Jenseits der Zivilisation: Fabrice Humbert

Früher waren wir alle ungefährlich

Fabrice Humberts jüngster Roman De l’autre côté de la vie (2025) stellt sich als Parabel der zivilisatorischen Selbstzerstörung Frankreichs dar. Der Roman ist jedoch nicht nur eine dystopische Erzählung über den Zerfall der Gesellschaft, sondern zugleich eine Meditation über Unschuld, Opferbereitschaft, menschliche Verbundenheit und die Suche nach einem „anderen Leben“ jenseits des Chaos. Der Ich-Erzähler, ein Pariser Anwalt, flieht mit seinen Kindern aus einer im Bürgerkrieg versinkenden Hauptstadt; ihr Ziel, eine mythische „République du Jura“, bleibt bis zuletzt schemenhaft. Schon die ersten Zeilen – „Früher waren wir alle ungefährlich“ 1 – verankern das Werk in einer moralischen Archäologie der Gewalt: Der Text erzählt weniger den Zusammenbruch eines Staates als die Erosion des Menschlichen durch Sprache, Angst und Anpassung. Humbert zeigt damit auf, dass in einer individualistischeren Gesellschaft das Fehlen von Idealen oder kollektiven Zielsetzungen zu einer „Armut“ der Gesellschaft führen kann, in der das Zusammenleben erschwert wird und der Zusammenhalt schwindet. Der Titel Jenseits des Lebens verweist zugleich auf den Tod und auf die Überschreitung der bürgerlichen Zivilisation. Humbert stellt sein Werk unter das Motto Simone Weils – „Stärke, sie macht jeden zu einem Ding, der ihr unterworfen ist.“ 2 – und entwirft damit eine Poetik der Entmenschlichung. „L’autre côté“ das ist der Ort, an dem das Humane in bloße Triebmechanik zerfällt, an dem die Sprache der Moral in den Lärm der Gewalt umschlägt.

Cette méfiance, voilà si longtemps que nous l’éprouvons… Il n’était pas si difficile de maintenir des liens, une forme de cordialité superficielle qui supposait une entente sur des principes fondamentaux. J’aimais bien la politesse, cela permettait une fluidité des rapports sociaux. Une sorte de glissement qui impliquait une attention minimale à l’autre et le respect sous-jacent d’une unité sociale. Certains ont dit que la politesse dissimulait le mépris et qu’une politesse trop parfaite écrasait l’autre, comme on parle à une femme de ménage. Que c’était hypocrite. Je n’ai pas bien compris. J’avais appris les formules de politesse françaises, c’était du travail, surtout pour les formules écrites en fin de courrier administratif : Veuillez recevoir, Madame, Monsieur, l’assurance de ma considération distinguée. De considérations distinguées en assurances respectueuses et respectueux hommages , on s’égarait quand même pas mal dans les formes fantomatiques. Pour le reste, j’aimais bien, c’était assez drôle. Surtout Je vous en prie . Cela me plaisait. Une forme haut perchée, un peu excessive. Tout cela n’était pas mal pensé. C’était en tout cas préférable aux hurlements ou à l’indifférence absolue qui nous font avancer seuls, totalement seuls dans le monde.

Dieses Misstrauen, das wir schon so lange empfinden … Es war nicht so schwer, Beziehungen aufrechtzuerhalten, eine Art oberflächliche Herzlichkeit, die eine Einigung über grundlegende Prinzipien voraussetzte. Ich mochte Höflichkeit, sie ermöglichte einen reibungslosen Ablauf der sozialen Beziehungen. Eine Art Gleiten, das ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit für den anderen und den unterschwelligen Respekt vor einer sozialen Einheit implizierte. Einige sagten, Höflichkeit verberge Verachtung und dass zu perfekte Höflichkeit den anderen erdrücke, so wie man mit einer Putzfrau spricht. Dass es heuchlerisch sei. Ich habe das nicht ganz verstanden. Ich hatte die französischen Höflichkeitsformeln gelernt, das war harte Arbeit, vor allem die Formeln am Ende von Verwaltungsschreiben: Veuillez recevoir, Madame, Monsieur, l’assurance de ma considération distinguée. Von „distinguierten Grüßen” über „respektvolle Versicherungen” bis hin zu „respektvollen Huldigungen” verlor man sich doch ziemlich in den gespenstischen Formen. Ansonsten gefiel es mir gut, es war ziemlich lustig. Vor allem „Je vous en prie“ (Bitte sehr). Das gefiel mir. Eine hochtrabende, etwas übertriebene Form. Das alles war nicht schlecht gedacht. Auf jeden Fall war es besser als das Geschrei oder die absolute Gleichgültigkeit, die uns allein, völlig allein in der Welt vorantreiben.

Dieser Passus bedauert die Atomisierung des Einzelnen und den Verlusts der Zivilität. Der Erzähler reflektiert, wie die einfache Höflichkeit einst das „Flüssige der sozialen Beziehungen“ 3 gewährleistete und eine minimale Achtung des Anderen implizierte. Dies erweist sich in einer nostalgischen Würdigung dieser formalen, fast übertriebenen Sprache des alten Frankreichs, die er trotz ihrer „gespenstischen Formen“ liebte. Er stellt fest, dass diese Formalismen weitaus besser waren als die das Gebrüll oder die absolute Gleichgültigkeit, die die Menschen nun dazu zwinge, „völlig allein in der Welt“ 4 voranzukommen.

Humbert erklärt in einem Interview, dass der Ausgangspunkt seines Romans eine reale Erfahrung war: die Zerstörung einer Autowerkstatt eines Freundes während der französischen Unruhen 2023, die durch den Tod eines jungen Mannes namens Nahel Merzouk ausgelöst wurden. Diese konkrete, schmerzhafte Erfahrung wird zum Symbol für den Zerfall der Gesellschaft, der sich in Gewalt entlädt und die Menschen auseinanderreißt. Humbert sieht in seinem Roman eine Warnung vor dem Auseinanderbrechen sozialer Bindungen – ein „délitement“ der Gesellschaft. Er beschreibt, wie wir nicht mehr zusammenleben und jeder zum Feind für den anderen wird. Die „Anderen“ werden zur latenten Bedrohung, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind verschwimmt. Diese Beobachtung spiegelt wider, wie politische und gesellschaftliche Polarisierungen (Populismus, Post-vérité) die gemeinsame Basis des Zusammenlebens bedrohen.

Der Roman illustriert den erschreckenden und schnellen Zerfall der zivilisierten Gesellschaft Frankreichs, der durch Hass, Gewalt und das Versagen moralischer Kompasse ausgelöst wird, wobei die Saat der Zerstörung durch wachsende Verbitterung und entzündliche Rhetorik gelegt wurde. Zugleich zeigt er die radikale Transformation des Individuums, da der Erzähler seine eigene Unschuld verliert und Hass entwickelt, um seine Kinder (deren Unschuld durch Schrecken, Verlust und die Entwicklung von Grausamkeit längst dauerhaft beschädigt wird) in einer archaischen Welt zu schützen, in der die Anwendung von Gewalt zur Notwendigkeit wird. Der Text führt die verzweifelte Suche nach Utopie und Zuflucht – der Republik Jura – vor Augen, nur um zu enthüllen, dass solche idealistischen Gemeinschaften klein, fragil und den unerbittlichen Kräften des Krieges ausgeliefert sind und letztlich in Flammen aufgehen. Schließlich zeigt der Roman jedoch auch die lebensspendende Kraft von Liebe, Menschlichkeit und kurzlebiger Brüderlichkeit, die in Momenten der Gastfreundschaft (wie auf der Farm oder durch Abraham) oder in der bedingungslosen Liebe des Vaters für seine Kinder als einzige schützende Macht im Angesicht des universellen Elends verbleibt.

Fabrice Humbert, De l’autre côté de la vie, November 2025, Librairie Mollat.

Der Roman ist ein Negativ der klassischen road novel: Bewegung bedeutet hier keine Befreiung, sondern Entblößung. Paris erscheint als „ville désertée avant même les combats“, ein Ruinenraum, in dem Ordnung und Sinn verdampfen. Die Topografie – „porte de Clichy“, „boulevard Malesherbes“, „périphérique“ – konserviert die vertraute Geografie, aber jede Nennung markiert Verlust. Besonders hervorzuheben ist Humberts Bezug auf das Märchen als ästhetisches und strukturelles Modell für sein Buch. Er beschreibt die Atmosphäre des Romans als eine Mischung aus Grausamkeit und Unschuld, die typisch für Märchen sei. Märchen bieten zugleich Schutz und Konfrontation mit der Brutalität der Welt, was Humbert als eine kraftvolle literarische Form begreift, um die Ambivalenz der menschlichen Existenz darzustellen. Die Begegnung mit den Rehen (Biches) im Roman symbolisiert für Humbert die Rückkehr zur „Ursprünglichkeit“ und „Reinheit“, eine Art verlorenes Paradies, das es trotz Chaos und Gewalt zu bewahren gilt. Diese Natursymbolik spiegelt eine tiefe Sehnsucht nach Unberührtheit und Hoffnung wider. Aber Weg in die Natur bringt keine Erlösung; auch die Wälder der Île-de-France sind „des illusions d’innocence“. Humbert spielt mit der Tradition der pastoralen Zuflucht nur, um sie zu zerstören: die „voûtes de feuillage“ sind Spiegelkuppeln eines Traums, der im Rauch endet. Wie in Éden Utopie bleibt der Naturraum ambivalent: Ort der Erinnerung und Projektionsfläche eines verlorenen Humanismus. Der Wald bietet ästhetischen Trost – „la beauté des lieux m’a protégé“ -, doch dieser Schutz ist Fiktion, eine ästhetische Selbstbetäubung. Humberts Raumstruktur ist somit zugleich geographisch und moralisch: jeder Kilometer entfernt den Erzähler weiter von der Zivilisation und näher zur Barbarei in sich selbst.

Die Werke Fabrice Humberts lassen sich als ein kontinuierliches, systematisches Werk deuten, das sowohl inhaltlich als auch poetologisch aufeinander aufbaut und eine kohärente Untersuchung der Gewalt, der Identität und der Fiktionalisierung der modernen Welt darstellt. Humbert beginnt mit der mikroskopischen Analyse individueller und familiärer Traumata, weitet den Fokus dann auf systemischen und globalen Zerfall aus und mündet schließlich in eine radikale metapoetische Reflexion über die Natur der Realität selbst, die im finalen dystopischen Szenario ihren existentiellen Höhepunkt findet. Die Romane funktionieren als Bausteine, indem sie die Erkenntnisse des vorhergehenden Werkes zur Prämisse des nachfolgenden machen.

