Inhalt
De sorte que chaque mot tracé ici sur la page serait comme une de ces brindilles dont Char lui-même avait rêvé de se bâtir un rempart.
Tracer encore des lignes comme on jetterait des filins à la surface d’une étendue d’eau, mare infime ou mer à perte de vue,
afin qu’ils supportent une espèce de filet qui nous éviterait la noyade.
“Poèmes de sauvetage”… Paroles, n’importe lesquelles même peut-être, pour différer l’effondrement.
(La Clarté Notre-Dame, II)So wäre also jedes hier auf die Seite gesetzte Wort wie eines jener Reiser, aus denen Char einst träumte, sich ein Schutzwehr zu errichten.
Noch einmal Linien ziehen, wie man Taue über spiegelndes Wasser spannt, ob kleiner Weiher oder grenzenloses Meer,
damit sie eine Art Netz tragen, das uns bewahren könnte vor dem Ertrinken.
„Rettungsgedichte“ … Worte, irgendwelche vielleicht, um noch Verfallen zu verzögern
Der Nachklang des Gesangs
Liest man Philippe Jaccottets Le dernier livre de Madrigaux und La Clarté Notre-Dame gemeinsam, betritt man die äußerste Schwelle eines dichterischen Lebens, das stets auf der Suche nach der „clarté“ war, nach jenem Durchscheinen des Weltlichen, das der Schweizer Dichter als den einzigen legitimen Ort einer Transzendenz ohne Dogma verstand. Beide Sammlungen, obwohl durch Jahrzehnte getrennt in ihrer Entstehung, bilden in der Edition (mit Anmerkungen des Dichters von 2020) von 2021 (dem Todesjahr des vor hundert Jahren geborenen Künstlers) eine kompositorische Einheit: Das lyrische Nachleuchten des einen Buchs öffnet sich in die meditative Prosa des anderen, und beide zusammen bilden eine letzte Variation des großen Themas Jaccottets – der unsicheren Helligkeit, die Sprache nur suchend, fast widerwillig, zu bezeugen vermag.
Le dernier livre de Madrigaux setzt mit einem Rückgriff ein: Die Gedichte sind 1984 entstanden, überarbeitet bis 1990, und nehmen bewusst den Ton der frühesten europäischen Lyrikformen wieder auf. Das „Madrigal“ – seit den Anfängen im Trecento ein leichtes, polyphones Lied – wird hier zur elegischen Form der Erinnerung. Schon das erste Gedicht, „En écoutant Claudio Monteverdi“, weist den Weg: Das Hören eines alten Gesangs wird zur Metapher für die poetische Existenz. Monteverdis Stimme ruft eine „ombre tendre“ auf, eine zarte Erscheinung aus der Vergangenheit, die der Sänger „au prix de son âme“ festhalten möchte. In dieser dramatischen Spannung – zwischen dem Wunsch, zu bewahren, und der Einsicht in die Unhaltbarkeit des Erblickten – entfaltet sich Jaccottets ganze Poetik: die Bewegung des Sehens, das sofort in Verlust umschlägt, und die Sprache, die nur das Nachleuchten, nie den Ursprung selbst fassen kann. Jaccottet erklärt, dass er im Frühjahr 1984, inspiriert durch italienische Musik und Bilder, und nachdem er drei Damen in weißen Kleidern in einem Buchsbaumgarten sah, versuchte, Verse aus Dantes glücklichem Gedicht (Guido, i’vorrei…) in ein zeitgenössisches Gedicht zu integrieren, was ihm jedoch misslang. Jaccottet interpretiert die Vielzahl dieser „Begegnungen“ (wie der Glockenklang), die über Jahre hinweg tiefes Erstaunen und Freude hervorriefen, als eine Konvergenz hin zu einem Sinn. Sein Leben, das sich dem Ende neigt, könnte sich demnach als eine fragile, aber zähe „Erscheinung des Sinns“ offenbaren. Er sieht sich als Sammler (cueilleur), Aufleser (recueilleur) und unbeholfener Interpret dieser stets winzigen, flüchtigen, aber intensiven und kostbaren Zeichen.
