eine moralische Läuterung, die ihm der korrupte Frieden nie bieten konnte.

Anastasia hingegen wird in Szenario B sofort von Angst und Isolation erfasst. Ihr Aufenthalt in Kiew wird unhaltbar, da ihre russische Herkunft sie verdächtig macht. Die Brutalität der Realität zwingt sie zu einer einsamen, verzweifelten Abtreibung unter den Bomben. Ihre Flucht nach Moskau führt nicht in den Erfolg, sondern in die Hölle der privaten Unterdrückung: Sie heiratet Mark und erlebt in der toxischen Umgebung Russlands psychische und physische Gewalt, einschließlich Schlägen und Vergewaltigung. Ihr Schicksal in Szenario B ist somit die Verkörperung der Opferrolle, der sie in Szenario A durch ihren kalkulierten Aufstieg entkommen konnte.

Die Illusion der Sicherheit und die Macht des „Virus der Angst und des Hasses“

Der Kontrast zwischen den beiden Szenarien wird am Beispiel von Yulia besonders evident, da ihre Geschichte die intellektuelle und emotionale Konfrontation mit dem russischen Regime in den Mittelpunkt stellt. In Szenario A plant Yulia zunächst die Ausreise nach Israel, um ihren autistischen Sohn Ivan therapieren zu lassen. Sie nimmt in Moskau eine allmähliche geistige Vergiftung der Gesellschaft wahr, einen „vieux virus qui s’attaquait à l’esprit, le troublait, l’enflammait, le rendait fou : le virus de la peur et de la haine“. Letztlich entkommt sie dieser Atmosphäre, findet in Paris bei Thomas die Liebe und die Illusion der vollständigen Freiheit. Ihre Sorgen sind nun die Sorgen einer Exilantin: die Angst, in Frankreich als „Russin“ verurteilt oder mit Klischees konfrontiert zu werden. Sie glaubt, das Schlimmste sei abgewendet, und lebt ein erfülltes, wenn auch durch die Sorge um ihren Sohn belastetes Leben in einer Welt, in der die großen Konflikte nur noch im Fernsehen stattfinden.

In Szenario B zerbricht diese Illusion der Sicherheit. Yulia erlebt am 24. Februar 2022 den Schock, dass „C’est arrivé“, während ihre Mutter Olga sofort die Propagandarhetorik des Kremls übernimmt, die Invasion als „opération militaire spéciale“ zur Beendigung eines Genozids rechtfertigt und leugnet, dass Russland Zivilisten tötet. Yulias Widerstand ist zunächst verhalten und auf kleine symbolische Gesten beschränkt, da sie die wachsende Gefahr und die Brutalität der Repression spürt. Ihr Leben in Moskau wird zu einem psychologischen Drahtseilakt, da sie ihre wahre Meinung verbergen muss. Schließlich wird ihre kleine Geste des Widerstands – ihre Ablehnung, Socken für die Soldaten zu sammeln – durch ihre Jugendfreundin Elena dem FSB gemeldet. Yulia, die auf einer Alumni-Feier zuvor offen erklärt hatte, sie sei gegen die „opération spéciale“, wird am Flughafen verhaftet, als sie versucht, nach Israel auszureisen. Im Verhör konfrontiert man sie mit dem Verrat ihrer Freundin und ihrer moralischen Haltung („Vous avez dénoncé le bombardement du théâtre de Marioupol“). Ihre Strafe ist die physische Gefangenschaft in der Strafkolonie Mordowien. Yulias Schicksal im Krieg verdeutlicht das Paradoxon der moralischen Freiheit in der Diktatur: Sie verliert ihre physische Freiheit, um ihre innere und ethische Integrität zu bewahren, da sie sich weigert zu bereuen oder zu leugnen, dass Russland im Krieg ist.

Das Auseinanderreißen und die Neukonstituierung zwischenmenschlicher Bande

Die beiden Szenarien beleuchten auch die Natur menschlicher Beziehungen unter Extrembedingungen. Im Friedensszenario (A) sind die Beziehungen oft funktional, von Distanz und Misstrauen geprägt. Die familiären Bande sind durch die politische Kluft belastet. Roman hadert mit dem korrupten System, in dem sein Chef Riznyk agiert, und Yulia leidet unter der politischen Verblendung ihrer Mutter Olga und dem oberflächlichen gesellschaftlichen Leben Moskaus.