Inhaltlich löst der Roman die düsteren Prophezeiungen früherer Werke ein. De l’autre côté de la vie beschreibt den vollständigen Zusammenbruch der Zivilgesellschaft, der in Avant la chute (2012) als drohendes globales Fresko und in La Fortune de Sila (2010) als Befürchtung des Finanzsystems antizipiert wurde. Hier vollzieht sich der Fall in der Kernzone der westlichen Welt, was zur Annullierung der Logik und der menschlichen Gesetze führt – die Zivilgesellschaft wird zu einer „inhumanen Asozialität“. Wie in L’Origine de la violence und Comment vivre en héros? wird die Gewalt als zentrales Element der menschlichen Existenz betrachtet. Die entscheidende inhaltliche Entwicklung ist jedoch die kollektive Selbstanklage des Erzählers: Der Zusammenbruch ist größtenteils „unser aller Fehler, weil wir verantwortlich waren“. Die Gesellschaft hat sich durch die „Worte des Hasses“ vergiften lassen und ihre moralische Führung verloren. Die Suche nach einer funktionierenden Gemeinschaft, die „République“, knüpft direkt an die utopischen Bestrebungen aus Éden Utopie (2015) an. Im Gegensatz zur Fraternité, die aus Idealen des 20. Jahrhunderts entstand, ist diese neue Gemeinschaft eine Zuflucht des Überlebens, die jegliche Form des „Chefs“ oder der „Führungsposition“ ablehnt. Dies spiegelt die fortgesetzte Kritik an hierarchischer Macht und blindem Gehorsam wider.

In der Folge weitet Humbert die Perspektive auf systemische und gesellschaftliche Makro-Katastrophen, wobei er die Themen Gier und politischen Idealismus untersucht. La fortune de Sila (2010) transformiert die individuelle chute in einen globalen, durch das Finanzwesen verursachten moralischen Niedergang. Der Roman diagnostiziert die Auflösung der menschlichen Existenz in der „réalité absolue de notre monde“, in der Individuen zu bloßen „mouvements bancaires“ werden und feststellen müssen: „Personne n’existe en ce bas monde“. Avant la chute (2012) treibt diese Vision der Auflösung mit einem „vaste fresque d’un monde qui se défait“ zur Konsequenz und zeigt ein „basculement des sociétés“ in Lateinamerika und Europa, wo nur noch das „loi immémoriale du plus fort“ herrscht. Éden Utopie (2015) ergänzt diese systemische Kritik durch die Überprüfung des politischen Idealismus. Humbert argumentiert, dass die utopischen Träume der Nachkriegszeit (verkörpert in La Fraternité) in ihrer kompromisslosen Fortsetzung zur Totalitarismus-Faszination führen und der „rêve de paradis“ in „terrorisme“ mündet. Die systematische Schlussfolgerung lautet, dass jede groß angelegte gesellschaftliche Neugründung zum Scheitern verurteilt ist, sei es durch Gier oder durch ideologische Reinheitssehnsucht.

Die letzten Romane markieren eine poetologische Meta-Krise und die existenzielle Konsequenz der festgestellten Auflösung. Comment vivre en héros? (2017) untersucht die Konstruktion des Selbst durch die Poetik der „vies possibles“ und entlarvt das Heldentum als „mensonge des sociétés guerrières“ und moralisch fehlerhaften Akt. Le monde n’existe pas (2020) nimmt die Thesen zur Fiktionalisierung auf und radikalisiert sie zur Überzeugung, dass die Welt vollständig durch eine „formidable machine narrative“ ersetzt wurde: „La fiction est la réalité et la réalité est la fiction“. Die Realität ist ein „artefact hérissé d’émotions et de fictions“.

De l’autre côté de la vie (2025) kann als systematische Endstufe und Synthese des Werks gelesen werden. Inhaltlich realisiert es die in Avant la chute prophezeite totale zivile Zerstörung 5. Poetologisch reagiert es direkt auf die mediale Fiktionskrise aus Le monde n’existe pas, indem der Erzähler aktiv nach Worten, befreit von ihren Verunreinigungen, ihren Giftstoffen 6 sucht, um den Lügen 7 entgegenzuwirken. Die letzte Utopie, die République du Jura, wird zwar als ein Ort der Zuflucht und Freiheit 8 idealisiert, scheitert aber physisch. In ihrer fatalen Naivität glaubten die pazifistischen Idealisten, ihre „kleine, winzige“ Gemeinschaft könne durch das Festhalten an der Waffenlosigkeit und dem Glauben an die pazifistische Ausnahme die entfesselte Gewalt überstehen. In Zeiten des universellen Konflikts existiert keine andere Gesellschaft, im Angesicht der überwältigenden, amoralischen Macht der Milizen wurde diese Ausnahme zum Selbstmord der Utopie, eine „Menschlichkeit im Menschen“ bewahren zu wollen. Die finale, existenzielle Schlussfolgerung integriert alle Vorkenntnisse: Angesichts des endgültigen Scheiterns aller großen Narrative und Strukturen bleibt nur die nackte, elementare Beharrlichkeit des Lebens als einzig unveräußerliches Faktum, frei von Illusion oder Heldentum: „An nichts glauben, nichts hoffen, nichts erwarten, einfach nur leben. Das musste reichen.“ 9 Humberts Werke bilden eine geschlossene, kumulative Struktur, die von der Entdeckung der inneren Gewalt zur Entlarvung der äußeren Ordnung und schließlich zur existentiellen Reduktion der Wahrheit fortschreitet.

J’aimerais que vous m’écoutiez. Même un peu, même distraitement, même si vous n’aimez pas ce que je raconte. C’est notre destin, non ? Notre pays. Bien sûr, les gens parlent trop et je ne fais pas exception. À notre époque, tout le monde parle, bavasse, s’épanche et se raconte. Et pourtant il le faut bien, parler. On est bien obligé de raconter. C’est comme ça que ça s’est passé. Je ne parle pas pour tous, et sûrement pas au nom de tous, mais beaucoup se reconnaîtront dans mon récit. Écoutez-moi, je vous en prie. Cette vie, qui est aussi, par ses épreuves et ses duretés, l’envers de la vie, beaucoup d’entre nous l’ont vécue et surtout, si nous l’avons endurée, c’est en grande partie notre faute parce que nous étions responsables, tous responsables, à des degrés différents. Nous avons été pris au piège de la haine et de la violence, et malgré les avertissements nous nous sommes enfoncés dans le piège jusqu’à la gorge. Oui, jusqu’à la gorge, parce que c’était bien de là que ça venait, des mots, tous ces mots qui préparaient le terrain. Nous avons tendu l’oreille et leur poison s’est répandu lentement en nous, goutte à goutte et mot à mot, la nappe toxique rongeant nos consciences, abolissant toute morale. Comme ils venaient de partout, en immenses nuées mensongères, traversant à chaque instant notre pensée, ils nous ont engourdis, se sont emparés de nous. Ils nous ont travaillés au corps. Nous avons perdu l’équilibre, nous sommes tombés et c’est cette chute que je veux raconter. Avec mes propres mots, lavés de leurs impuretés, de leurs toxines. Des mots dont il ne restera que la charge de douleur, de compassion et d’espoir. Troquer les mots de la haine contre ceux de l’amour, avec la part de ridicule, et au fond de scandale, que cela comporte. Si c’est possible, puisqu’on porte toujours sa part de poison. Du moins, je sais que j’échapperai aux certitudes de la haine : je n’ai aucune certitude et s’il m’est arrivé de haïr, ce n’était que des personnes particulières, pour le mal qu’elles faisaient aux miens.

Ich möchte, dass Sie mir zuhören. Auch wenn es nur ein bisschen ist, auch wenn Sie nur zerstreut zuhören, auch wenn Ihnen nicht gefällt, was ich erzähle. Das ist doch unser Schicksal, oder? Unser Land. Natürlich reden die Leute zu viel, und ich bin da keine Ausnahme. In unserer Zeit reden alle, plappern, schütten ihr Herz aus und erzählen von sich. Und doch muss man reden. Wir sind gezwungen zu erzählen. So ist es nun einmal. Ich spreche nicht für alle und sicherlich nicht im Namen aller, aber viele werden sich in meiner Erzählung wiedererkennen. Hören Sie mir bitte zu. Dieses Leben, das mit seinen Prüfungen und Entbehrungen auch die Kehrseite des Lebens ist, haben viele von uns erlebt, und vor allem, wenn wir es ertragen haben, ist das zum großen Teil unsere eigene Schuld, weil wir verantwortlich waren, alle verantwortlich, in unterschiedlichem Maße. Wir waren in Hass und Gewalt gefangen und trotz der Warnungen sind wir bis zum Hals in die Falle getappt. Ja, bis zum Hals, denn genau dort kam es her, die Worte, all diese Worte, die den Boden bereiteten. Wir haben ihnen zugehört, und ihr Gift hat sich langsam in uns ausgebreitet, Tropfen für Tropfen und Wort für Wort, und die giftige Schicht hat unser Gewissen zerfressen und jede Moral zerstört. Da sie von überall her kamen, in riesigen Schwärmen von Lügen, die jeden Augenblick unsere Gedanken durchdrangen, haben sie uns betäubt und sich unserer bemächtigt. Sie haben uns körperlich zermürbt. Wir haben das Gleichgewicht verloren, wir sind gefallen, und von diesem Sturz möchte ich erzählen. Mit meinen eigenen Worten, befreit von ihren Verunreinigungen, ihren Giftstoffen. Worte, von denen nur die Last des Schmerzes, des Mitgefühls und der Hoffnung übrig bleibt. Die Worte des Hasses gegen die der Liebe eintauschen, mit dem Teil der Lächerlichkeit und im Grunde genommen des Skandals, den dies mit sich bringt. Wenn das möglich ist, denn man trägt immer einen Teil des Giftes in sich. Zumindest weiß ich, dass ich den Gewissheiten des Hasses entkommen werde: Ich habe keine Gewissheiten, und wenn ich jemals gehasst habe, dann nur bestimmte Personen, weil sie meinen Lieben Schaden zugefügt haben.

Dieser Eröffnungsmonolog umreißt die zentrale Problematik des Romans: Der gesellschaftliche Absturz ist nicht nur durch Gewalt, sondern primär durch hasserfüllte und lügnerische Worte verursacht, die das Gewissen zersetzt und jegliche Moral abschafft. Die Poetik liegt in der Selbstverpflichtung des Erzählers, der seine Worte reinigen und die Sprache des Hasses gegen die „der Liebe, des Mitleids und der Hoffnung“ 10 eintauschen will, selbst wenn er dieses Unterfangen als lächerlich und skandalös ansieht. Er positioniert sein Erzählen als einen Akt der Reinigung und als Versuch, den „Gewissheiten des Hasses“ 11 zu entkommen.

Der Roman setzt mitten im Exodus ein, doch immer wieder bricht der Erzähler den Fluchtbericht durch Rückblenden und Reflexionen. Die Zeitstruktur wechselt zwischen linearer Bewegung (von Paris Richtung Jura) und zyklischer Wiederkehr: Jede Etappe reproduziert das gleiche Muster von Angst, Entscheidung, Schuld und Entfremdung. Dieses Kreisen erzeugt das Gefühl einer apokalyptischen Gegenwart ohne Fortschritt. „Wir sind in die Falle des Hasses geraten … wir sind bis zum Hals in der Falle stecken geblieben.“ 12 – diese Sätze rhythmisieren das Werk. Zeit ist hier kein Kontinuum, sondern ein moralisches Sinken: jedes Kapitel eine weitere Stufe der inneren Verrohung.

Wie schon in L’origine de la violence oder Le monde n’existe pas verbindet Humbert persönliche Chronik mit geschichtlicher Allegorie. Der Bürgerkrieg in De l’autre côté de la vie bleibt unbestimmt, zugleich jedoch gesättigt von den Symbolen der Gegenwart: brennende Vorstädte, kollabierende Netze, „la Commune“ und „l’armée régulière“. Die Zeit des Romans ist posthistorisch – eine Zukunft, die bereits begonnen hat.