Die Erkenntnis seiner eigenen, vom Alter gezeichneten Hände führte zu einer Abkehr von illusionären Vorstellungen. Er beschloss, in der dritten Person über sich selbst zu sprechen, um Distanz und die Ablehnung jeglicher Illusion zu signalisieren. Das Gedicht wendet sich daraufhin der „anderen Barke“ zu, die ihn vor den „immer kälteren Nebeln“ bewahren soll, wobei er an Ungarettis letztes, gequältes Gedicht über die „unheimlichen Barken“ des Todes denkt.
Der Ausgangspunkt für La Clarté Notre-Dame war das Hören einer kleinen Vesperglocke im großen, stillen, grauen Frühlingspanorama am 4. März des Vorjahres (2011/2012). Er musste diesen reinen, leichten, fragilen und doch klaren Klang bewahren, damit ein möglicher Aufschwung nicht durch Ungeschicklichkeit, Müdigkeit oder Misstrauen gegenüber Wörtern vereitelt würde. Die Reaktion auf den Glockenklang war intensiv und verworren. Obwohl er die religiöse Funktion des Ortes (La Clarté Notre-Dame) kannte, spielte diese religiöse Resonanz für sein sofortiges, glückliches Erstaunen im farblosen, stillen Raum überraschenderweise keine Rolle. Er sah sich gezwungen, auf das riskante, fast mechanische Werkzeug der Dichter, das „comme“ (die Analogie), zurückzugreifen. Er verglich den kristallinen, doch zarten Klang mit dem Morgentau, der Flügel angenommen und sich in himmlische Töne verwandelt hatte.
Das Gedicht ist durchzogen von Bildern des Übergangs: der nächtliche Hain, die weiße Blüte, die flüchtige Lampe aus Kirschblüten. Am Ende steht der Blick auf den Sommerhimmel, „un grésillement dans les éteules / comme d’étoiles à ras de terre“ – ein kosmisches Bild, das Licht und Vergänglichkeit zugleich beschwört. Es ist kein Triumphgesang, sondern eine zarte Feier der Erscheinung im Moment ihres Verschwindens. Der „baptême de la longue nuit d’été“, von dem der Dichter spricht, deutet diese Erfahrung als rituelle Reinigung: Im Dunkel der Nacht wird das Licht neu geboren, aber nur für den, der gelernt hat, es nicht festzuhalten.
Das zweite Gedicht, „Le Chariot“, führt dieses Motiv weiter. Wieder erscheint eine allegorische Bewegung – ein Wagen, der nicht den Tod oder die Liebe, sondern die „Grâce ou le Plaisir“ trägt. Das Bild verweist auf die antiken Triumphzüge, doch Jaccottet entzieht ihm jede historische Pracht: Der Wagen rollt durch die „collines colorées par l’été“, eine pastorale Landschaft, deren Schönheit sich schon im Augenblick ihrer Wahrnehmung in Vergänglichkeit verwandelt. Das wiederkehrende Trinken, die toasts „À la beauté du monde !“, werden von einer Ahnung des Bluts begleitet: Das Weinrot kippt in Opferfarbe. Diese Ambivalenz ist typisch für Jaccottets Spätwerk – die Schönheit des Sichtbaren ist nie rein; sie ist untrennbar mit der Erfahrung des Sterblichen verbunden.
In der Mitte des Gedichts tritt der „vieux forgeron“ auf, eine mythische Figur, zugleich Künstler und Opfer. Sein Werkzeug, Sinnbild des schöpferischen Tuns, wird von der Flamme verschlungen. „Où l’on m’emmène je n’en aurai plus l’usage…“ – hier spricht das Bewusstsein des Alters, das Wissen um die Grenze des dichterischen Instruments. Doch in dieser Geste der Aufgabe schwingt ein Rest von Licht mit: Die Lampe, „pareille à une ruche“, bleibt als Symbol der Süße und des Sammelns, des dichterischen Honigs, der aus Vergänglichem gewonnen wird.
Im Verlauf der Madrigale treten Bilder des Lichts und der Farbe in immer intensiverer Variation auf: „Les ruisseaux se sont réveillés“, „Le tissu bleu du ciel“, „Vert, rose et bleu“. Diese chromatische Fülle ist nicht bloße Idylle, sondern Versuch, das Unsichtbare zu retten, indem man es in die Bewegung der Elemente einschreibt. Das Licht wird nicht mehr als metaphysisches Prinzip gedacht, sondern als vibrierende Gegenwart, die sich in Wasser, Wind und Klang auflöst.