Im Kriegsszenario (B) wird die postsowjetische Schizophrenie der „Brudervölker“ endgültig manifest. Roman bricht mit seinem Vater in Donezk, der die russische Propaganda internalisiert hat und seinen eigenen Sohn als „Nazi“ bezeichnet. Anastasia wird von der ukrainischen Gesellschaft als Feindin betrachtet und von ihrer ukrainischen Freundin Macha vor die Wahl gestellt, entweder „mit uns gegen die Deinen“ zu kämpfen oder als schuldig betrachtet zu werden. Der Bruch ist irreversibel: „Vitaly, je ne lui parlerai plus jamais de ma vie“. Yulia wird vom Verrat ihrer Freundin Elena getroffen.

Gleichzeitig schafft der Krieg aber auch existenzielle und unzerstörbare neue Bindungen. Roman findet in den Schützengräben Kameradschaft und einen tiefen Sinn im gemeinsamen Überleben. Die Liebe zu Mila, der Chirurgin, ist eine Verbindung, die durch die extreme Erfahrung des Todes gewachsen ist. Auch Mariana, Romans Mutter, erfährt in Berlin, dass die Last, stark sein zu müssen, erdrückend ist, und lernt durch die Therapeutin Irina, dass es erlaubt ist, menschlich zu sein und die Trauer zuzulassen – ein Akt der emotionalen Befreiung, der im Frieden (A) nicht notwendig war.

Die uchronische Struktur des Romans erlaubt es, die Ambivalenz des postsowjetischen Lebens zu enthüllen: Während der Friede (A) Korruption, moralischen Verfall und Oberflächlichkeit belohnt, zwingt der Krieg (B) die Protagonisten zu einer harten, aber notwendigen Klärung ihrer Werte. Yulias Gefangenschaft in Mordowien und Romans Überleben an der Front stehen der glänzenden, aber leeren Karriere Anastasias in Moskau (A) und der hart erkämpften, bürgerlichen Freiheit Yulias in Paris (A) gegenüber. Das Werk demonstriert, dass das Schicksal der Figuren letztlich von externen, unkontrollierbaren Entscheidungen abhängt, und stellt die philosophische Frage, ob moralische Integrität in der Diktatur einen höheren Preis hat, aber auch einen höheren Wert besitzt, als der durch Kompromisse erkaufte Wohlstand in einem korrupten Frieden. Das Zitat von Lessia Oukraïnka, „Sans espoir, malgré tout, je vais espérer, Je vais vivre ! Dehors les sombres pensées !“, erhält in Szenario B, wo die Hoffnung im Angesicht der Zerstörung aktiv erkämpft werden muss, eine weitaus drängendere und existenzielle Bedeutung als in der Welt des stillen Kompromisses.

Leistung der Uchronie

„Man muss wissen, was man im Leben will.“ 2 So Anastasia im Szenario A. Dagegen sagt Yulia im Szenario B: „Ja, wegen dieser Ansichten wurde ich zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, weil ich bei meinem Prozess gesagt habe, dass Russland sich im Krieg befindet und nicht in einer Sonderoperation, dass es ein Land angegriffen hat und einen grausamen Krieg führt …“ 3 Diese beiden Auszüge stellen die extremen Endpunkte der uchronischen Gabelung dar. Anastasia, die Mode-Influencerin, verkörpert im Szenario A die opportunistische Freiheit und den Willen zum Aufstieg. Das Zitat, ihre innere Wiederholung, rechtfertigt ihre Zweckbeziehungen (mit dem Abgeordneten Pavlo Teremets), durch die sie eine TV-Show erhält und ihre Karriere aufbaut. Ihr Erfolg basiert auf der Aufgabe romantischer Liebe (Roman) und dem bewussten Einsatz von Kalkül. Sie erreicht Ruhm, zahlt aber den Preis der inneren Leere und Verachtung für sich selbst („Quelque chose la dégoûtait“). Yulias Aussage in Szenario B hingegen zeigt die moralische Freiheit in der physischen Gefangenschaft. Sie wurde zu sechseinhalb Jahren in einer Strafkolonie verurteilt, weil sie es ablehnte, Putins Krieg als „opération spéciale“ zu bezeichnen. Yulia wählt die Reinheit des Gewissens, indem sie die Wahrheit – „la Russie est en guerre et pas en opération spéciale“ – ausspricht, auch wenn dies ihre Verurteilung bedeutet. Die Konfrontation dieser beiden Leben – Anastasias materieller Erfolg durch moralische Unterwerfung versus Yulias physischer Verlust durch moralischen Widerstand – ist die ultimative Messung dessen, was der Roman durch seine gewagte Struktur zu enthüllen sucht: Die äußeren Umstände diktieren die Bedingungen, aber die wahre Qualität der Existenz manifestiert sich in der Wahl der Reaktion auf das Diktat des Schicksals.