Die Dystopie wird nicht primär durch äußere Katastrophen (obwohl diese erwähnt werden, etwa der Klimawandel) herbeigeführt, sondern durch die Ausbreitung von Hass, Gewalt und „toxischen“ Worten, die die Gewissen untergraben und jegliche Moral außer Kraft setzen. Ein zentrales Merkmal ist der Ursprung des Chaos im kulturellen und verbalen Verfall. Die Gesellschaft verlor ihren moralischen Kompass, da die Menschen anfingen, ihre Meinungen zu schreien und Feinde zu erfinden, wodurch sie den Boden für den Bürgerkrieg bereiteten. Zudem zeichnet sich die Dystopie durch eine hyper-spezifische, klassensegregierte und urbane Zerstörung aus. Der Zerfall manifestiert sich in einem Bürgerkrieg zwischen dem versagenden Gouvernement (den „Bleus“) und den aufständischen Milizen der Kommune (den „Rouges“), deren Assaut Paris in eine Arena der Zerstörung verwandelt, wobei symbolische Orte wie die Bastille und der Élysée-Palast fallen. Diese Spaltung wird durch die physische Abspaltung der Reichen vom Elend verschärft: Das „Royaume“ ist eine utopische Enklave, geschützt durch eine transluzide Kuppel, die die absolute „Sécession des riches“ und die klare Trennung zum „enfer des pauvres“ (Hölle der Armen) darstellt. Schließlich liegt die Spezifität von Humberts dystopischer Form in der radikalen Transformation des zivilisierten Individuums. Der Erzähler, ein gewissenhafter Anwalt und ein früher „ungefährlicher“ Mensch („inoffensif“), wird durch die Notwendigkeit des Überlebens, durch die dystopische Realität zur moralischen Inversion gezwungen, was die Zerstörung des zivilisierten Selbst im Angesicht der archaischen Gewalt verdeutlicht.

Von den Unruhen unverschont

Die „République du Jura“ (Republik des Jura) wird in De l’autre côté de la vie durch eine Mischung aus Mythos, spekulativer Hoffnung und desillusionierter Realität entworfen. Sie ist kein direkt erreichbarer oder verifizierbarer Ort, sondern zunächst eine Lüge der Ziele 13, ein notwendiger Ankerpunkt in der „Apokalypse“ und der chaotischen Flucht des Erzählers und seiner Kinder. Der Erzähler erfährt von der Republik durch seine Frau, eine Akademikerin, und ihre Freunde, „des gens qui refusaient d’appartenir à un camp“ (Leute, die sich weigerten, einer Seite anzugehören). Er glaubt – oder muss glauben -, dass es „irgendwo, warum nicht im Jura, eine Gemeinschaft, die von den Unruhen verschont blieb“ gibt.

Beaucoup pensaient que parmi les nombreuses raisons de la guerre civile, la sécession du Royaume avait été une cause majeure. Sous la conduite de deux familles de milliardaires du Nord… une enclave merveilleuse qu’ils ont appelée le Royaume, un paradis protégé par un dôme translucide des bouleversements climatiques devenus si effrayants. Plus d’inondations, plus de tempêtes, les saisons recréées, des paysages luxuriants conçus de toutes pièces, un pays de cocagne avec des services exceptionnels en matière de santé, de nourriture, d’éducation et d’IA. Tout ce dont on pouvait rêver. Un ruissellement de richesses. En échange bien sûr d’un loyer exorbitant puisque le paradis a un prix, les désirs un loyer. Celui qui ne paie plus sort, comme Labarre. Je suppose que les riches vivent encore parfaitement heureux là-bas.

Viele glaubten, dass unter den zahlreichen Gründen für den Bürgerkrieg die Abspaltung des Königreichs eine wichtige Rolle gespielt hatte. Unter der Führung zweier Milliardärsfamilien aus dem Norden … entstand eine wunderbare Enklave, die sie das Königreich nannten, ein Paradies, das durch eine durchsichtige Kuppel vor den so beängstigenden klimatischen Umwälzungen geschützt war. Keine Überschwemmungen, keine Stürme mehr, neu geschaffene Jahreszeiten, üppige Landschaften, die von Grund auf neu gestaltet wurden, ein Schlaraffenland mit außergewöhnlichen Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Bildung und KI. Alles, was man sich nur wünschen konnte. Ein Überfluss an Reichtümern. Natürlich im Austausch gegen eine exorbitante Miete, denn das Paradies hat seinen Preis, Wünsche haben ihre Miete. Wer nicht mehr zahlt, muss gehen, wie Labarre. Ich nehme an, dass die Reichen dort immer noch vollkommen glücklich leben.

Dieser Auszug beleuchtet die spezifische Problematik der dystopischen Klassensegregation. Der „Sécession des riches“ in Form eines Königreichs wird als eine „wunderbare Enklave“ beschrieben, die durch eine durchscheinende Kuppel vor den klimatischen Umwälzungen und dem Chaos des Bürgerkriegs geschützt ist. Das politische Verhältnis ist hier zynisch und kontrastiv: Das „Royaume“ ist ein künstliches Paradies 14, das Luxus und perfekte Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, KI) bietet, jedoch nur gegen eine „exorbitante Miete“. Dieser zynische Kommentar über den hohen Preis des Paradieses unterstreicht, dass die utopische Gesellschaft der Reichen lediglich die Kapitulation vor dem Klassenkampf darstellt, da sie das Elend und die Hölle 15 außerhalb der Kuppel einfach ignoriert.

Narrativ erhält die Republik die Funktion eines utopischen Traumes und eines letzten Refugiums. Vor der Ankunft klingt der Name für den Erzähler wie der Titel eines „poème épique“ (episches Gedicht), ein starkes narratives Signal für ihre ideelle Überhöhung. Die Republik wird so zum ultimativen Fluchtpunkt vor dem latenten Bürgerkrieg 16 und der „inhumain asocialité“ des zusammenbrechenden Landes.

Bei der Ankunft wird dieser Mythos unmittelbar demontiert. Die Republik ist nicht das erwartete monumentale Utopia mit „tours, pas de marbre ou d’ivoire“, wie es Matthieu in La Fortune de Sila für seinen Turm der Selbsterhaltung erträumt hatte. Stattdessen ist sie ein kleines Dorf: düster, klein und lächerlich 17, mit nur dreihundertsiebenundneunzig Bewohnern – zu schwach, um einem ersten Angriff standzuhalten. Die ästhetische Desillusionierung unterstreicht Humberts durchgängige Skepsis gegenüber grandiosen utopischen Narrativen.

Die Republik wurde von drei Gründern – Seigle, Rérolle und Bénédicte – ins Leben gerufen. Sie wollten eine Gemeinschaft, die von von zeitgenössischen Übeln befreit ist 18 und haben die Reinheit gewählt 19. Der Erzähler, zutiefst desillusioniert, kommentiert zynisch: „Wenn man von Reinheit spricht, ist das im Allgemeinen ein schlechtes Zeichen“, und die offen zur Schau gestellte Reinheit riecht immer nach Fäulnis 20.

Trotz ihrer physischen Fragilität ist die Gemeinschaft in ihrer sozialen und ideologischen Konzeption von entscheidender narrativer Bedeutung. Die Bürger essen in gemeinsamen Gruppen, denn die Mahlzeit soll eine „sociabilité“ sein, was dem Ideal Kants zugeschrieben wird. Die Gemeinschaft dient dazu, den Menschen im Menschen 21 zu bewahren. Die Republik wird charakterisiert durch Pazifismus und Ablehnung von Führung: Die Gemeinschaft besteht aus „inoffensifs“ (Ungefährlichen), viele davon Intellektuelle, viele Professoren, die an Gleichheit und Frieden glauben. Sie lehnt die Vorstellung eines „Chef“ (eines Führers) ab und verbietet schon das Wort selbst, weil einen Führer zu wählen, bedeute, Entscheidungen und Verantwortung zu untersagen 22. Dies steht im Gegensatz zu der Machtstruktur, die in Avant la chute bei Senator Urribal oder in Comment vivre en héros? bei Bürgermeister Courroie als Garant der autoritären Ordnung entworfen wird.

Die Republik des Jura ist der letzte Test des utopischen Traumes und dient als Spiegel der kollektiven Verantwortung für den Zusammenbruch. Die Republik setzt Humberts kontinuierliche Auseinandersetzung mit idealistischen Gemeinschaften fort. In Éden Utopie wurde die „Fraternité“ aus idealistischen, aber bourgeoisen protestantischen Werten heraus geboren und mündete im radikalen, teils terroristischen Aktivismus der nächsten Generation, welche sich in der Absicht verstrickt hat, zu befreien 23. Die Fraternité war trotz ihres Scheiterns ein „palais étincelant et sublime“ der Jugend. Die République du Jura ist im Gegensatz dazu keine nostalgische Erinnerung, sondern ein verzweifelter, pragmatischer Versuch, die „nouvelle forme de société“ zu verwirklichen. Das Scheitern ist jedoch hier total und physisch.

Obwohl die Republik die richtigen moralischen Entscheidungen getroffen hat (Ablehnung von Autorität, Streben nach Frieden), ist sie nicht gegen die universelle Gewalt der „fatalité s’accomplissant“ gewappnet. Die „agora d’Athènes revisitée“ – die idealistische Debatte – wird durch die „habileté des mots“ des bärtigen Idealisten (der zur Selbstaufgabe rät) besiegt, und die Gemeinschaft öffnet die Tore für die Milizen. Die Republik wird zur symbolischen Darstellung der Ohnmacht des moralischen Ideals im Angesicht der elementaren, entfesselten Gewalt. Ihr Feuer am Ende markiert den endgültigen Tod der organisierten Hoffnung, was den Erzähler zur letzten, reduzierten Existenzform zwingt:

Ne croire à rien, ne rien espérer, ne rien attendre, juste vivre.

An nichts glauben, nichts hoffen, nichts erwarten, einfach nur leben.

Narrative Verfahren und Stimme

Die Erzählstimme ist das Zentrum der Konstruktion. Der namenlose Ich-Erzähler spricht in einem endlosen Monolog, der zugleich Rechtfertigung, Bekenntnis und Bericht ist. Seine Sprache schwankt zwischen juristischer Präzision und lyrischer Verzweiflung, zwischen Selbstanklage und Selbstentschuldigung. Der Modus des Sprechens ist performativ: Er redet, um Mensch zu bleiben, ohne Anspruch darauf, Recht zu haben. „Je ne dis pas que j’ai raison, je dis ce que j’ai vécu.“ Die Bekenntnisform zielt auf Authentizität, offenbart aber die Unmöglichkeit moralischer Klarheit im Chaos. Humbert greift hier auf Techniken zurück, die er in Le monde n’existe pas erprobt hatte: die Illusion eines ungebrochenen Monologs, der durch stilistische Schleifen und gedankliche Wiederholungen seine eigene Fiktionalität entlarvt. Der Erzähler spricht, als könne Sprache die Welt rekonstruieren – doch sie entgleitet ihm. Die Satzrhythmen, die Ellipsen und Selbstkorrekturen („peut-être… je ne sais pas…“) inszenieren den Zerfall von Rationalität.

