Inhalt
Nouvelle histoire de l’extrême droite (France 1780–2025). Herausgegeben von Baptiste Roger-Lacan, Seuil, 2025.
Problemstellung und Gesamtvorhaben
Nouvelle histoire de l’extrême droite (France 1780–2025) strebt an, Gesamtdarstellung einer politischen Kraft zu sein, die sich immer wieder neu definiert hat – mit dem Anspruch, eine alternative Moderne zu verkörpern, obwohl sie historisch meist als Gegnerin gesellschaftlicher Veränderungen auftrat. Weil die vielschichtige und fortlaufende Entwicklung der extremen Rechten das politische, kulturelle und soziale Gefüge Frankreichs nachhaltig beeinflusst hat, eröffnet dieses Werk einen neuen Blick auf die französische Geschichte insgesamt.
Wann entstand die französische extreme Rechte, wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert, wie lassen sich ihre Organisationsformen und ihre politischen Praktiken beschreiben? Welche geistigen Traditionen knüpfen an sie an, wie steht sie zum Kapitalismus und welche Beziehungen pflegt sie zu verwandten ausländischen Bewegungen? Von der gegenrevolutionären Tradition über das Vichy-Regime bis hin zu den Kolonialkriegen und dem Aufstieg des Front National zeigt sich, dass die extreme Rechte in Frankreich stets stark von den jeweiligen historischen Umständen geprägt war. Um diese lange Entwicklung nachvollziehbar zu machen, hat Baptiste Roger-Lacan ein Team junger Fachleute versammelt, das in den vergangenen Jahren die Forschung zu diesem Themenfeld grundlegend erneuert hat. Sie heben unter anderem die frühe Verwurzelung der Bewegung auf lokaler und internationaler Ebene sowie die charakteristischen Ausdrucksformen ihres politischen Vorstellungsraums hervor. Baptiste Roger-Lacan, Agrégé und promovierter Historiker, forscht an der Fondation Napoléon und lehrt am Institut catholique de Paris sowie an Sciences Po. Er veröffentlichte außerdem Le Roi. Une autre histoire de la droite (Passés composés, 2025).
Der Band verfolgt die Genealogie der extremen Rechten (ER) in Frankreich konsequent bis zu den Anfängen der Französischen Revolution (um 1780) zurück. Dies widerspricht älteren historiographischen Ansätzen, die oft erst die Dritte Republik oder die Dreyfus-Affäre als Ursprung setzten. Die Problemstellung ist die Definition und Analyse dieses Phänomens über eine solch lange Dauer (longue durée). Die ER wird primär als radikale Rechte (droite radicale) definiert, die sich durch Kompromisslosigkeit (intransigeance) und übersteigerten Eifer auszeichnet. Ihr ideologischer Kern besteht in der fundamentalistischen Ablehnung universalistischer Werte und der aus der Revolution hervorgegangenen Welt. Sie bekämpft Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus als die „drei Gesichter der revolutionären Hydra“ und postuliert stattdessen eine natürliche, hierarchische und organische Gesellschaftsordnung. Obwohl die ER anti-modern und reaktionär auftritt, wird sie paradoxerweise als Akteur der Moderne und deren Gestaltung verstanden. Methodisch setzt der Band auf die Polyphonie vierzehn spezialisierter Autoren, um einen kaleidoskopischen Blick zu ermöglichen. Besonderes Gewicht liegt auf der transnationalen Zirkulation von Ideen (innerhalb Europas) und der entscheidenden Rolle der kolonialen Schicht, insbesondere Französisch-Algeriens, als ideologisches Experimentierfeld.
