Okzitanische Transgression: Alain Guiraudie

Alain Guiraudie, Ici commence la nuit, P.O.L., 2014.
Alain Guiraudie, Rabalaïre, P.O.L., 2021.
Alain Guiraudie, Pour les siècles des siècles, P.O.L., 2024.
Alain Guiraudie, Persona non grata, P.O.L., 2025.

Trobadors und Sade: Roman-flux der Entgrenzung

Alain Guiraudie (geb. 1964) hat sich zunächst international als herausragender Filmemacher etabliert, dessen Werk – darunter L’Inconnu du lac (2013), Rester vertical (2016) und Miséricorde (2024) – existenzielle Themen in den ländlichen Regionen Frankreichs verhandelt. Sein filmischer Kosmos, der Mobiltelefone und mittelalterliche Feudalherrschaft koexistieren lässt, bildete die ästhetische Matrix für sein literarisches Schaffen, das jedoch eine maximale Eskalation seiner formalen und thematischen Experimente erlaubt. Die Literatur dient ihm als Ventil für cineastische Frustrationen, da sie ihm eine totale Freiheit gewährt, ohne die Notwendigkeit, sich an Drehorte oder Schauspieler halten zu müssen. In seinen Romanen kultiviert Guiraudie ein Universum, das sich dem Schubladendenken verweigert und bewusst die Grenzen zwischen dem Realen, dem Fantastischen und dem Politischen überschreitet.

Miséricorde, Trailer, Alain Guiraudie, 2024.

Alain Guiraudies literarisches Schaffen wird am präzisesten durch das Konzept des Roman-Flux beschrieben. Es handelt sich um eine Erzählung, die ständig in Bewegung ist und keine festen Genre- oder Strukturidentitäten besitzt. Die Form ist die unmittelbare Widerspiegelung des unaufhaltsamen Flusses der Zeit und des Bewusstseins (man denke an Bergson), was den monumentalen Umfang von über tausend Seiten funktional erklärt.

Das gesamte narrative System wird durch den extrem subjektiven, ungefilterten Bewusstseinsstrom des Erzählers (Jacques in Rabalaïre) konstituiert. Dieser Strom ist chaotisch und assoziativ, was Guiraudie durch eine spezielle Schreibweise zu retranskribieren versucht. Der Erzähler beschreibt diese mentale Desorganisation offen: « c’est un peu le bordel dans mon tête ». Die Welt wird nur durch diesen subjektiven und chaotischen Filter wahrgenommen, wodurch die Unterscheidung zwischen Realität, Traum und Wahn verschwimmt. Die Logik, nach der Jacques lebt und denkt, ist die Logique du possible: Er zögert ständig und betrachtet alle Optionen und Richtungen gleichzeitig, was die Welt als eine Reihe offener, provisorischer Möglichkeiten erscheinen lässt.

Der Roman-Flux führt zu einer radikalen Überlagerung und Entgrenzung der Genres, die absichtlich die Kategorien von Krimi, Fantastik, Politik und Pornografie verwischt. Guiraudie lehnt die Hierarchie zwischen Hoch- und Populärkultur ab, indem er philosophische Abstraktionen mit expliziten Verweisen auf Comic-Klassiker wie Astérix oder Tintin vermischt. Diese Mischung destabilisiert literarische Erwartungen und zwingt den Leser, sich auf die emotionale und philosophische Mechanik des Textes einzulassen, anstatt nach konventionellen Mustern zu suchen.

Guiraudies Stil ist von einer starken Oralité (Mündlichkeit) geprägt, die darauf abzielt, den spontanen, ungefilterten Gedankengang des Erzählers direkt wiederzugeben. Er beschreibt seinen Schreibprozess als den bewussten Versuch, ein hämorrhagisches Gefühl beizubehalten, den flux de conscience, der kontinuierlich fließen soll. Diese Sprache ist absichtlich „inkorrekt“ und lehnt die uniformierte, akademische französische Literatursprache ab.

Ein wesentliches Element der sprachlichen Impurität ist die Verwendung von Okzitanisch (Occitan), die Sprache der ländlichen „Alten Welt“ (Vieux Monde). Guiraudie bindet Fragmente in Okzitanisch ein, oft ohne Übersetzung, um den Leser bewusst zu „verlieren“ und ihn mit einer anderen Sprache zu konfrontieren. Dies ist Ausdruck einer tiefen Nostalgie für die bäuerliche Kultur, die von seinen Eltern und Vorfahren gepflegt wurde. Zudem dient es als politische Geste einer okzitanischen „Revanche“ gegen die französische Sprache. Ein Beispiel für diese dialektische Verwendung von Okzitanisch und dessen emotionalen Wert findet sich in Ici commence la nuit: « Quand je lis un auteur en occitan, Mouly, par exemple, j’ai l’impression de partager plein de choses avec lui et avec d’autres et pour toujours. ». Diese Aussage unterstreicht, dass die Sprache Okzitanisch weit über die reine Kommunikation hinausgeht; sie dient als tiefes kulturelles und emotionales Band, das die Charaktere verbindet und dem Leser eine intime, geteilte Erfahrung des „Vieux Monde“ vermittelt.