Formal bewegt sich der Text zwischen dystopischem Roman, Fluchtchronik und moralischem Essay. Seine dystopische Struktur ist nicht technizistisch wie bei Orwell oder Houellebecq, sondern existenziell. Die Zukunftsform dient als Spiegel des Gegenwartsbewusstseins: Es ist ein „realistischer Albtraum“. Humbert verfremdet den Ton des Berichts zu einer modernen Passionserzählung. Die langen Absätze, die rhythmische Wiederkehr der Selbstadressierungen („Écoutez-moi, je vous en prie“) verleihen dem Text einen oratorischen Zug, fast eine liturgische Dimension. Humberts Stil in diesem Roman ist durchsetzt von Anaphern, rhythmischen Dreierfiguren und einer musikalischen Prosa. Die Syntax schwankt zwischen langen Perioden und abrupten Einschüben. Der juristische Ton mischt sich mit biblischer Pathosformel: „C’est la guerre“ wird zum Refrain, ein neues Credo der Ohnmacht. Die Sprache ist zugleich präzise und trunken. Die Vielzahl der selbstkorrektiven Formeln („je crois“, „peut-être“, „je ne sais pas“) inszeniert die Unsicherheit des Subjekts. In dieser instabilen Diktion liegt der eigentliche ästhetische Reiz: Humbert schreibt im Bewusstsein der Spracherschöpfung – ein Erzählen über das Ende des Erzählens.

Die Kommunikation im Roman ist radikal beschädigt. Zwischen Vater und Kindern herrscht ein Wechsel aus Schweigen und kindlichem Schock; mit Fremden ist Sprache nur noch Tarnung oder Bedrohung. Humbert beschreibt eine Gesellschaft, in der Diskurs zur Vorstufe der Gewalt wird: „Les mots… préparaient le terrain.“ Die Katastrophe beginnt nicht mit Waffen, sondern mit Worten – eine literarische Umkehrung des juristischen Logos des Erzählers.

Die Hauptfigur verkörpert selbst den Typus des „inoffensif“ – den anständigen Bürger, der nie kämpfte und gerade darin schuldig wird. Seine Kinder, Alice und Alexandre, sind lebende Zeugen seines moralischen Abstiegs. Die Szene, in der der Vater einen Angreifer überfährt, ist paradigmatisch: das unmerkliche Umschlagen des Selbstschutzes in Grausamkeit. „Je demande pardon… C’est la guerre.“ Diese Rechtfertigung zehrt an der gesamten moralischen Grammatik des Romans. Die Kinder bilden eine Art Widerlager: Ihr Schweigen, ihre Angst bewahren ein Restmaß von Menschlichkeit. Der Vater erkennt im Blick der Tochter „l’empreinte de l’humanité que je cherche“. Diese Suche ist zugleich theologischer und ästhetischer Natur. Humbert zeigt, dass Humanität nur noch als Spur existiert – als Erinnerungsgestalt im Blick eines Kindes.

Politisch ist De l’autre côté de la vie keine Parabel im Sinne einer eindeutigen Satire, sondern ein moralischer Totentanz über die Zersetzung demokratischer Gesellschaften. Der Bürgerkrieg zwischen „Rouges“ und „Bleus“ ist Projektion und Gleichnis zugleich. Der Erzähler sagt: „Die Leute fingen an zu schreien … Sie brüllten, als wären sie von Feinden umzingelt. Tatsächlich bereiteten sie sich auf den Krieg vor.“ 24 Die Ursache der Katastrophe liegt nicht in ökonomischen Faktoren allein, sondern im Verlust gemeinsamer Sprache, im Zerfall der „politesse“ als zivilisatorischem Minimum.

Damit schließt Humbert an die moralphilosophische Tradition an, zugleich aber an Simone Weil: Die wahre Gewalt beginnt, wo der Mensch zum Objekt der eigenen Macht wird. Die Republik des Jura – ein mythisches Refugium – verkörpert den Traum einer neuen Polis jenseits der politischen Religionen. Doch Humbert lässt offen, ob sie existiert: sie ist eine negative Utopie, eine Chiffre für das unrettbare Bedürfnis nach Sinn.

Entmenschlichung und Vergiftung des Worts

Der Roman ist von einem obsessiven Motivnetz getragen, das zwischen Gift, Reinheit und Sprache vermittelt. Gleich im Prolog heißt es: „Die Worte … hatten sich langsam in uns ausgebreitet, Tropfen für Tropfen und Wort für Wort, und die giftige Schicht zerfraß unser Gewissen.“ 25 Diese Formulierung verwandelt Diskurs in chemische Kontamination. Der moralische Zerfall wird als biopolitische Vergiftung inszeniert: Worte dringen in die Körper ein, jede Moral abschaffend 26. Humbert verleiht dieser Metaphorik eine doppelte Funktion. Sie erklärt die Gewalt als rhetorische Epidemie, als Folge eines Sprachkörpers, der seine immunologische Grenze verloren hat. Zugleich verwandelt sie den Erzähler selbst in ein verseuchtes Medium: Er schreibt, um sich zu „désintoxiquer“, doch seine Rede bleibt infiziert. Das wiederkehrende Bild des „lavage des mots“ bringt diese Ambivalenz auf den Punkt: Der Text ist Reinigungsritual und Selbstvergiftung zugleich.

Dem steht eine zweite große Bildachse gegenüber: Licht und Feuer. Die brennende Stadt, der Molotowcocktail, die „boule de feu“ des Jerrikans sind nicht nur Zeichen des Krieges, sondern auch metaphysische Symbole. Der Erzähler empfindet in der Explosion „une beauté dans cet orbe mortel“ – die Versuchung der Ästhetik des Bösen. Humbert führt hier das Thema der „violence sacrée“ aus L’origine de la violence fort: die gefährliche Faszination, mit der das Schöne den moralischen Abgrund überblendet. Feuer wird zur paradoxen Metapher der Wahrheit – reinigend und zerstörend zugleich.

Der Roman stellt Gewalt nicht als spektakulären Ausnahmezustand dar, sondern als graduellen Prozess der Anpassung. Der Satz „Wir waren ungefährlich und hätten es auch bleiben müssen, um Menschen zu bleiben.“ 27 ist sein moralischer Mittelpunkt. Gewalt entsteht aus Angst, Angst aus Gewöhnung. Das Töten des Wächters am Barrikadenposten, das blinde Schießen in der Tankstelle, die Aggression gegen die Flüchtenden – jedes dieser Ereignisse ist weniger Tat als Schwelle, an der der Erzähler sich selbst verliert. Humbert schreibt keine Kriegsreportage, sondern eine Phänomenologie der Verrohung. Die Szene, in der der Vater seine Tochter nach dem Mord anblickt ist das Gegenbild zur klassischen Erlösungsfigur: Das Kind ist nicht mehr Symbol der Zukunft, sondern Spiegel des moralischen Restes, der zu verlöschen droht.

Gleichzeitig reflektiert Humbert Gewalt als anthropologische Konstante, nicht als bloßen Ausnahmezustand. Seine epigraphische Berufung auf Simone Weil setzt die Linie fort, die er schon in Comment vivre en héros ? gezogen hatte: Der Held ist nicht der Kämpfer, sondern der, der der Gewalt widersteht. In De l’autre côté de la vie misslingt dieser Widerstand. Das Heldentum wird ersetzt durch den zitternden Versuch, sich selbst zu erklären. Die häufigen juristischen Vokabeln – „responsable“, „coupable“, „bourreau“ – markieren die Ethik des Autors: Schuld ist unteilbar, Recht kollabiert mit der Gesellschaft. Der Anwalt, Symbol der Zivilität, wird zum Täter und bleibt doch ihr Zeuge. Humbert deutet damit an, dass die Moderne nicht an exzessiver Brutalität, sondern an der Banalisierung des Rechtsbewusstseins zugrunde geht.

Die Interpretation des Romans aus der Perspektive der Justiz und Rechtssprechung ist untrennbar mit der radikalen moralischen und existentiellen Umkehrung des Erzählers verbunden, der vor dem Zusammenbruch ein normaler Anwalt („avocat normal“) war und sich selbst als „respektvoll gegenüber dem Gesetz, der Rechtsprechung und den Verfahren“ 28 beschrieb. Seine ursprüngliche Überzeugung, dass die Einhaltung des Gesetzes ein „korrektes Mittel“ sei, die Gesellschaft zusammenzuhalten, wird durch die Dystopie widerlegt, in der die Ausbreitung von Hass und „toxischen“ Worten zur Abschaffung jeglicher Moral 29 und zum Chaos führte. Der Text interpretiert den Krieg als das absolute Ende der Rechtsstaatlichkeit; der Erzähler wird gezwungen, Gewalt „ohne Hass und ohne Wut“ anzuwenden und sieht in einem Menschen, der vor sein Auto läuft, nur noch ein zu beseitigendes Hindernis 30, wodurch sein einst „ungefährliches“ zivilisiertes Selbst zerstört wird. Er verurteilt jene ambitionierten Rechtsanwälte, die sich der neuen Gewalt beugten und die vorgeschriebene Melodie anstimmten 31, da sie sich der Macht unterwarfen und so zu Verrätern wurden, während gleichzeitig juristische Begriffe wie „stehlen“ in der neuen Realität ihre Bedeutung verlieren. Damit zeigt die Geschichte, wie in Zeiten der „Tyrannei der Geschichte“ 32 die moralische Kompassnadel 33 der Gesellschaft verrückt spielt und das Gesetz der Macht weicht.

J’avais rarement vu autant de richesse dans ma vie. Il y a bien longtemps, lorsque je pouvais prétendre à une vraie carrière dans mon métier, j’ai connu certains grands hôtels dont j’aimais le luxe sans tapage. À vrai dire, j’aurais aimé en connaître davantage mais sans faire les efforts pour y arriver. Je l’ai dit, je ne suis pas un combattant. J’ai toujours fait mon travail avec conscience et sérieux, sans les qualités d’énergie, de réseau et d’ambition qui permettent une vraie réussite professionnelle. J’étais un bon avocat mais je suis resté dans mon coin, voilà tout. Et si certains avaient misé sur moi, ils ont déchanté, les invitations ont été plus rares et les palaces sont devenus des bons hôtels puis des hôtels puis plus rien. Cela ne me gêne pas, c’est ainsi. La part d’illusion que recèle toute ambition sociale m’a toujours paru trop lourde à porter. Je n’y étais pas hostile, parfois j’aimais bien contempler les démonstrations de force des confrères dans les réunions et les soirées mais à quoi bon ? À quoi bon tout cela ? Et puis toutes les ambitions se sont peu à peu défaites à mesure que la tension montait, que les seuls enjeux sont devenus ceux de l’affrontement global. Les avocats qui voulaient vraiment l’emporter se sont engagés en politique et ont choisi leur camp. Ils se sont mis à entonner la chanson qu’il fallait tenir, avec les refrains, les passages obligés et les éléments de langage. Leur parole s’est faite code de reconnaissance, pour les leurs, contre les autres. Ils sont devenus des traîtres. Tout être qui entonne la chanson, chacun à son niveau, est un traître parce qu’il ne pense pas, parce que les mots s’emparent de lui et n’en font qu’un objet propre à la conquête du pouvoir. Je crois même que celui qui ne se méfie pas du discours ambiant, qui se laisse remplir par ses ébauches, ses raccourcis et ses pièges, est prêt à abdiquer sa pensée propre. Parce qu’à la fin, c’est la force qui l’emporte. Et tout être soumis à la force est un traître, il ne restera de lui que le feu et les cendres. Mes ambitieux, qu’ils croient ou non à la chanson, ont succombé à la force, ils se sont mis à gueuler. Et après, c’est allé assez vite. Les choses ont une sale tendance à se défaire.