Kulturwissenschaftliche und literaturgeschichtliche Dimensionen
Die Relevanz der politischen Entwicklungen der extremen Rechten (ER) in Frankreich beginnt in den geistesgeschichtlichen Fundamenten, die untrennbar mit der Konterrevolution und den Anti-Lumières (contre-Lumières) verbunden sind. Denker wie Joseph de Maistre und Louis de Bonald schufen einen „französischen reaktionären Kanon“ (canon réactionnaire français), der nicht nur eine einfache Reaktion darstellt, sondern eine strukturierte, alternative Kritik an der Moderne. Diese frühen Schriften trugen bereits aktiv zur Transformation der europäischen Gesellschaften bei. Im 19. Jahrhundert wurde diese Tradition durch die Literaturgeschichte neu bewertet, wobei deren ideologische Konsistenz betont wurde. Die frühe politische Kultur war durch die aristokratische Matrix geprägt, die den Kult der heldenhaften Niederlage (défaite héroïque) und ein Imaginäres des Rittertums (imaginaire chevaleresque) hervorbrachte. Die Geschichte der ER ist zudem durch eine Fülle apologetischer Schriften von Aktivisten (z. B. ehemaligen Mitgliedern der Action française oder Neofaschisten) gekennzeichnet, die lange die Grenze zur eigentlichen historischen Arbeit verwischten.
Kulturhistorisch sicherte die ER ihre Persistenz durch die Organisation als politische Gegenkultur in Zeiten des politischen Rückzugs. Diese Gegenkultur garantiert die Kontinuität und Bewahrung von Ideen, die durch das Schreiben, Lehre und die Presse verbreitet werden. Frühe konterrevolutionäre Zeitungen (Les Actes des apôtres) etablierten einen spezifischen Stil aus „hämischer Ironie und melancholischer Derision“, der später von nationalistischen Publikationen wie Rivarol aufgegriffen wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlagerte sich der Kampf hin zur Metapolitik, eine aus der Nouvelle Droite stammende Strategie, die darauf abzielt, durch kulturelle Formen die „Köpfe zu gewinnen“ (gagner les esprits). Dies manifestiert sich in Jugend-Gegenkulturen (contre-cultures juvéniles), die einen unverwechselbaren Stil (style distinctif) pflegen, und in der taktischen Nutzung moderner Medien. Moderne Aktivisten, darunter Influencer, nutzen die „Mème-Kultur“ (virale Memes) zur Banalisierung und Politisierung historischer Elemente und zur Propagierung einer aggressiven Männlichkeit (virilité agressive).
Die deutlichste Relevanz liegt in der Formung des politischen und sozialen Imaginären durch die Verbreitung von Mythen und Narrativen (récits et mythes). Die konstante Wiederkehr des Verschwörungsdenkens (complotisme), von Abbé Barruel (Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme) bis zur Theorie der „Großen Ersetzung“ (grand remplacement), ist ein zentrales kulturschaffendes Element. Die koloniale Schicht (strate coloniale), insbesondere Französisch-Algerien, strukturierte ein imperiales Imaginäres (imaginaire impérial) und diente als ideologisches Reservoir zur Artikulierung von Hass und politischen Fantasien. Autoren wie Louis Bertrand artikulierten diese koloniale Bildwelt literarisch. Darüber hinaus verwendeten maurrassistische Historiker wie Pierre Gaxotte die Geschichte als „experimentelle Politik“, indem sie die Französische Revolution in ihrem Werk La Révolution française (1928) als „ersten kommunistischen Staat“ darstellten. Dieses konterrevolutionäre Narrativ nährte den Antikommunismus und etablierte eine dominantes Leitnarrativ der extremen Rechten, deren Einfluss weit über den politischen Bereich hinausreicht.
Besprechung der Einzelbeiträge
Les chevaliers revenants ou la matrice aristocratique (Clément Weiss)
Dieser Beitrag untersucht die Ursprünge der politischen Kultur der ER in der Konterrevolution und identifiziert die aristokratische Matrix als deren Grundstein. Die frühen Gegner der Revolution (die „wiederkehrenden Ritter“) waren hauptsächlich Adlige, die eifersüchtig ihr Monopol auf Befehlsgewalt verteidigten und eine politische Kultur pflegten, die auf Gewalt und einem idealisierten Rittertum basierte. Bereits in dieser Phase wurde die ER, durch die Unterstützung von Manifesten wie dem Braunschweiger Manifest, zum „Partei des Ausländers“ (parti de l’étranger).