Die zweite Hälfte des Zyklus zeigt eine gesteigerte Auseinandersetzung mit dem Motiv des Aufstiegs. Die Lerche, „fragment ascendant de ce feu“, steht für die Möglichkeit, die Schwere des Irdischen durch Gesang zu überwinden. Doch die Bewegung bleibt ambivalent: Der Aufstieg ist auch ein Verbrennen. „Il est une beauté… qui fait faire au cœur un premier degré dans le chant. / Mais l’autre se dérobe et il faut s’élever plus haut…“ – das „autre“, das Andere, ist die unsichtbare Seite des Lichts, die sich jeder Sprache entzieht.
In der Folge tauchen Tierbilder auf – der Hirsch, die Vögel –, Gestalten zwischen Opfer und Bote. Am Ende des Zyklus verwandelt sich das Licht in Schnee, die Flamme in Asche: „La lumière n’est plus aujourd’hui qu’un lit de plumes / pour le repos du cœur.“ Der Tod erscheint nicht als Katastrophe, sondern als Verwandlung in Ruhe, in einen letzten, sanften Glanz. Das Madrigal ist kein Liebeslied mehr, sondern eine Meditation über das Sterben des Gesangs selbst: Der Dichter singt, um das Verstummen vorzubereiten.
Die Prosa der letzten Helligkeit
La Clarté Notre-Dame, in den 2010er Jahren geschrieben, setzt an diesem Punkt ein, an der Grenze zwischen Gesang und Schweigen. Es ist kein Gedichtband mehr, sondern ein Prosatext, eine Folge von Notizen, Erinnerungen, Meditationen. Doch die Bewegung bleibt dieselbe: das Aufsuchen eines flüchtigen Lichts, das „comme un oiseau dans la paume de la main“ bewahrt werden will. Schon die Eingangsszene – der Spaziergang im grauen Märzland, der ferne Klang einer Klosterglocke – ist paradigmatisch. Das „tintement pur, léger, fragile et pourtant net“ steht für jene Erfahrung der Klarheit, die Jaccottet sein Leben lang suchte: nicht religiös im engeren Sinne, sondern eine Art poetische Offenbarung, die sich gerade in der Armut und Unscheinbarkeit des Moments zeigt.
Jaccottet beschreibt diese Szene mit der äußersten Vorsicht des Skeptikers: Er vermeidet jede eindeutige Deutung, sucht nach einem Vergleich, der sich sogleich wieder entzieht. War der Klang eine Stimme, eine Erscheinung, eine Erinnerung? Er bleibt „comme une espèce de source suspendue en l’air“ – ein Bild, das die Erfahrung zugleich benennt und verflüchtigt. Dieses poetische Verfahren, das Schwanken zwischen Benennen und Entziehen, bildet das Herzstück von Jaccottets Poetik: Die Sprache soll sich dem Geheimnis nähern, ohne es zu vereinnahmen; sie soll die Klarheit erahnen, nicht besitzen.
Von hier aus entfaltet sich eine Selbstprüfung, die das ganze Werk rückwirkend umfasst. Jaccottet erinnert sich an sein frühes Requiem (1946) und erkennt darin schon das Thema, das ihn bis zuletzt begleitet: das Verhältnis zwischen Klang und Transzendenz. Damals war der Berg ein Symbol für Ferne und Unerreichbarkeit; jetzt wird er zum inneren Ort, zur Kindheit des Hörens. Die Glocke der „Clarté Notre-Dame“ ist keine religiöse Stimme mehr, sondern der Widerhall des eigenen Gedichts – eines Gedichts, das sich seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst bleibt.
Im weiteren Verlauf tritt das „Licht“ selbst als Prüfstein der Sprache hervor. Jaccottet fragt sich, ob es erlaubt sei, das Wort „clarté“ noch auszusprechen, da es durch Jahrhunderte religiöser und metaphysischer Tradition überladen ist. Doch er hält an ihm fest, weil es das einzige Wort bleibt, das zugleich sinnlich und geistig ist. Dieses „clair“ ist kein metaphysisches Licht, sondern eine Erfahrung des Zwischenraums, der Resonanz. Darin liegt die letzte Ethik seiner Dichtung: das Beharren auf einer zarten, prekären Wahrnehmung, die den Menschen an das Lebendige bindet, ohne sich in Trost zu flüchten.