Das Okzitanische wirkt bei Guiraudie als tief verwurzelte kulturelle Ressource und als politische Geste sprachlicher Subversion. Die Sprache selbst dient als bewusster Akt der Distinktion von der als uniformiert und akademisch empfundenen französischen Literatursprache. Guiraudie, der aus einer Bauernfamilie im Aveyron stammt, verfolgt das Ziel, zu einer populären Sprache (langue populaire) zurückzukehren und gegen die „gut geschriebene“ (bien torchée) und „bürgerliche“ Literatur anzuschreiben, die sich laut ihm einer enormen Uniformierung unterzieht. Die Verwendung des Okzitanischen, oft in Fragmenten ohne Übersetzung, ist Ausdruck dieser linguistischen Fluidität und der gewollten Oralité (Mündlichkeit), die den spontanen, ungefilterten Gedankenfluss des Erzählers retranskribiert. Durch die Einbettung okzitanischer Passagen, die den Leser bewusst „verlieren“ sollen, vollzieht Guiraudie eine „okzitanische Rache“ (revanche occitane) gegen die französische Sprache, die das Okzitanische historisch bekämpft hat.

Als Raum ist das Okzitanische untrennbar mit dem ländlichen Schauplatz (Aveyron, Causses, Gogueluz) verbunden, den Guiraudie den „Vieux Monde“ nennt und für den er tiefe Nostalgie empfindet. Diese kargen Landschaften, die seine Charaktere durchwandern, sind die Heimat jener Menschen und die Bühne des „Roman-Flux“. Figuren wie der 98-jährige Pépé in Ici commence la nuit sprechen diese Sprache, auch wenn sie zu jenen Generationen gehören, die in der Schule dafür bestraft wurden. Der Titel des Hauptwerks, Rabalaïre, ist selbst Okzitanisch und bezeichnet einen „Rabenvater, Herumtreiber“ oder jemanden, der gerne zu den Leuten geht. Die Wahl dieses Titels ist eine Verortung des nomadischen, unsteten Subjekts im okzitanischen Raum, das in den Romanen einen physischen Raum findet, in dem es existenzielle Fragen stellt und sexuelle Begegnungen sucht.

Das Okzitanische manifestiert sich als eine Lebensform und ein Programm des kulturellen Widerstands. Es repräsentiert die Bauernschaft (paysannerie), das Leben am Rande der Gesellschaft, und die Deklassierten (déclassés). Guiraudie artikuliert hierdurch ein dezidiert politisches Programm, das sich gegen die vom Markt auferlegten Schönheitsideale und die soziale Ausgrenzung richtet: Er will dieser vergessenen Humanität, den „Dicken, Alten, Bauern,“ die Sinnlichkeit und den Erotismus zurückgeben. Die Sprache dient als Marker für die „großartige Menschlichkeit“ (humanité sacrée) dieser Bevölkerung. Die Behauptung des Okzitanischen steht im direkten dialektischen Widerspruch zur Idee einer „Sprache der Toten“ (langue morte), die Guiraudie widerlegt, indem er argumentiert, dass die Sprache nicht verschwinden sollte, sondern „auf den Tod bekämpft“ wurde (combattu à mort). Die Figuren, die sich der okzitanischen Kultur zugehörig fühlen, suchen durch sie eine tiefere, nicht-urbane Art zu leben.

Als Imaginationswelt bietet das Okzitanische einen Transzendenzraum und ein tiefes kulturelles Band. Für den Erzähler in Ici commence la nuit bedeutet das Lesen okzitanischer Autoren, wie Mouly, ein Gefühl der ewigen Verbundenheit und des Teilens vieler Dinge mit anderen („partager plein de choses avec lui et avec d’autres et pour toujours“). Das Okzitanische ist nicht nur die Sprache der Bauern, sondern auch die der Troubadoure und der Liebe. Es verknüpft die realistische Darstellung der ländlichen Armut mit den fantastischen und mythischen Elementen des Werkes, wie der Legende des Elixiers Brigoule oder der Pilze Dourougnes. Diese mythologische Überlagerung wird durch die kulturelle Tiefe des okzitanischen Raumes ermöglicht, der die zeitliche und soziale Konvention aufhebt und das Unzeitgemäße feiert.