Eine wesentliche Erkenntnis liegt in der Begründung, dass die ER von Anfang an eine Kultur der heldenhaften Niederlage (défaite héroïque) und der exaltierten Gewalt pflegte, die über reine Doktrin hinausgeht. Weiss zeigt, dass die Fundamente der extremen Rechten nicht nur in intellektuellen Anti-Aufklärungsströmungen liegen, sondern ebenso sehr in der Verteidigung der sozialen Kaste und des Strebens nach aristokratischer Unterscheidung.
La défaite de l’ultraroyalisme (Andoni Artola)
Der Autor analysiert die Periode der Restauration, in der der Ultraroyalismus scheiterte. Aus dieser Niederlage heraus etablierte sich das Verschwörungsdenken (complotisme), etwa durch die Schriften des Abbé Barruel (Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme), der die Revolution als ein von Geheimgesellschaften (Judäo-Maurerei) inszeniertes Komplott zur Zerstörung der alten Ordnung interpretierte. Obwohl die Ultraroyalisten von 1822 bis 1828 faktisch die Macht innehatten, führten ihre ideologische Radikalität und Kompromisslosigkeit (Intransigenz), selbst in der Frage der Thronfolge, zum politischen Scheitern.
Dieser Beitrag belegt die tiefgreifende historische Rolle des Komplott-Mythos als konstantes Strukturprinzip der ER. Es wird verdeutlicht, dass der Ultraroyalismus bereits im frühen 19. Jahrhundert die ideologischen Grundlagen für die spätere Dämonisierung innerer Feinde legte und dass die Intransigenz der radikalen Rechten eine selbstzerstörerische politische Tendenz darstellt, die deren Erfolg immer wieder verhindert hat.
Modernités du légitimisme (1830-1883) (Alexandre Dupont)
Alexandre Dupont demonstriert, dass der Legitimismus nach 1830, obwohl er für die Wiederherstellung der älteren Bourbonenlinie kämpfte, keineswegs nur ein veraltetes Relikt war. Er entwickelte moderne und subversive politische Praktiken. Die Legitimisten bedienten sich frühzeitig populistischer Rhetorik und sprachen die Volksklassen an, die sich gegen die sozioökonomischen Folgen des Liberalismus wandten. Strömungen wie der Droit national befürworteten sogar das allgemeine Wahlrecht als Mittel zur Wiedererlangung der Macht. Der Begriff „extrême droite“ wurde Mitte der 1870er Jahre von Paul Thureau-Dangin geprägt, um die extreme Haltung der legitimistischen Abgeordneten (die chevau-légers) zu beschreiben.
Der Beitrag widerlegt die Vorstellung eines starren Konservatismus und betont die Erfindungsfähigkeit der extremen Rechten im 19. Jahrhundert. Er zeigt, wie der Legitimismus durch populistische Monarchie-Fantasien und die Nutzung neuer politischer Werkzeuge (wie der Presse und des Wahlrechts) seine Attraktivität für die Volksklassen sicherte und somit eine „politische Gegenkultur“ schuf, die spätere Massenbewegungen vorwegnahm.
Une extrême droite catholique au XIXe siècle ? (Arthur Hérisson)
Arthur Hérisson fragt kritisch, ob der intransigente Katholizismus des 19. Jahrhunderts selbst als extreme Rechte gelten kann. Die Ultramontanen lehnten zwar prinzipiell die liberalen und revolutionären Werte ab, ihr Hauptziel war jedoch die Verteidigung der Kirche und des päpstlichen weltlichen Machtanspruchs (pape-roi), nicht zwingend die politische Restauration einer bestimmten Dynastie. Dies führte zu strategischen und ideologischen Divergenzen mit den Legitimisten.