Gegen Ende des ersten Teils öffnet sich der Blick zu einer beunruhigenden Gegenwelt: die Erinnerung an das Grauen, an die syrischen Gefängnisse, an den Journalisten, der die Schreie der Gefolterten hörte. Diese Szene wirkt wie ein Einbruch des Realen in die kontemplative Welt des Dichters. Sie zerstört die fragile Harmonie, stellt das Recht des Sprechens selbst infrage. Jaccottet bekennt, dass die Schönheit, die ihn umgibt – der klare Himmel, die stillen Bäume –, eine „enclave protégée“ sei, eine unverdiente Zuflucht. Aus dieser Spannung erwächst das vielleicht erschütterndste Moment seines Spätwerks: das Bewusstsein, dass kein Gedicht, kein „rideau de mots“, den Schmerz der Welt wirklich aufhalten kann.
Doch auch hier bleibt er dem Gesetz seiner Dichtung treu: Er flieht nicht ins Schweigen, sondern schreibt weiter, als „poèmes de sauvetage“, als Worte, die „diffèrent l’effondrement“. Schreiben wird zur Geste des Widerstands, nicht gegen den Tod, sondern gegen das Verstummen. Die Sprache, so unsicher sie geworden ist, behält ihre Funktion als tastendes, menschliches Mittel des Aufrechterhaltens.
Das Spätwerk als Kontinuum
In den späteren Kapiteln von La Clarté Notre-Dame verschränken sich Meditation, Erinnerung und Zitat. Jaccottet ruft die Stimmen seiner geistigen Ahnen auf – Hölderlin, Dante, Leopardi, Rilke, Claudel, Ungaretti –, um seine eigene Position noch einmal zu umkreisen. Sie bilden den geistigen Horizont, in dem sich seine eigene Poetik im hohen Alter noch einmal vergewissert. Jede dieser Gestalten steht für eine andere Weise, das Heilige im Gedicht zu denken – und gerade im Vergleich zu ihnen bestimmt Jaccottet seinen Ort: nicht mehr als Seher, sondern als einer, der tastend, beinahe beschämt, im Nachhall dieser großen Stimmen weiterhorcht. Der Text ist von Zitaten und Übersetzungen durchzogen, die nicht als Autorität, sondern als Resonanzraum wirken. Sie machen sichtbar, wie sehr seine Sprache vom Lesen getragen bleibt – von einem stillen, demütigen Gespräch mit der Tradition.
Von Hölderlin übernimmt Jaccottet am deutlichsten die Idee des „Gefährlichen“ als Ort der Rettung. Wenn er den Vers „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ zitiert, dann nicht als Glaubenssatz, sondern als fragile Hoffnung. Die Gefahr – Altern, Tod, das Verstummen der Welt – ist für ihn allgegenwärtig; das Rettende zeigt sich nur in kurzen Momenten des Hörens, etwa im „tintement pur“ der Klosterglocke. Hölderlin gibt ihm die Sprache, das Unsagbare zu umkreisen, ohne es zu benennen: die Bitte um „eau innocente“ und „ailes“, die er wiederholt, wird zum Sinnbild eines letzten, beinahe kindlichen Vertrauens in das noch mögliche Licht. Jaccottet glaubt nicht mehr an eine Erlösung, aber er hält an der Möglichkeit fest, dass in der Bedrohung – der Nähe des Todes – noch ein Funke von Sinn aufleuchtet.
Dante und Leopardi stehen für die andere Seite dieser Bewegung: für den Weg durch das Dunkel, der dennoch auf das Licht zielt. Wenn Jaccottet sich an das Ende der Commedia erinnert, an das Aufsteigen Dantes und Vergils „vers les étoiles“, dann erkennt er darin eine Parallele zu seinem eigenen späten Gehen – nicht mehr als Pilger der Erlösung, sondern als Wanderer, der in der Natur eine Spur von Transzendenz liest. Leopardi, den er zitiert „Al chiaror delle nevi“, ruft die Erfahrung einer kühlen, fast abstrakten Helligkeit herauf: das Licht der Erinnerung, das keine Wärme mehr gibt und doch unverzichtbar bleibt. In diesen italienischen Stimmen hört Jaccottet das Echo seiner Jugend, zugleich aber das Bewusstsein, dass alles Licht nur auf dem Hintergrund des Verlöschens erfahrbar wird.