Ich hatte in meinem Leben selten so viel Reichtum gesehen. Vor langer Zeit, als ich noch auf eine echte Karriere in meinem Beruf hoffen konnte, lernte ich einige große Hotels kennen, deren unaufdringlichen Luxus ich schätzte. Ehrlich gesagt hätte ich gerne mehr davon gesehen, aber ich habe mich nicht darum bemüht. Wie gesagt, ich bin kein Kämpfer. Ich habe meine Arbeit immer gewissenhaft und ernsthaft erledigt, ohne die Eigenschaften wie Energie, Netzwerk und Ehrgeiz, die einen echten beruflichen Erfolg ermöglichen. Ich war ein guter Anwalt, aber ich blieb in meiner Ecke, das ist alles. Und wenn einige auf mich gesetzt hatten, wurden sie enttäuscht, die Einladungen wurden seltener und die Paläste wurden zu guten Hotels, dann zu Hotels und schließlich zu nichts mehr. Das stört mich nicht, so ist es eben. Der Anteil an Illusion, den jeder soziale Ehrgeiz mit sich bringt, erschien mir immer zu schwer zu tragen. Ich war nicht abgeneigt, manchmal beobachtete ich gerne die Machtdemonstrationen meiner Kollegen bei Sitzungen und Abendveranstaltungen, aber wozu? Wozu das alles? Und dann lösten sich alle Ambitionen nach und nach auf, als die Spannungen zunahmen und die einzigen Herausforderungen zu denen einer globalen Konfrontation wurden. Die Anwälte, die wirklich gewinnen wollten, engagierten sich in der Politik und wählten ihre Seite. Sie begannen, das Lied zu singen, das man singen musste, mit den Refrains, den obligatorischen Passagen und den Sprachelementen. Ihre Worte wurden zu einem Erkennungszeichen für die eigenen Leute und gegen die anderen. Sie wurden zu Verrätern. Jeder, der das Lied singt, jeder auf seiner Ebene, ist ein Verräter, weil er nicht denkt, weil die Worte ihn ergreifen und ihn zu einem Objekt machen, das nur der Eroberung der Macht dient. Ich glaube sogar, dass derjenige, der dem vorherrschenden Diskurs nicht misstraut, der sich von seinen Entwürfen, seinen Abkürzungen und seinen Fallen einnehmen lässt, bereit ist, sein eigenes Denken aufzugeben. Denn am Ende siegt die Gewalt. Und jeder, der sich der Gewalt unterwirft, ist ein Verräter, von ihm bleiben nur Feuer und Asche übrig. Meine Ehrgeizigen, ob sie nun an das Lied glauben oder nicht, sind der Macht erlegen, sie haben angefangen zu brüllen. Und danach ging alles ziemlich schnell. Die Dinge haben die unangenehme Tendenz, sich aufzulösen.

Dieser Abschnitt behandelt die Problematik des moralischen Verrats und des Verfalls des Justizsystems aus Sicht des Erzählers. Er sieht sich als „ungefährlicher“ Mensch, dem die Ambition fehlte. Die Tragödie liegt im Schicksal seiner ehrgeizigen Anwaltskollegen, die, als die Spannung stieg, ihren Beruf aufgaben, um sich der Politik anzuschließen und „die nötige Melodie anzustimmen“ („entonner la chanson“). Die Poetik verwendet die Metapher des „Liedes“ und des „Verräters“: Jeder, der das herrschende Narrativ übernimmt, wird zum Verräter, weil er sein eigenes Denken aufgibt und sich der „Kraft“ unterwirft, die letztendlich triumphiert. Der Erzähler diagnostiziert hier, dass die Justiz kollabiert, als ihre Vertreter die Selbstbestimmung und die kritische Distanz zum politischen Diskurs aufgaben, wodurch sie in der „Tyrannei der Geschichte“ zu „Objekten der Macht“ degradiert wurden.

Die Textform verwischt radikal die Grenze zwischen Roman und Bekenntnis. Die Ich-Stimme adressiert den Leser direkt – „Écoutez-moi, je vous en prie“ -, wodurch der Roman zum Zeugnis wird, das seine Fiktionalität verleugnet. Diese rhetorische Strategie erzeugt eine paradoxe Authentizität: Der Erzähler ist erfunden, aber seine Schuld ist echt. Humbert spielt hier mit der doppelten Autorität des Erzählens: der literarischen (Erfindung) und der juridischen (Aussage). Der Erzähler, einst Anwalt, führt gewissermaßen seine eigene moralische Verhandlung. Die Sprache des Geständnisses („Je demande pardon“) kollidiert mit der Sprache des Beweises („Je ne dis pas que j’ai raison“). Dieser Zusammenstoß von Redeformen strukturiert den Roman. Jede Episode ist eine Szene der Kommunikation, die misslingt – ob zwischen Vater und Tochter, Soldat und Zivilist oder Bürger und Staat. Humbert demonstriert damit, wie das Erzählen selbst zur letzten Form des Menschlichen wird. Im Verstummen des Dialogs bleibt nur der Monolog als moralisches Überleben.

In Humberts Werk vollzieht sich seit L’Origine de la violence (2009) eine fortschreitende Verlagerung vom historischen zum imaginären Trauma. Der Holocaust-Roman über den zwischen Angst und Gewaltausbrüchen taumelnden Lehrer und die Suche nach dem Ursprung des Bösen mündete in Le monde n’existe pas (2020) in eine mediale Anthropologie: Wie zerstört die Virtualität die Wirklichkeit? De l’autre côté de la vie vereint beide Linien. Er ist zugleich Geschichtsfabel und Gegenwartsdiagnose, sowohl politisch als auch ontologisch. Die Zersetzung der Wahrheit durch „les mots“ wiederholt das medienkritische Motiv aus Le monde n’existe pas; die moralische Kontamination erinnert an L’Origine de la violence.

Neu ist die konsequent subjektive Form: Wo frühere Romane multiperspektivisch operierten, verschmilzt hier die Erzählung mit dem Bewusstsein des Protagonisten. Humbert treibt die Individualisierung bis an die Grenze des Solipsismus: Die Außenwelt existiert nur noch als Projektion des Erzählers. Damit beantwortet er die Frage des Vorgängerromans auf paradoxe Weise: „le monde n’existe pas“, wenn dies stimmt, bleibt nur das Zeugnis des Einzelnen, der sich an seine eigene Stimme klammert.

Kindheit, verlorenes Paradies

Humberts Romane entwickeln eine vielschichtige „Poetik der Kindheit“, die sich zentral um das Spannungsfeld von unschuldiger Idealisierung und traumatischer Prägung dreht. Die Kindheit ist in seinem Werk niemals nur eine nostalgische Epoche, sondern fungiert als ursprüngliches narratives Gravitationszentrum, aus dem die moralischen und psychologischen Komplexitäten des Erwachsenenalters entspringen. Diese Poetik etabliert die Kindheit als verlorene Utopie, als Quelle seelischer Verwundung, als Nährboden für Idealismus und als letzten Anker der Menschlichkeit angesichts des zivilisatorischen Zusammenbruchs.

Die Kindheit wird in Humberts Poetik häufig als ein abgeschlossener, utopischer Kontinent entworfen, dessen Verlust die Erzählung des Erwachsenen erst motiviert. In Éden Utopie wird dieser Verlust wörtlich genommen, indem die „Fraternité“ für die Nachkommen als ein „palais étincelant et sublime“ (funkelnder und erhabener Palast) in der Erinnerung weiterlebt, weil sie ihre Jugend repräsentiert. Der Autor selbst flüchtet in seiner Jugend vor der Armut und dem Schweigen der Erwachsenen in die „mondes imaginaires, utopies merveilleuses“ der Lektüre, wobei er „frénésies de lecture“ entwickelt, um in einem „monde parfait“ zu versinken. In Avant la chute verliert die Kindheit ihre „cadre rassurant“ (beruhigenden Rahmen), als Norma und Sonia aus ihrem „étroit lopin de terre“ (schmalen Stück Land) in die brutale Welt hinausgestoßen werden. Der Erzähler in Biographie d’un inconnu begreift die Jugendfiguren Paul und Laura als Träger der „jeunesse du monde“, die in ihrer Unschuld und ihrem Verbotensein eine magische Anziehungskraft entwickeln. Die Rückbesinnung auf diese „parcelles de miracle arrachées à l’existence“ bietet den Protagonisten einen Halt gegenüber der „inanité“ und dem „écroulement“ der Gegenwart.

Dem Ideal der Unschuld steht die Prägung durch Angst und Gewalt gegenüber. In L’Origine de la violence gesteht der Erzähler, dass Angst und Gewalt ihn seit jeher verfolgen, wobei er von „cauchemardesques“ Nächten und „mâchoires de loups“ spricht. Diese „immense violence“ ist ihm als „héritage“ überliefert, die in den „silences“ seines Vaters verborgen lag. Das Kind wird früh mit der Notwendigkeit des Kampfes oder der Unterwerfung konfrontiert: Der kleine Mark Ruffle in La Fortune de Sila etabliert seine Brutalität und „affirmation de soi“ bereits in der Grundschule. In Avant la chute beobachtet Senator Urribal Kinder, die um Almosen kämpfen und in Gullys verschwinden, wodurch sie zu „créatures souterraines“ (unterirdische Kreaturen) werden. Der Roman Comment vivre en héros? konstruiert das gesamte Erwachsenenleben Tristans um eine „faute originelle“ in der Adoleszenz, die Feigheit, die er nicht begangen hätte, wenn er nicht durch seinen Vater mit dem „sceau impitoyable de l’héroïsme“ versehen worden wäre, dem „gnadenlosen Siegel des Heldentums“.

Angesichts des Zusammenbruchs der zivilisatorischen Ordnung dient die Kindheit als moralischer Referenzpunkt und die Kinder als einzige legitime Sorge des Erwachsenen. In De l’autre côté de la vie werden die Kinder als der Grund definiert, warum der Erzähler die Stirn bieten muss. Die „amour de ma petite fille“ ist der einzige Ankerpunkt, die Inkohärenz des Realen zu ordnen 34. Die Erzählerfigur muss ihre eigene Schwäche überwinden, um ihren Kindern – die „encore plus faibles que moi“ – den „drapeau de l’amour et de l’enfance“ zu bieten. Gleichzeitig aber wird die Kindheit selbst durch die erlebte Not korrumpiert: Die Kinder des Krieges sind „choses atrophiées“ und „enfants cassés“, die Gefahr laufen, selbst zu „Henkern, die noch gefühlloser sind als ihre Eltern“ 35 zu werden. Das Paradoxon liegt darin, dass die „incroyable vitalité de l’enfance“ sich zwar gegen die Zerstörung wehrt, aber die „cruauté“ – das „mal sans retour“ – in ihren Seelen wächst.