Dieser Beitrag differenziert die longue durée der ER, indem er zeigt, dass die Allianz zwischen dem „Goupillon“ (Klerus) und dem „Sabre“ (Militär) zwar ein essenzieller Vektor der Kontinuität war, die politische Radikalität der ER aber nicht einfach mit dem konservativen, antiliberalen Katholizismus gleichgesetzt werden kann. Er identifiziert die Verteidigung der katholischen Gesellschaftsordnung als eine wichtige, aber nicht deckungsgleiche Achse der Reaktion.
Inventer l’héritage, de Drumont à Maurras (Baptiste Roger-Lacan)
Dieses Kapitel behandelt den Aufstieg des modernen Nationalismus in der Dritten Republik, der durch Krisen wie den Boulangismus (den ersten großen populistischen Moment) und die Dreyfus-Affäre katalysiert wurde. Die neue Ideologie baute auf dem Antisemitismus Édouard Drumonts auf (La France juive als Bestseller, der Juden als nationale Parasiten und Agenten der Korruption denunzierte). Charles Maurras (Action française) lieferte die intellektuelle Synthese, indem er den Nationalismus mit einem antikonträr-revolutionären Monarchismus verschmolz und die vier „konföderierten Staaten“ (Juden, Protestanten, Freimaurer, Métèques) als innere Feinde definierte.
Der Beitrag legt die Geburtsstunde der modernen extremen Rechten dar, die durch die Hybridisierung alter antirevolutionärer Ideen mit modernem, massenhaft verbreitetem Antisemitismus und Antiparlamentarismus charakterisiert ist. Es wird hervorgehoben, dass der Boulangismus der ER neue politische Praktiken vermittelte, die über das reine Monarchistentum hinausgingen, einschließlich der lauten und gewaltsamen Besetzung der Straße.
Des militantes nationalistes et féministes sous la Troisième République ? (Camille Cléret)
Camille Cléret untersucht die Beteiligung von Frauen an den nationalistischen und religiösen Kämpfen der ER. Obwohl Frauen aktiv in der antidreyfusardischen und antiklerikalen Mobilisierung waren, lehnte die ER jegliche Form des Feminismus und das Prinzip der Gleichheit ab. Feministische Forderungen wurden als Ausdruck der „jüdischen, metöken oder freimaurerischen“ Subversion gebrandmarkt. Die militanten Frauen pflegten zwar eine Kultur der Transgression (z. B. Gyp), dienten aber letztlich der ideologischen Verteidigung einer hierarchischen, patriarchalischen Ordnung.
Dieser Beitrag legt die ideologische Grenze des Feminismus innerhalb der ER frei: Solange weibliches Engagement die antirepublikanische und virile nationalistische Agenda stützte, war es willkommen; sobald es die Geschlechterhierarchie in Frage stellte, wurde es als „anarchisch“ und dem Feind (dem „Anti-Frankreich“) zugehörig betrachtet. Dies zeigt, wie tief verwurzelt das Anti-Egalitarismus-Prinzip in der ER-Ideologie ist.
Juifs, francs-maçons, communistes : combattre l’Anti-France (Valeria Galimi)
Valeria Galimi analysiert die Zwischenkriegszeit, in der das Konzept des „Anti-Frankreich“ zum zentralen, einigenden Element der extremen Rechten wurde. Die ursprüngliche „Judäo-Maurerei“-Verschwörung wurde durch den Antikommunismus erweitert, was zum mächtigen Mythos des „Judäo-Bolschewismus“ führte. Die Gefahr wurde durch eine Rhetorik der „Invasion“ (von Ausländern, Juden, Flüchtlingen) zugespitzt. Die Wahl von Léon Blum (Volksfront) wurde als Bestätigung der „jüdischen Eroberung des Staates“ interpretiert und löste massive Gewalt (wie das Attentat auf Blum) und Forderungen nach staatlichem Antisemitismus aus, wie sie von Louis Darquier de Pellepoix (zukünftiger Vichy-Kommissar) formuliert wurden.