Rilke, Claudel und Ungaretti schließlich markieren Grenzpunkte seines eigenen Schreibens: Rilke als Dichter der Übergänge, Claudel als Sänger des Glaubens, Ungaretti als Zeuge des Schmerzes. Jaccottet hält sich zwischen ihnen in der Schwebe. Rilkes „charmes“ und Claudels Pathos erscheinen ihm im Rückblick zu gewiss, zu kunstvoll; er bewundert ihre Sprache, ohne ihr zu folgen. Von Ungaretti dagegen übernimmt er die Schlichtheit, die Reduktion, die fast gebetsartige Nüchternheit der letzten Gedichte. So entsteht aus diesem vielstimmigen Hintergrund kein Zitatenkatalog, sondern ein Selbstbild: Jaccottet als letzter in einer Kette von Dichtern, die das Licht noch einmal befragen – nicht um es zu besitzen, sondern um ihm, im Angesicht des Dunkels, eine leise, menschliche Stimme zu leihen.
Die wiederkehrenden Motive des Wassers und der Vögel („Donne-nous une eau innocente, ô Fittige, donne-nous des ailes“) verbinden sich zu einem letzten poetischen Symbolsystem: Wasser und Flug als Metaphern des Übergangs, des „voyageur“ zwischen Erde und Himmel, Leben und Tod. Am Ende des Textes steht das Bild der zwei parallelen Boote – des Dichters und seiner Gefährtin –, die „au fil du temps“ hinabgleiten. Dieses Gleichnis der Zärtlichkeit und des Verfalls bildet den stillen Abschluss einer Poetik, die immer auf Beziehung zielte: Beziehung zwischen Wesen, zwischen Mensch und Welt, zwischen Sprache und Schweigen.
Die letzten Seiten von La Clarté Notre-Dame wirken wie eine Selbstkommentierung der Madrigale. Alles, was dort in der Fülle der Bilder, Farben und Klänge beschworen wurde, erscheint hier noch einmal im Modus der Reflexion. Der Glockenklang, das Licht, die Lerche, der Fluss – sie alle werden zu inneren Zeichen, zu „signes qui aident le ciel“. In dieser Wendung, die Jaccottet von Hölderlin übernimmt, liegt das eigentliche Selbstverständnis des Dichters: nicht Verkünder, nicht Prophet, sondern jemand, der die Welt durch kleine, fast unscheinbare Zeichen in Richtung eines höheren Sinns „hilft“.
Dass diese Hilfe begrenzt, ja vielleicht vergeblich ist, weiß Jaccottet besser als jeder andere. Die letzten Eintragungen des Post-scriptum (2020) lesen sich wie ein stilles Resümee: Der alte Dichter erkennt in der Erinnerung an einen antiken Tempel, eine kleine Kapelle, einen blühenden Obstgarten immer wieder die Spur des „sacré“ – nicht als religiöse Offenbarung, sondern als „construction ouverte, qui contiendrait l’infini“. Dieses Paradox – Offenheit, die das Unendliche birgt – fasst Jaccottets poetologisches Ethos: die Poesie als Ort einer fragilen, aber notwendigen Transzendenz.
Poetologische Konsequenzen
Lesend erkennt man, wie eng Le dernier livre de Madrigaux und La Clarté Notre-Dame aufeinander bezogen sind: Das erste zeigt den Gesang in seiner letzten, reinen Form – den Versuch, noch einmal zu singen, obwohl der Klang schon vom Schweigen umgeben ist; das zweite vollzieht das Umschlagen dieses Gesangs in Prosa, Reflexion, Stille. Die Sammlung als Ganzes bildet einen Bogen vom Hören zum Denken, von der Stimme zur Erinnerung.
Poetologisch gesehen, erprobt Jaccottet hier eine radikale Reduktion. Seine Sprache, stets von großer Klarheit und Musikalität, nähert sich nun dem Schweigen an, ohne sentimental zu werden. Der Verzicht auf Metaphern, das suchende Sprechen, die Einschübe der Selbstkorrektur („je ne sais comment ni pourquoi“, „à vrai dire“) sind nicht Zeichen der Schwäche, sondern Ausdruck einer Ethik der Genauigkeit. In dieser Selbstbeschränkung liegt Jaccottets späte Größe: Er behauptet die Möglichkeit einer „poésie pauvre“, die nichts verkündet, aber das Leben in seiner Verletzlichkeit ehrt.