Humbert nutzt die Kindheit auch, um literarische und mythologische Muster zu entfalten, die seine Metafiktion stützen. Naadir in Avant la chute identifiziert sich mit den „chevaliers“ der Artus-Romane, wodurch seine Realität mit dem Wunsch nach Apokalypse und Reinigung verschmilzt. Tristan Rivière (Comment vivre en héros ?) lebt unter dem Einfluss des Tristan-und-Isolde-Mythos, der sein Schicksal festlegt, und interpretiert sein Leben als „éternel retour de Nietzsche“, das sich um zentrale Entscheidungen der Jugend dreht. In Biographie d’un inconnu verkörpert Paul Dantès eine „vie manquée“, ein Fantom seiner selbst, dessen „mémoire plus incarnée“ als die anderer Menschen ist, weil er seine Lebensmomente auf Band festhält. Diese literarische Spiegelung (z. B. Pauls Ähnlichkeit mit Meursault aus L’Étranger oder mit Bardamu aus Voyage au bout de la nuit) dient dazu, die Kindheit als eine universelle, vorbestimmte Erzählung zu verhandeln. Selbst in den unscheinbarsten Details der Jugend wird die literarische Bedeutung gesucht, wie die traumatische Erfahrung von Mobbing in Éden Utopie als „noyau intime de mon enfance“ und als Ursprung für das „Trio aus Henker, Opfer und Zeuge“ 36 beschrieben wird.

Der politische Entwurf: zwischen Bürgerkrieg und Utopie

Die politisch-gesellschaftliche Szenerie des Romans ist in ihrer Unbestimmtheit präziser als jede konkrete Anspielung. Die „Commune“ und das „Royaume“ sind Archetypen zweier Extreme: anarchische Revolte und oligarchischer Rückzug. Dazwischen versinkt der Rest der Gesellschaft im Chaos. Humbert entwirft damit keine Parteidystopie, sondern eine Allegorie des Auseinanderfallens Europas. Der Erzähler spricht von einem Land, das „amer“ geworden ist, das „den Geist der Ernsthaftigkeit“ 37 an die Stelle der Leichtigkeit gesetzt hat – eine Diagnose der kulturellen Verbitterung.

Die „République du Jura“ steht diesem Zustand als negative Utopie gegenüber: ein möglicher Ort der Reinheit, der jedoch nie erreicht wird. Ihre bloße Erwähnung reicht aus, um die Bewegung des Romans zu strukturieren: Sie ist der Fluchtpunkt einer Ethik ohne Hoffnung. Das Ziel existiert nur als Glaube – „Croire, c’est bien la seule chose qu’il nous reste.“ Humbert transformiert die politische Topographie in eine spirituelle: Das Jenseits des Lebens ist zugleich das Jenseits der Politik.

Im Unterschied zu klassischen Dystopien ist Humberts Zukunft ohne Ideologie. Es gibt kein totalitäres System, sondern die Abwesenheit jedes Systems. Die Zivilisation zerfällt nicht durch Überwachung, sondern durch Desinteresse. Die Katastrophe ist das Ergebnis der „innocuité“ – der harmlosen Passivität. Damit formuliert Humbert eine Umkehrung des Orwell’schen Paradigmas: Nicht Macht, sondern Gleichgültigkeit zerstört die Welt.

Die Erzählung des Untergangs folgt einer theologischen Logik: Schuld – Sühne – Gnade. Doch Gnade bleibt unerreichbar. Der Erzähler erkennt die Wahrheit zu spät, und die Kinder, die ihm folgen, werden unweigerlich die Gewalt reproduzieren. In diesem Sinne ist der Roman eine anti-Résurrection: Das Jenseits des Lebens ist nicht Erlösung, sondern dauerhafte Zwischenexistenz, eine Welt nach der Moral.

Selbstzitate als Prüfung des eigenen Werks

Fabrice Humberts Roman De l’autre côté de la vie (2025) fungiert nicht nur als eine dystopische Vision des gesellschaftlichen Zusammenbruchs, sondern auch als metakritischer Kommentar auf sein eigenes Werk. Durch sorgfältig platzierte intertextuelle Selbstzitate bindet Humbert diesen Roman explizit an die philosophischen und narrativen Linien seiner früheren Veröffentlichungen an. Die wiederkehrenden Motive – der Fall der Zivilisation, die Allgegenwart von Gewalt und die Auflösung der Realität – sind nicht bloße Wiederholungen, sondern kulminierende Konsequenzen der in Werken wie Biographie d’un inconnu (2008), L’origine de la violence (2009), Avant la chute (2012) und Le monde n’existe pas (2020) entwickelten Thesen. Der Erzähler in De l’autre côté de la vie ist ein Überlebender, der seine neue, post-zivilisatorische Existenz durch die Linse der gescheiterten Narrativa seiner Vergangenheit und der früheren literarischen Figuren betrachtet. Diese Rückverweise sind nicht nur thematische Echos, sondern wörtliche oder fast wörtliche Übernahmen, die als metaintertextuelle Selbstkommentare wirken.

Der Ausdruck „inoffensif“ (ungefährlich, harmlos) erscheint bereits in Le monde n’existe pas als Beschreibung des modernen Bürgers: „Nous sommes devenus inoffensifs, et c’est notre honte.“ In De l’autre côté de la vie bildet derselbe Begriff den Auftaktsatz: „Autrefois, nous étions tous inoffensifs.“ Humbert wiederholt das Wort, um ihm eine apokalyptische Resonanz zu geben. Was früher eine moralische Diagnose war, wird jetzt zur Urszene des Untergangs. So entsteht eine semantische Selbstverdichtung, die sein gesamtes Werk umkreist: Das 21. Jahrhundert als Zeitalter der Harmlosigkeit, in dem gerade die Inaktivität zum Verbrechen wird.

Das zentrale strukturelle Element, das De l’autre côté de la vie mit Humberts frühem Werk verbindet, ist das Motiv des „Falls“ und des „Kippens“. Während diese Begriffe in den früheren Romanen oft metaphorisch oder als drohende Gefahr beschrieben wurden, sind sie hier zur faktischen Grundlage der erzählten Gegenwart geworden. In Biographie d’un inconnu dient der „Fall“ dazu, die persönliche Krise des Ghostwriters Thomas d’Entragues zu beschreiben: „Ein fortwährender Einsturz, der nicht ohne Beziehung zu meinem eigenen Sturz war. Als hätte sich an jenem Tag der Schutzverschluss des Lebens gelöst. Und so fiel ich, fiel ich …“ 38.

Thomas’ Existenz war ein „langsames Erstarren“, ein „eisiger Einsturz“. Im Kontrast dazu entfaltet Avant la chute den „Fall“ als umfassende, soziopolitische Katastrophe – ein „gewaltiges Fresko einer Welt, die zerfällt“, in der Gesellschaften „zusammenbrachen“ und die Gewalt dem „urzeitlichen Gesetz des Stärkeren“ gehorchte. De l’autre côté de la vie greift diese Begriffe auf und vereint sie: Der Erzähler reflektiert, wie die Gesellschaft ihr „Gleichgewicht“ verlor, bevor das „Kippen“ eintrat. Die in De l’autre côté de la vie beschriebene Katastrophe ist die Erfüllung der Prophezeiung aus Avant la chute. Indem der Erzähler seine eigene Erfahrung als Teil eines kollektiven „Wir“ beschreibt – „Wir haben das Gleichgewicht verloren, wir sind gefallen, und es ist dieser Fall, den ich erzählen will“ 39 – verschmilzt Humbert die individuelle Existenzangst (Biographie d’un inconnu) mit der globalen Tragödie (Avant la chute). Der „Fall“ in De l’autre côté de la vie impliziert außerdem eine tiefere moralische Schuld: „Wenn wir den Fall erlitten haben, so ist das zum großen Teil unsere eigene Schuld, weil wir verantwortlich waren, alle verantwortlich, in unterschiedlichem Maße“ 40. Dies ist eine deutliche Steigerung der fatalistischen Sichtweise des Senators Urribal aus Avant la chute, der erkannte, dass der Niedergang unaufhaltsam sei und aus der „Tragödie der Menschen“ entspringe.

In Le monde n’existe pas lautet ein Satz: „Die Worte erschaffen, was sie zerstören“ 41. Er fällt im Kontext der Medienkritik, als der Erzähler erkennt, dass journalistische Sprache nicht Wirklichkeit abbildet, sondern sie zugleich hervorbringt und vernichtet. In De l’autre côté de la vie erscheint fast dieselbe Formulierung: „Die Worte, die wir verwendet haben, haben den Hass erschaffen und sind dann in ihm ertrunken“ 42 – und später wörtlich: „Die Worte erschaffen, was sie zerstören, das weiß ich nun“ 43. Der Satz ist hier kein medientheoretischer Befund mehr, sondern eine moralische Einsicht: Sprache wird zur Vorstufe der Gewalt. Humbert verschiebt damit seine frühere Skepsis gegenüber der medialen Repräsentation in ein existenzielles Register – das Wort tötet. Das Selbstzitat verwandelt eine epistemologische Feststellung (über Sprache und Realität) in eine ethische Anklage (über Sprache und Schuld). So kommentiert Humbert seine eigene Schreibpraxis: Auch Literatur erzeugt Wirklichkeit – und trägt Verantwortung.

In L’Origine de la violence findet sich die Formulierung: „Unter der Gewalt wird der Mensch zur Sache“ 44 – eine Paraphrase von Simone Weils berühmtem Satz: „Die Gewalt … macht aus jedem, der ihr unterworfen ist, ein Ding“ 45. In De l’autre côté de la vie taucht sie erneut auf, leicht variiert: „Unter der Angst wird der Mensch zur Sache, er verliert sein Gesicht“ 46. Humbert ersetzt hier das Wort force durch peur – die Gewalt der Macht wird zur Gewalt der Angst. Diese Selbstreferenz markiert die Fortführung seiner zentralen Anthropologie: Das Menschliche ist kein ontologischer, sondern ein moralischer Zustand. In der neuen Variante wird deutlich, dass der Zwang zur Entmenschlichung heute weniger von äußeren Mächten als von innerer Erschöpfung ausgeht.

In Le monde n’existe pas heißt es über den Journalisten-Helden: „Man glaubt, Zuschauer zu sein, und ist doch Akteur, ohne es zu wissen“ 47. In De l’autre côté de la vie lautet die Entsprechung: „Wir glaubten, den Krieg kommen zu sehen, doch wir waren bereits Teil von ihm“ 48. Das Zitat wiederholt die frühere Diagnose, dass Distanz eine Illusion ist – im Zeitalter der Medien wie im Bürgerkrieg. Humbert spiegelt die passive Komplizenschaft des Publikums an der Katastrophe. Seine Hauptfigur, der Anwalt, ist eine säkulare Variante des Journalisten: ein Mann des Diskurses, der die Welt rechtfertigt, bis sie zusammenbricht.

Dieser Satz steht fast identisch in beiden Romanen: „Ich wollte verstehen, woher das Böse kam“ 49 – in L’Origine de la violence – und in De l’autre côté de la vie: „Auch ich wollte verstehen, woher das Böse kam, aber das Böse, das war ich“ 50. Humbert wiederholt hier die Frage seines Debütromans, bricht sie aber selbstironisch. Wo der Lehrer in L’Origine de la violence noch suchend und forschend fragt, erkennt der Flüchtende in De l’autre côté de la vie, dass die Antwort im Subjekt selbst liegt. Das Selbstzitat ist eine Selbstkorrektur: Der Autor kehrt zu seiner eigenen moralischen Frage zurück, um sie endgültig zu verinnerlichen.