Das Kapitel verdeutlicht, wie der Antikommunismus in den 1930er Jahren zum entscheidenden Motor der Einigung zwischen Konservativen und Extremisten wurde und wie der Antisemitismus durch die Verbindung mit dem Bolschewismus eine neue, virulente Form annahm, die direkt zur Eliminierungspolitik Vichys führte. Die Verbreitung der Invasionsrhetorik mit rassistischen und „wissenschaftlichen“ Untertönen etablierte Diskurse, die für die post-1945 ER relevant blieben.
Tentations fasciste et nazie : les voyageurs d’extrême droite en Europe (Christophe Poupault)
Christophe Poupault untersucht die transnationalen Kontakte und Reisen französischer ER-Akteure in die autoritären Staaten Europas. Das faschistische Italien war das bevorzugte Modell, bewundert für seinen Antiparlamentarismus und Korporatismus. Obwohl die Action française und andere Ligen Fascisten angezogen haben, bevorzugten die Maurrassiens und Traditionalisten letztlich die iberischen Regime (Salazar und Franco), da diese besser die lateinisch-katholischen Prinzipien verkörperten. Diese Reisen und der Austausch in der Presse förderten die internationale Zirkulation anti-liberaler Ideen.
Die Analyse entkräftet den Mythos einer „französischen Allergie gegen den Faschismus“ und zeigt, dass die französische ER ein aktiver Teil eines europäischen Netzwerks war, das anti-liberale Modelle suchte und nachahmte. Die Nuancen in der Modellwahl (Faschismus vs. traditionalistischer Autoritarismus) unterstreichen die internen Spannungen der französischen Rechten und ihre ideologische Bindung an die „Latinität“ als Gegenentwurf zum Germanismus und Bolschewismus.
Vichy ou l’heure de la revanche (Anne-Sophie Anglaret et Baptiste Roger-Lacan)
Die Autoren bezeichnen das Vichy-Regime als die „Stunde der Rache“, in der die konterrevolutionären Prinzipien, die seit 1789 gehegt wurden, staatlich umgesetzt wurden. Die Militärniederlage von 1940 bot die einmalige Gelegenheit, die Republik abzuschaffen, den Antisemitismus in Staatsgesetze zu gießen und die antiliberalen Forderungen der ER zu erfüllen. Dies wurde durch die ideologische Konvergenz mit der konservativen Rechten ermöglicht, die ebenfalls den Parlamentarismus ablehnte. Obwohl Vichy selbst keine reine ER-Regierung war, stammten Schlüsselakteure (wie Alibert, Marion, Doriot) und die brutalsten Durchsetzungsorgane (wie die Milice) aus dem radikalen Lager und praktizierten offene Bürgerkriegslogik.
Dieses Kapitel festigt die These, dass Vichy die logische Konsequenz der konterrevolutionären longue durée war. Es zeigt die strategische Fähigkeit der ER, in Krisenzeiten politischen Einfluss zu gewinnen und ihre ideologischen Prinzipien zu verwirklichen. Darüber hinaus wird die Zeit der Epuration (Säuberung) als der Gründungsmythos des Opferkults der Nachkriegs-ER identifiziert, der alle Kollaborateure in den Gefängnissen vereinte und die Legende vom „Pétain als Schild und de Gaulle als Schwert“ schuf.
Ranimer la flamme après 1945 (Pauline Picco)
Nach 1945 war die ER durch die Kollaboration diskreditiert und marginalisiert. Die Wiederbelebung gelang über zwei Hauptachsen: erstens durch die Wiederaufnahme des Antikommunismus als Brücke zur Rechten und zweitens durch die Erfindung des Holocaust-Négationnisme (Leugnung) durch Maurice Bardèche. Der Négationnisme diente als ideologische Waffe, um die Nazi-Verbrechen zu relativieren, die Legitimität Vichys zu verteidigen und eine transnationale Gemeinschaft besiegter Faschisten in Europa zu etablieren. Die Kolonialkriege, insbesondere der Algerienkrieg, boten der jungen, radikalen Generation (wie Dominique Venner) ein neues Kampffeld gegen den „Rassen“- und Ideologiekrieg und schufen einen Mythos der verlorenen Sache (cause perdue).