Thematisch entfaltet sich daraus ein doppeltes Erbe: Zum einen die Kontinuität seiner frühen Themen – Licht, Landschaft, Jahreszeiten, das Verhältnis von Erde und Himmel –, zum anderen deren radikale Neuinterpretation. Das Licht ist nicht mehr Bild des Trostes, sondern Prüfstein des Glaubens; die Landschaft nicht mehr Ort des Einklangs, sondern Schauplatz einer letzten, fragilen Wahrnehmung. Die „clarté“ ist kein Zustand, sondern ein Übergang, ein Moment des Erzitterns zwischen Erkenntnis und Ungewissheit.
Sterblich, vergänglich
Wenn man die beiden Bücher als Ganzes betrachtet, so bilden sie eine Doppelfuge aus Klang und Schweigen, Erinnerung und Einsicht. Le dernier livre de Madrigaux ist das letzte Lied des Jüngeren, der sich noch einmal der Schönheit aussetzt; La Clarté Notre-Dame ist das Tagebuch des Alten, der in derselben Schönheit die Grenze erkennt. Zwischen beiden verläuft kein Bruch, sondern eine Verwandlung: Das Licht des einen geht in das Schweigen des anderen über. Er kommt zu dem Schluss, dass selbst die bewundernswerteste Poesie oder der reinste Gesang keinen wirksamen Schild gegen den Tod bilden kann. Am Ende seiner Reise schwankt er zwischen den zwei unzweifelhaften Aspekten seiner Erfahrung: der Sammlung der Zeichen und dem wachsenden Entsetzen über die Schreie aus der Hölle. Die wiederholte Verwendung der gleichen Metaphern verliere an Überzeugungskraft und zeige, dass er nicht in der Tiefe überzeugt sei.
In dieser Übergangsbewegung liegt Jaccottets Vermächtnis. Er hat die moderne Lyrik von der Versuchung der Dunkelheit befreit, ohne in naives Licht zurückzufallen. Sein Spätwerk zeigt, dass die Sprache selbst eine Form des Gebets sein kann, auch wenn sie an keinen Gott mehr gerichtet ist. „Je rêve que cette note froide me guide aussi loin que possible dans mon cœur“ – dieser Satz aus La Clarté Notre-Dame könnte über dem gesamten Werk stehen.
Denn am Ende bleibt die Poesie für Jaccottet nicht Erkenntnis, sondern Haltung: ein leises, unerschütterliches Lauschen auf das, was bleibt, wenn alles vergeht. Zwischen der zarten Musik der Madrigale und der kristallinen Prosa der Clarté bildet sich eine Ethik des Sehens und Hörens, die das Unsichtbare nicht bannt, sondern demütig anerkennt. Damit schließt sich der Kreis eines Werkes, das nie aufgehört hat, die Welt zu feiern – in der einzigen Weise, die ihr angemessen ist: als vergängliches Licht.
Diese positive Deutung wird durch die Realität des menschlichen Leidens brutal untergraben. Das Hören der Schreie gefolterter Gefangener in Syrien, von denen ein freigelassener Journalist berichtete, ist eine „brutal einfache“ Szene, die er nicht aus seinem Geist verbannen kann. Diese Szene droht, alles zu zerstören, was er „zum Ruhme dieses irdischen Lichts“ aufgebaut hat. Er fragt sich, ob er sich für sein Buch über das verzauberte Palmyra schämen sollte, da möglicherweise unter den Ruinen Folterkeller verborgen lagen.
Comme s’il me fallait en arriver à penser, in extremis,
que tout ce que j’ai contemplé de plus admirable au monde
recouvrait, sous sa surface lumineuse, des caves ténébreuses
où s’affaireraient des êtres démoniaques…
Comment, après cela, croire encore aux enchantements ?
(Aus La Clarté Notre-Dame, II)Als müsste ich schließlich, im äußersten Moment, zu dem Gedanken gelangen,
dass alles, was ich je als Bewundernswertestes der Welt geschaut habe,
unter seiner leuchtenden Oberfläche dunkle Gewölbe verbarg,
in denen dämonische Wesen sich regen könnten …
Wie sollte man nach alledem noch an Verzauberungen glauben?