In einer Reflexion über die Passivität sagt der Erzähler von De l’autre côté de la vie: „Wir wussten nicht, wie man als Held lebt. Wir haben die Ruhe vorgezogen“ 51. Dies ist ein direkter Verweis auf Humberts gleichnamigen Roman Comment vivre en héros ? (2018). Das Zitat fungiert als ironischer Kommentar auf die frühere Suche nach Alltagsheldentum. Der Anwalt ist der Gegenbeweis zu jener Idee. Der Satz entlarvt Humberts früheren moralischen Idealismus als gescheitert: Im Ausnahmezustand zeigt sich, dass der „Held“ eine Fiktion war.

Zwar nicht wörtlich, aber motivisch greift Humbert auch auf seinen Roman La Fortune de Sila zurück, der die moralische Gewalt des Geldes beschreibt. In De l’autre côté de la vie wird Guillaume Labarre, der Schlossherr, als Erbe dieser Thematik angelegt: „Das Geld war nicht verschwunden, es hatte sich nur hinter Mauern geflüchtet“ 52. Diese Variation paraphrasiert den Satz aus La Fortune de Sila: „Geld stirbt nie, es verändert nur sein Gesicht“ 53. Die Selbstreferenz weitet die ökonomische auf eine anthropologische Dimension aus: Das Kapital überlebt die Katastrophe – als Form der Amoralität. Damit schreibt Humbert seine eigene Sozialkritik in die Dystopie fort.

Das Motiv des témoignage aus Le monde n’existe pas – „Ich schreibe, damit die Welt existiert“ 54 – kehrt in De l’autre côté de la vie zurück: „Ich schreibe, damit etwas bleibt, selbst wenn die Welt nicht mehr existiert“ 55. Humbert verwandelt das Schreiben aus einem Akt der Welterzeugung in einen Akt der Trauer. Der Schriftsteller – und der Erzähler als sein Doppel – erkennt seine Mitschuld an der Zerstörung der Wahrheit. Das Selbstzitat wird so zu einem metapoetischen Schuldbekenntnis.

Diese Selbstzitate und Rückverweise bilden in De l’autre côté de la vie ein komplexes metaintertextuelles Geflecht mit drei zentralen Funktionen: als Autobiographie des Denkens, als moralische Selbstprüfung und als ästhetische Selbstreflexion: Humbert liest und korrigiert sein vorangegangenes Werk. Jeder Satz scheint eine nachträgliche Antwort auf eine frühere Frage zu sein. Der Autor zeigt sich als Mitschuldiger. Seine früheren Bücher werden in den neuen Kontext eingebettet wie Beweisstücke eines langen Irrtums. Indem er sich selbst zitiert, stellt Humbert die Frage, ob Literatur überhaupt noch moralische Erkenntnis erzeugen kann – oder ob sie, wie seine Figuren, nur das reproduziert, was sie zu kritisieren vorgibt. Die Selbstzitate in De l’autre côté de la vie sind keine Selbstverherrlichung, eher eine Form der Selbstanklage. Humbert spiegelt sein eigenes Œuvre als moralisches Archiv und zieht daraus die Konsequenz: Die Sprache, die einst aufklären wollte, hat sich in ein System der Komplizenschaft verwandelt. Indem er seine früheren Sätze wiederholt, verwandelt er sie in ihr Gegenteil – sie bezeugen nicht mehr Erkenntnis, sondern Schuld. So wird der Roman zur selbstkritischen Instanz eines Autors, der sein eigenes Schreiben in das moralische Drama seiner Figuren einbezieht.

Jenseits des Absurden: Humbert und Camus

Camus’ Philosophie des Absurden – der Konflikt zwischen Sinnsuche und Weltstummheit – hallt in Humberts Text deutlich nach. Auch der Anwalt erkennt die Sinnlosigkeit seines Handelns, ohne daraus Zynismus zu ziehen. Wie Rieux oder Meursault begreift er, dass die Ethik nicht im Erfolg liegt, sondern im Akt des Widerstands: sprechen, lieben, erzählen, selbst im Scheitern. Inhaltlich und stilistisch knüpft De l’autre côté de la vie in mehreren prägnanten Punkten an Albert Camus an – nicht in Form direkter Nachahmung, sondern als Weiterführung einer moralisch-existentialistischen Schreibweise unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Wie in La Peste konstruiert Humbert eine Extremsituation – den Bürgerkrieg statt der Seuche –, um das Verhalten des Menschen angesichts des moralischen Zusammenbruchs zu prüfen. Die Pest in Oran und der Bürgerkrieg in Paris sind Gleichnisse für den moralischen Zusammenbruch der Zivilisation. Beide Autoren interessieren sich weniger für die äußere Katastrophe als für die innere Bewegung: Camus’ Doktor Rieux kämpft mit der Sinnlosigkeit der Pest wie Humberts namenloser Anwalt mit der Entgrenzung der Gewalt. Humbert übernimmt Camus’ Grundkonstellation – den Erzähler als Zeugen des Untergangs – und übersetzt sie in eine dystopische Gegenwart, in der die moralische Sprache selbst infiziert ist. In beiden Fällen wird die Geschichte zum Labor der Verantwortung: die Frage, ob und wie man Mensch bleiben kann, wenn die Welt ihre Ordnung verliert. Auch Humberts Satz „Nous étions inoffensifs et nous aurions dû le rester pour demeurer des hommes“ spiegelt Camus’ axiomatische Idee, dass das Menschliche in der Weigerung zur Gewalt besteht. Der Satz klingt wie eine Umkehrung von Camus’ nüchterner Chronik: „Die merkwürdigen Ereignisse, die Gegenstand dieser Chronik sind, ereigneten sich 194… in Oran.“ 56 Wo Camus objektiv berichtet, spricht Humbert in subjektiver Buße. Der neutrale Ton des Historikers wird zur Beichte eines Schuldigen, der das Menschliche sucht inmitten der moralischen Trümmer.

Inhaltlich verbindet beide Romane die Erfahrung der kollektiven Seuche – bei Camus biologisch, bei Humbert ideologisch. Der Erzähler von De l’autre côté de la vie erkennt: „Wir waren gefangen in Hass und Gewalt … Worte … ihr Gift breitete sich langsam in uns aus.“ 57 Damit übernimmt Humbert Camus’ Chiffre der Pest – die Infektion des Leibes als Symbol der geistigen Verderbnis – und verlagert sie in den Diskurs: nicht mehr Bakterien, sondern Worte zerstören die Menschen. Camus’ Arzt Rieux diagnostiziert eine Krankheit des Körpers, Humberts Anwalt eine Krankheit des Bewusstseins. Beiden gemeinsam ist, dass das Übel unsichtbar beginnt und nur in der moralischen Haltung der Einzelnen gebannt werden kann.

Im Weltbild teilen Camus und Humbert eine existentielle Grundstimmung, doch Humbert radikalisiert sie. Camus’ Universum ist absurd, aber noch durchdrungen von Solidarität: „Es gibt nur einen Weg, die Pest zu bekämpfen, und das ist Ehrlichkeit.“ 58 Humbert schreibt im Bewusstsein, dass selbst diese Ehrlichkeit korrumpiert ist: „Worte, die von ihren Verunreinigungen, ihren Giftstoffen befreit wurden.“ 59 Das Reinigungsmotiv verrät, dass die Sprache – und damit das moralische Denken – selbst verseucht ist. Wo Camus die Ethik aus der Tat gewinnt, sucht Humbert die Ethik in der Reinigung des Sprechens. Seine Dystopie ist das Nachbeben des existentialistischen Weltbildes: Die Abwesenheit Gottes bleibt, doch auch das Vertrauen in den Menschen ist verloren.

Moralisch verschiebt sich damit der Akzent vom Widerstand zum Schuldbewusstsein. In La Peste heißt es: „Was man inmitten von Katastrophen lernt, ist, dass es bei den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ 60 Humbert, der in einer posthumanen Welt schreibt, widerspricht: „Wir waren ungefährlich und hätten es auch bleiben sollen, um Menschen zu bleiben.“ 61 Das „inoffensif“ ersetzt das „admirable“ – Menschlichkeit ist nicht mehr Tatkraft, sondern das Nicht-Verletzen, die passive Güte der Schwachen. Humbert lässt den Menschen nicht mehr kämpfen, sondern bekennen: Er wird schuldig, indem er überlebt.

Bei Camus gibt es nichts, was einer „République du Jura“ im Sinne Humberts entspricht. Gerade das Fehlen eines solchen utopischen Fluchtortes ist zentral für La Peste und für Camus’ ganzes Denken. In La Peste bleibt die Stadt Oran hermetisch abgeschottet, eine Welt ohne Außen. Als der Arzt Rieux am Ende erkennt: „Der Pestbazillus stirbt nicht und verschwindet auch nicht“ 62, ist das die Negation jeder Illusion eines rettenden Raums. Der Mensch steht bei Camus nicht vor der Wahl zwischen Hölle und Paradies, sondern vor der Pflicht, im Absurden auszuharren und dennoch zu handeln. Es gibt kein „Jura“ – keinen Ort jenseits der Seuche, keine arkadische Gegenwelt, kein Exil, das die moralische Last abnimmt.

Humbert greift diesen Gedanken umkehrend auf. Seine „République du Jura“ ist eine trügerische Hoffnung – eine säkulare Parodie auf das Paradies, das Camus stets verweigert. Der Erzähler flieht dorthin, wohl wissend, dass sie „sans doute illusoire“ ist. Damit markiert Humbert das, was Camus ausgeschlossen hatte: den utopischen Impuls, der im 20. Jahrhundert diskreditiert ist, aber im Menschen fortlebt. Bei Camus gibt es keine Flucht, nur Solidarität im Inneren der Katastrophe – die „peste“ ist der Zustand des Daseins, gegen den man nicht entkommen, sondern nur ankämpfen kann. Bei Humbert steht die scheinbare Flucht ins Jura als Symbol für den letzten Rest von Illusion, der dem modernen Menschen bleibt – das „andere Leben“, das nie existieren wird. So ist Camus’ Welt topologisch geschlossen und moralisch tragisch, Humberts Welt offen, aber verzweifelt entleert. Die „Utopie Jura“ ist gewissermaßen die Negativfolie dessen, was Camus nie zugelassen hätte: die Verheißung eines „au-delà“, jenseits des Absurden.

Die wörtlichen Bezüge zu Camus dienen Humbert zur Umkehrung des Camus’schen Ethos. Der Satz „Ich sage nicht, dass ich Recht habe, ich sage nur, was ich erlebt habe“ 63 paraphrasiert Camus’ Chronistenregel: „Seine Aufgabe besteht lediglich darin, zu sagen: ‚Das ist passiert.‘“ 64 Doch während Camus’ Erzähler durch das sachliche Sagen Objektivität gewinnt, offenbart Humberts Erzähler im Akt des Sprechens seine Zerrissenheit. Er kann nicht mehr feststellen, nur bekennen. Camus’ „témoignage“ wird zur „confession“. So spiegelt Humbert den existentialistischen Diskurs nicht, er lässt ihn implodieren.