Der Beitrag identifiziert den Algerienkrieg als das „Gründungsereignis“ für die postkoloniale extreme Rechte, das das ideologische Zentrum auf den Kampf gegen das „Andere“ (kommunistisch und rassistisch konnotiert) verlagerte. Zudem wird die Etablierung des Négationnisme als dauerhaftes, identitätsstiftendes Element der radikalen Rechten in Frankreich und Europa detailliert, das die Transnationalität des Kampfes stärkte.
L’impossible professionnalisation du Front national ? (Baptiste Roger-Lacan)
Dieses Kapitel beleuchtet den Aufstieg des Front National (FN) unter Jean-Marie Le Pen seit 1972, der unterschiedliche radikale Tendenzen (von Neofaschisten bis Traditionalisten) in einem „nationalen Lager“ vereinte. Le Pen strebte eine Professionalisierung und „Dédiabolisierung“ an, um Allianzen mit der konservativen Rechten zu schmieden. Dies scheiterte jedoch immer wieder an seinen wiederholten antisemitischen Ausfällen, insbesondere der Aussage, die Gaskammern seien ein „Detail der Geschichte“. Die Nouvelle Droite (ND) beeinflusste den FN über Figuren wie Bruno Mégret und führte Konzepte wie den Ethno-Differentialismus und die metapolitische Strategie ein.
Die Analyse zeigt die tief sitzende politische Widersprüchlichkeit des FN auf: Die Notwendigkeit der Normalisierung steht im Konflikt mit der Kernidentität, die in der antisemitischen und Vichy-zentrierten Kultur verwurzelt ist. Der Beitrag hebt hervor, wie metapolitische Ideen (kulturelle Eroberung vor politischer Macht) die ideologische Verankerung des FN und dessen Strategie zur Rekrutierung neuer Eliten (Club de l’Horloge, ND) im Kampf gegen den „Mondialismus“ stärkten.
Le Rassemblement national, un parti européen (Marta Lorimer)
Marta Lorimer untersucht das Verhältnis des Rassemblement National (RN) zur Europäischen Union. Der RN, nach einem Kurswechsel in den 1980er Jahren, vertritt eine dezidiert euroskeptische Position. Er unterscheidet scharf zwischen der angestrebten „europäischen Zivilisation“ (ethnisch-kulturell definiert) und den verhassten „kosmopolitischen und globalistischen“ EU-Institutionen und Technokraten. Paradoxerweise hat die Partei von ihrer Präsenz im Europäischen Parlament profitiert, da dies ihre Legitimität und Sichtbarkeit erhöht hat.
Dieser Beitrag ordnet den RN in den europäischen Kontext der radikalen Populismen ein. Er zeigt, dass die Kritik an der EU von der ER als ideologischer Rohstoff genutzt wird, um ihre euroskeptische Agenda zu normalisieren und sich als einzige wahre Verteidigerin der nationalen und ethnischen Identität Europas zu positionieren.
Jeunesse et contre-cultures, des skinheads aux influenceurs (Emmanuel Casajus)
Emmanuel Casajus beleuchtet die Rolle der Jugend und der Gegenkulturen als „neue Freikorps“ am radikalen Rand der ER. Aufbauend auf der metapolitischen Strategie der Nouvelle Droite (kultureller Kampf), nutzen diese Gruppen – von Skinheads über Occident bis hin zu modernen Social-Media-„Influencern“ wie Papacito – gezielt jugendkulturelle Ästhetiken und Medien, um ihre anti-modernen Botschaften zu verbreiten. Diese Gruppen betonen virile, aggressive Männlichkeit und lehnen Kompromisse zugunsten radikaler, oft gewalttätiger Aktionen ab.