Die uchronische Struktur des choralen Romans L’angle mort du destin ermöglicht eine fundierte, vielschichtige Analyse, die weit über eine simple russlandkritische Haltung hinausgeht. Das Buch ist zwar in seiner Verurteilung des russischen Regimes und der Invasion radikal und umfassend, aber es liefert ebenso eine komplexe und kritische Sezierung der ukrainischen Lebenswirklichkeit, insbesondere im Szenario des Friedens („Ce qui n’arriva pas“). Die Kritik an der russischen Gesellschaft und dem Regime ist dabei tiefgreifend und systemisch. Die Quellen zeigen Moskau als einen Ort, der vom Virus der Angst und des Hasses befallen ist, den der Staat zur Vergiftung des eigenen Volkes eingesetzt hat. Diese Ideologie wird durch eine massive Propagandamaschinerie („chaînes du Kremlin“) verbreitet, die absurde Behauptungen aufstellt, etwa dass ukrainische Nationalisten Kinder töten, während die tatsächlichen Bombenangriffe auf Zivilisten geleugnet werden. Der Roman schildert detailliert die Diktatur und Repression: Yulia wird verhaftet und vor Gericht gestellt, weil sie sich weigerte, Socken für die Soldaten zu sammeln, und weil sie einen Post mit den Farben Gelb und Blau gelikt hat, was sogar zum Verrat durch ihre Kindheitsfreundin Elena führt. Auch im Privatleben zeigt sich diese Vergiftung, da junge Erwachsene wie Ivan Sidorov die Kriegsrhetorik übernehmen, während andere aus Angst schweigen.

Gleichzeitig wird die ukrainische Lebenswirklichkeit im Frieden (Szenario A) schonungslos kritisiert, indem die grassierende Korruption und der moralische Opportunismus der Eliten offengelegt werden. Roman Paschenko, der Architekt, muss erkennen, dass sein Traum vom Bau der neuen Ukraine nur durch das Eingehen schmerzhafter Kompromisse mit korrupten Oligarchen wie Nikonov und Politikern wie Beznichenko zu verwirklichen ist. Der Roman thematisiert Romans ethische Zwickmühle, als er bereit ist, die Zerstörung archäologisch wichtiger Grotten für ein Pool-Projekt hinzunehmen. Dieses System der „connivence“ („Mauschelei“ oder „Komplizenschaft“) ist allgegenwärtig.

Der Krieg („Ce qui arriva“, Szenario B) fungiert dann als moralischer Katalysator, der die Charaktere zur existenziellen Klärung zwingt und die unterschiedlichen moralischen Grundfesten der Gesellschaften offenbart. Die Aggression von außen zerstört die korrupten Ambitionen des Friedens (A) und erzwingt in der Ukraine eine Läuterung durch Widerstand: Roman, der im Frieden fast korrumpiert wurde, wählt den Kampf, findet Sinn und erfährt eine „brennende, identitätsstiftende Haine“ („haine brûlante“) gegen die Invasoren, was ihn sogar dazu bringt, seine Muttersprache abzulegen. Im Gegensatz dazu führt der russische Widerstand (Yulia) zwar zur moralischen Integrität, aber zur physischen Gefangenschaft im „Abgrund“ des Systems.