Poetologisch steht De l’autre côté de la vie als dunkle Spiegelung der klaren Prosa von La Peste. Camus’ Stil idealisiert die Transparenz, eine Sprache des Maßes, der Kontrolle. Humbert dagegen schreibt in einer Poetik der Verunreinigung, die gerade in der Reinigung ihr Paradox findet. Die Wiederholung der Formeln „autrefois“, „nous étions“ und „nous avons basculé“ erzeugt eine rituelle, liturgische Struktur. Seine Syntax, oft anaphorisch und taumelnd, spiegelt den moralischen Absturz: die Ansteckung der Rede durch das Chaos. Camus’ Stil verbindet Pathos und Nüchternheit: das rhythmische Parlando, die Wiederholung als moralischer Puls, die biblische Syntax ohne Gottesbezug. Humbert greift genau diesen Ton wieder auf. Seine Perioden sind getragen, feierlich, von einer klaren musikalischen Architektur; zugleich brechen Ellipsen und Selbstkorrekturen den moralischen Gleichklang. Wie Camus schreibt er in einer Sprache der „tragischen Nüchternheit“ („sobriété tragique“) – einfach, aber geladen, zwischen Bericht und Gebet. Der Erzähler spricht in der zweiten Person Plural („Écoutez-moi, je vous en prie“) wie Camus’ Erzähler im pluralisierenden „nous“ von La Peste: beides sind Gesten einer säkularen Predigt, eines Zeugnisses ohne Transzendenz.

Schließlich verbindet beide eine skeptische, aber unbeirrbare Vorstellung von politischem Humanismus. Camus’ „mesure“ – die Maßhaltung zwischen Nihilismus und Fanatismus – findet ihr Echo in Humberts Warnung vor den „certitudes de la haine“. Doch während Camus im Maß noch eine Möglichkeit sieht, erkennt Humbert dessen Scheitern: sein Erzähler gehört zu jenen „inoffensifs“, deren Mäßigung zur Katastrophe beiträgt. Humbert schreibt also Camus’ Ethik in negativer Dialektik fort – der Humanismus ist nicht mehr Lösung, sondern Frage. So steht De l’autre côté de la vie im geistigen Erbe von La Peste und L’Homme révolté: ein Buch über Verantwortung im Zeitalter der Sprachvergiftung, geschrieben in einem Stil, der Camus’ klare, rhythmische Prosa in die Dissonanz der Gegenwart überführt – die Predigt des Maßes, gesprochen aus den Ruinen des Maßlosen.

Insgesamt lässt sich Humberts Roman als post-existentialistische Variation der Peste lesen – als Reflexion darüber, was von Camus’ Moral übrigbleibt, wenn der Glaube an Sprache, Vernunft und Gemeinschaft zerfallen ist. Camus’ Welt fordert den Mut zum Handeln in der Sinnlosigkeit; Humberts Welt verlangt das Schweigen inmitten der Schuld. Wo Camus noch an die Wiederkehr des Lichts glaubt – Die Sonne setzt die zu trockenen Häuser in Brand. 65 –, sieht Humbert nur noch die Asche der verbrannten Städte. Beide Romane aber bleiben durchdrungen von derselben Notwendigkeit: das Menschliche zu retten, wenn es schon verloren ist.

Kreis und Erlösung: Jenseits der Hoffnung

Die ersten Seiten des Romans stellen den Leser unmittelbar in den Bann eines paradoxen Bekenntnisses: Der Erzähler bittet um Gehör, nicht um Zustimmung. „Hören Sie mir zu … auch wenn Ihnen nicht gefällt, was ich sage.“ 66 Diese Bitte enthält bereits die Tragödie: Kommunikation ist nur noch Bitte, kein Austausch. Der Einstieg in die brennende Stadt, der Blick der Kinder auf die Flammen, markiert den symbolischen Tod der Zivilisation. Das Auto für den Fluchtversuch wird zum mobilen Sarkophag einer sterbenden Kultur. Am Ende – in den letzten Kapiteln, nach der Episode im Schloss und dem allmählichen Auseinanderbrechen der kleinen Familie – wiederholt sich die Anfangsgeste als Echo. Der Erzähler erkennt, dass seine Flucht nur ein Kreis war, dass „l’autre côté de la vie“ nicht Ort, sondern Zustand ist. Humbert schließt damit formal und thematisch den Bogen: Der Versuch, aus der Gewalt zu entkommen, führt zur Erkenntnis, dass sie in uns selbst wohnt.

Der Beginn steht unter dem Zeichen des Wortes – „les mots qui préparaient le terrain“; das Ende unter dem Schweigen. Wenn der Erzähler schließlich verstummt, bleibt der Leser allein mit der Frage, ob Erzählen überhaupt noch Sinn stiftet. Die Enden von Humberts Romanen waren stets negativ offen; hier erreicht diese Offenheit die Qualität einer moralischen Leere, die nur durch das Bewusstsein ihrer selbst erträglich wird.

De l’autre côté de la vie ist weniger eine Dystopie als ein Gerichtsprozess über das 21. Jahrhundert. Der Roman spricht aus einer europäischen Müdigkeit, die Humbert mit unerbittlicher Klarheit seziert: Die Demokratie zerfällt nicht im Krieg, sondern im Gerede. Die gefährlichste Form der Gewalt ist das Wort, das seinen Sinn verloren hat. Humbert überführt das Genre der Katastrophenprosa in eine moralische Meditation. Sein Erzähler, ein Mann ohne Heldenmut, verkörpert die Erbsünde der Liberalität: den Glauben, man könne sich heraushalten. In dieser Passivität liegt die Wurzel der Barbarei. Dass Humbert diese Erkenntnis in eine ergreifende, fast musikalische Sprache fasst, bewahrt sein Werk vor der bloßen Anklage. „Die Worte des Hasses gegen die Worte der Liebe eintauschen“ 67 – dieser Satz aus dem Prolog klingt wie eine naive Hoffnung, aber er bleibt der einzige moralische Imperativ, der dem Text bleibt.

Anmerkungen
  1. „Autrefois, nous étions tous inoffensifs.“>>>
  2. „La force, c’est ce qui fait de quiconque lui est soumis une chose“>>>
  3. „fluidité des rapports sociaux“>>>
  4. „totalement seuls dans le monde“>>>
  5. „Nous avons perdu l’équilibre, nous sommes tombés“>>>
  6. „mots, lavés de leurs impuretés, de leurs toxines“>>>
  7. „nuées mensongères“>>>
  8. „un lieu d’abri et de liberté“>>>
  9. „Ne croire à rien, ne rien espérer, ne rien attendre, juste vivre. Cela devait suffire.“>>>
  10. „de la douleur, de compassion et d’espoir“>>>
  11. „certitudes de la haine“>>>
  12. „Nous avons été pris au piège de la haine… nous nous sommes enfoncés dans le piège jusqu’à la gorge“>>>
  13. „mensonge des buts“>>>
  14. „pays de cocagne“>>>
  15. „enfer des pauvres“>>>
  16. „guerre civile larvée“>>>
  17. „sombre, petit et dérisoire“>>>
  18. „délivrée des maux contemporains“>>>
  19. „choisi la pureté“>>>
  20. „les puretés affichées sentent toujours la pourriture“>>>
  21. „l’homme en l’homme“>>>
  22. „se choisir un chef, c’est s’interdire les décisions et la responsabilité“>>>
  23. „s’est enferrée dans la volonté de libérer“>>>
  24. „Les gens ont commencé à crier… Ils gueulaient comme s’ils étaient entourés d’ennemis. En fait, ils préparaient la guerre.“>>>
  25. „Les mots… s’étaient répandus lentement en nous, goutte à goutte et mot à mot, la nappe toxique rongeant nos consciences.“>>>
  26. „abolissant toute morale“>>>
  27. „Nous étions inoffensifs et nous aurions dû le rester pour demeurer des hommes“>>>
  28. „respectueux de la loi, de la jurisprudence et des procédures“>>>
  29. „abolissant toute morale“>>>
  30. „obstacle à écarter, comme une poubelle“>>>
  31. „entonner la chanson“>>>
  32. „tyrannie de l’Histoire“>>>
  33. „boussole morale“>>>
  34. „ordonnent l’incohérence du réel“>>>
  35. „bourreaux plus insensibles que leurs parents“>>>
  36. „trio du bourreau, de la victime et du témoin“>>>
  37. „l’esprit de sérieux“>>>
  38. „Un écroulement permanent qui n’était pas sans souligner ma propre chute. Comme si ce jour-là, la bonde de la vie avait lâché. Et voilà que je tombais, tombais…“>>>
  39. „Nous avons perdu l’équilibre, nous sommes tombés et c’est cette chute que je veux raconter“>>>
  40. „si nous l’avons endurée, c’est en grande partie notre faute parce que nous étions responsables, tous responsables, à des degrés différents“>>>
  41. „Les mots créent ce qu’ils détruisent.“>>>
  42. „Les mots que nous avons employés ont fabriqué la haine, puis s’y sont noyés“>>>
  43. „Les mots créent ce qu’ils détruisent, je le sais désormais.“>>>
  44. „Sous la force, l’homme devient une chose.“>>>
  45. „La force… fait de quiconque lui est soumis une chose.“>>>
  46. „Sous la peur, l’homme devient chose, il perd sa figure.“>>>
  47. „On croit être spectateur, on est acteur sans le savoir.“>>>
  48. „Nous avons cru regarder la guerre venir, mais nous en faisions déjà partie.“>>>
  49. „Je voulais comprendre d’où venait le mal.“>>>
  50. „J’ai voulu, moi aussi, comprendre d’où venait le mal, mais le mal c’était moi.“>>>
  51. „Nous n’avons pas su vivre en héros. Nous avons préféré la tranquillité.“>>>
  52. „L’argent n’avait pas disparu, il s’était simplement réfugié derrière les murs.“>>>
  53. „L’argent ne meurt jamais, il change de visage.“>>>
  54. „J’écris pour que le monde existe.“>>>
  55. „J’écris pour qu’il reste quelque chose, même si le monde n’existe plus.“>>>
  56. „Les curieux événements qui font le sujet de cette chronique se sont produits en 194… à Oran.“>>>
  57. „Nous avons été pris au piège de la haine et de la violence… les mots… leur poison s’est répandu lentement en nous.“>>>
  58. „Il n’y a qu’un moyen de lutter contre la peste, c’est l’honnêteté.“>>>
  59. „Des mots lavés de leurs impuretés, de leurs toxines.“>>>
  60. „Ce qu’on apprend au milieu des fléaux, c’est qu’il y a plus de choses à admirer qu’à mépriser chez les hommes.“>>>
  61. „Nous étions inoffensifs et nous aurions dû le rester pour demeurer des hommes.“>>>
  62. „Le bacille de la peste ne meurt ni ne disparaît jamais“>>>
  63. „Je ne dis pas que j’ai raison, je dis ce que j’ai vécu.“>>>
  64. „Sa tâche est seulement de dire : ‚Ceci est arrivé.’“>>>
  65. „Le soleil incendie les maisons trop sèches.“>>>
  66. „Écoutez-moi… même si vous n’aimez pas ce que je raconte.“>>>
  67. „Troquer les mots de la haine contre ceux de l’amour“>>>

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