Der Ertrag liegt in der detaillierten Verfolgung der Transformationsfähigkeit der metapolitischen Strategie: Es wird gezeigt, wie die Ideen der intellektuellen Nouvelle Droite in eine populäre Gegenkultur übersetzt wurden, die moderne Codes (wie Musik, street cred) nutzt, um antikonträr-revolutionäre Ideale zu propagieren und neue, radikale Kader zu rekrutieren, selbst wenn die politischen Parteien marginalisiert sind.
Sortir de la marge, la stratégie identitaire (Marion Jacquet-Vaillant)
Dieser Beitrag analysiert die Identitäre Bewegung und deren Strategie, radikale Ideen in den politischen Mainstream zu bringen. Die Bewegung stützt sich auf das Ethno-Differentialismus-Konzept der Nouvelle Droite (die Idee, dass verschiedene Völker getrennt leben müssen, um ihre Identität zu bewahren). Durch die Popularisierung des Mythos der „Großen Ersetzung“ (Grand remplacement) versucht sie, Wählerschaften und Parteien (wie den RN und Reconquête!) ideologisch zu beeinflussen. Sie baut organisatorisch auf lokale „Identitätshäuser“ (zones identitaires), inspiriert von italienischen Gruppen wie Casapound.
Die kritische Interpretation betont die erfolgreiche Normalisierung von Ideologiefragmenten der radikalen Rechten durch die Identitären. Es wird illustriert, wie die metapolitische Arbeit (der „kulturelle Kampf“) durch die Schaffung von Allianzen und die Einführung neuer politischer Vokabeln in den öffentlichen Diskurs zur Ent-Marginalisierung radikaler Ideen führt.
Geschmeidigkeit und Erfindungskraft
Die beiden Schlusstexte dienen der metahistorischen Reflexion und der Konsolidierung der Thesen des Sammelbands.
Die Postface „La « longue durée » de l’extrême droite“ von Laurent Jeanpierre bekräftigt die zentrale These, dass die Konterrevolution die unverzichtbare Matrix der extremen Rechten darstellt. Jeanpierre widerspricht dem Mythos der „französischen Allergie gegen den Faschismus“ und betont, dass die langanhaltende Existenz der ER ihrer Fähigkeit zur Organisation als politischer Gegenkultur zu verdanken ist, die in Zeiten des politischen Rückzugs durch Schreiben, Presse und kulturelle Netzwerke überdauert. Als strukturelle Vektoren dieser Kontinuität werden die Institutionen der Kirche (intransigenter Katholizismus) und der Armee (als Vektor der Rache und der Legitimität des „Chefs“) hervorgehoben. Besonders betont wird die „koloniale Schicht“ (strate coloniale), wobei Französisch-Algerien bis heute ein zentrales ideologisches Reservoir für Mythen über Identität und Rache bleibt. Jeanpierre schlussfolgert, dass die ER Persistenz, Geschmeidigkeit und Erfindungskraft beweist, indem sie ihre Mythen neu zusammensetzt und erfindet und dabei stark auf internationale Modelle und Unterstützungsnetzwerke angewiesen ist.
Die Présentation de la bibliographie „Une matière noire“ von Baptiste Roger-Lacan reflektiert die methodologischen Herausforderungen der Geschichtsschreibung der ER. Roger-Lacan weist auf die Schwierigkeit hin, die Grenze zur apologetischen Literatur von Aktivisten (Memoiren, programmatische Rechtfertigungen) zu ziehen, die lange die historische Arbeit überschattet hat. Er stellt fest, dass die Forschung die Konterrevolution und den Legitimismus historisch lange marginalisiert hat, obwohl diese als Quellen einer strukturierten alternativen Kritik an der Moderne unerlässlich sind. Schließlich beleuchtet Roger-Lacan die anhaltenden historiographischen Kontroversen, insbesondere die Debatte über die Existenz und die Rolle des französischen Faschismus und die Kontinuität zwischen Konterrevolution und Nationalismus. E betont die jüngere Tendenz zu vergleichenden und transnationalen Ansätzen, um die moderne Entwicklung des RN im Kontext europäischer Populismen zu analysieren.