So lässt sich folgern, dass das Buch zwar grundsätzlich russlandkritisch ist, da es das russische Regime als die Quelle der Aggression, der Lüge und der Unterdrückung darstellt, und dass diese Kritik in Szenario B mit den Schrecken des Krieges eskaliert. Gleichzeitig wird die ukrainische Lebenswirklichkeit aber komplex kritisiert: Der Frieden in Szenario A war kein Idealzustand, sondern ein korrupter Nährboden für Opportunismus. Erst die existenzielle Bedrohung durch den Krieg erzwingt die moralische Klarheit und den nationalen Zusammenhalt, die in Scenario A durch interne gesellschaftliche Mängel (Korruption) untergraben wurden.

Der Roman positioniert sich durch seine uchronische Struktur und die drastische Gegenüberstellung von „Ce qui arriva“ und „Ce qui n’arriva pas“ klar gegen Wladimir Putins Haltung zum Ukraine-Krieg, indem er diesen als einen Akt unprovozierter Aggression darstellt, der das Individuum dem „Unerbittlichen“ unterwirft. Die Erzählung verurteilt die Invasion als Werk eines „fou furieux“ (Verrückten), der von Größenwahn und dem Traum einer imaginierten Vergangenheit angetrieben wird, dessen Ziel es ist, die Existenz der ukrainischen Nation zu leugnen („on n’existe pas“). Die offizielle russische Rhetorik der „opération militaire spéciale“ wird dabei als zynische Lüge entlarvt, die das eigene Volk mit dem „Virus der Angst und des Hasses“ infiziert, eine Gesellschaft schafft, in der Abweichung sofort mit Verfolgung geahndet wird, und das Land an den Rand eines „fasciste“ gewordenen Staates führt. Die Haltung des Regimes wird als die einer Tyrannei dargestellt, die eine Aggressions- und Ausrottungskrieg führt.

Die Ambivalenz des Romans gegenüber den Menschen im Frieden manifestiert sich zentral in der kritischen Darstellung der ukrainischen Gesellschaft, der der Krieg erspart blieb („Ce qui n’arriva pas“, Szenario A). Der Roman idealisiert die Ukraine vor der bzw. ohne die Invasion keineswegs, sondern seziert die postsowjetische Lebenswirklichkeit als durchzogen von systemischer Korruption und moralischem Opportunismus. Roman Paschenko, der Architekt, muss erleben, dass seine ambitionierten Pläne für die „neue Ukraine“ nur durch schmerzhafte ethische Kompromisse innerhalb des Oligarchen- und Machtmilieus von Riznyk und Nikonov realisierbar sind. Der Roman verurteilt diese Missstände als ein System, das die Moral und das Gesetz missachtet.

Diese schonungslose Analyse wird im Kontrast zu Szenario B (Krieg) genutzt, um die moralische Ambiguität zu vertiefen. Im Kriegszustand klärt sich zwar die existentielle Bedrohung und erzwingt heroische Entscheidungen (Roman wird zum entschlossenen Soldaten), doch es entstehen neue interne Spaltungen. Die Ambivalenz zeigt sich in der Stigmatisierung und dem Misstrauen gegenüber jenen, die russische Wurzeln oder familiäre Bindungen haben. Anastasia, die in Kiew bleibt, wird von ihrer Freundin Macha vor die Wahl gestellt, entweder „mit uns gegen die Deinen“ zu kämpfen oder als schuldig betrachtet zu werden. Sie fühlt sich verurteilt, „einfach weil sie russisch ist“. Letztlich dient die Offenlegung der ukrainischen Schwächen im Frieden dazu, die Größe des ukrainischen Widerstands im Krieg zu betonen: Jene, die wie Roman den korrupten Status quo hinter sich lassen, oder jene, die wie die ermordete Journalistin Tetiana im Friedensszenario die Korruption bekämpfen, beweisen einen doppelten Heldenmut, indem sie ihr Land sowohl vom inneren Verfall als auch von der äußeren Aggression befreien wollen.

Anmerkungen
  1. Zugeschrieben wird das Zitat im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg dem US-amerikanischen Senator Hiram Johnson (1917): „The first casualty when war comes is truth.“>>>
  2. „Il faut savoir ce qu’on veut dans la vie.“>>>
  3. „Oui c’est parce que j’ai ces idées que j’ai été condamnée à six ans et demi de prison, c’est parce que j’ai dit à mon procès que la Russie est en guerre et pas en opération spéciale, qu’elle a agressé un pays et mène une guerre atroce…“>>>

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