Auch existiert in Guiraudies literarischem Schaffen eine explizite Intertextualität und vor allem eine bewusste thematische Verortung, die auf die Troubadoure (Trobadors) verweist. Diese Verbindung ist untrennbar mit seiner Verwendung des Okzitanischen verbunden. Guiraudie erklärt, dass die Sprache nicht nur die Nostalgie für den ländlichen „Alten Welt“ (vieux monde) und die bäuerliche Kultur seiner Vorfahren vermittle, sondern „auch die der Troubadoure und der Liebe“ („celle des troubadours et de l’amour“) sei. Dies verleiht der Thematik des Begehrens und der Liebe in seinem Werk, selbst in ihren transgressivsten und nicht-normativen Ausprägungen (wie der Gérontophilie und dem sadistischen Impuls in Ici commence la nuit), eine metaphysische und poetische Tiefe. Obwohl Guiraudies Erzählungen sexuelle Gewalt und explizite Szenen beinhalten, sucht der Autor immer nach einer „großen Zartheit der Gefühle“ („grande délicatesse des sentiments“). Die Beschwörung der Troubadoure – mittelalterliche Dichter des okzitanischen Raumes, die die ritterliche und höfische Liebe („amour courtois“) besangen – dient als kultureller Ankerpunkt, der die zarte, oft unerfüllte Leidenschaft seiner Protagonisten in eine lange literarische Tradition einbettet, die über die bloße Trivialität des Gezeigten hinausgeht. Das Okzitanische fungiert somit nicht nur als linguistische „Rache“ gegen das akademische Französisch, sondern auch als Träger einer historisch tief verwurzelten „utopie tendre“ (zärtliche Utopie), in der das zirkulierende, entgrenzte Begehren (Désir-Flux) letztlich der Liebe verpflichtet ist.

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Zusammenhang von Trobadors und Sade fassen: Guiraudie aktualisiert die mittelalterliche Dichtung des Begehrens, die bei den Trobadors als kultivierte, oft unerfüllte und zugleich transzendierende Kraft erscheint, und verschränkt sie mit de Sades Erforschung der Körpergrenzen, der Ambivalenz von Lust und Grausamkeit und der radikalen Freiheit jenseits moralischer Kodifikationen. Die höfische fin’amor und die Sade’sche Entgrenzung bilden in seinem Werk zwei Pole eines einzigen, modernen Kontinuums: Das Begehren bleibt eine poetische, zugleich gefährliche Energie, die Welt- und Selbstverhältnisse auflöst, erneuert und neu imaginiert – ein Désir-Flux, das die Tradition der Liebe wie die Tradition der Transgression in der Gegenwart weiterschreibt.

Damit ist das Okzitanische bei Guiraudie ein essenzieller Baustein des Roman-Flux, da es die sprachliche Freiheit schafft, die Entgrenzung des Begehrens und die politische Utopie zu artikulieren. Es ist die Sprache der Nostalgie für eine schwindende Welt und die Basis für eine unreine, anarchische Schreibweise. Indem er Occitan benutzt, feiert Guiraudie die tief verwurzelte, nicht-akademische, körperliche und spirituelle Kultur, die jenseits der normativen Vorstellungen von Schönheit, Moral und Sprache liegt. Die Sprache des Okzitanischen verankert das literarische Projekt im Terroir, um es zugleich in eine universelle und zeitlose odyssée fantasmagorique zu erheben.

Werkübersicht

Guiraudies zentrales literarisches Schaffen konzentriert sich auf eine Trilogie, die bei den Editions P.O.L. erschienen ist: Ici commence la nuit (2014), Rabalaïre (2021) und die Fortsetzungen Pour les siècles des siècles (2024) und Persona non grata (2025).

Ici commence la nuit (2014): Dreieck der Transgression

Gewalt ist ein integraler und ungemilderter Bestandteil von Guiraudies Literatur. Die Verleihung des Prix Sade an Ici commence la nuit, seinen Erstling, unterstreicht die explizite Darstellung von Grausamkeit und sexuellem Schmerz als transgressive Stoßrichtung. Guiraudie verbindet Gewalt und Sex, weil sie beides Momente sind, die den Menschen in einen « redevenir animal » und in einen primitiven Zustand zurückführen können. Das Begehren ist oft mit der Idee des Todes (thanatophilie) verbunden, eine Spannung, die er im Katholizismus und seinen Ritualen (wie der anthropophagen Eucharistie) stark verwurzelt sieht.

Die Handlung dreht sich um Gilles, einen Mann mittleren Alters, der ein tiefes, unbestimmtes Begehren für Maurice, genannt Pépé, hegt, einen 98-jährigen Mann. Die Beziehung zwischen Gilles und Pépé ist zunächst platonisch und zärtlich, wird jedoch durch Gilles’ fetischistische Neigung verkompliziert, Pépés gebrauchte Unterhosen zu stehlen und sich darin zu masturbieren. Die Tochter von Pépé, Mariette, alarmiert die Polizei. Die folgende polizeiliche Untersuchung, geführt vom brutalen Brigadier Louis, entgleist schnell in eine sadistische Tortur, bei der Louis seine Schlagwaffe gegen Gilles einsetzt. Aus dieser extremen Gewalt erwächst paradoxerweise eine leidenschaftliche und körperliche Affäre zwischen dem Folterer Louis und Gilles. Das Werk untersucht die Dialektik von zarten Gefühlen und exzessiver Sexualität (sang, sexe et sperme, als sadistische Trinität bezeichnet) und verwebt sie mit Dialogen in Occitan, der Sprache des Alten Landes.

Rabalaïre (2021): tausendseitiges Manifest des Flusses

Der monumentale Roman Rabalaïre (2021), ein „Buch-Monster“ (livre-monstre) von 1040 Seiten, ist Alain Guiraudies zentrales literarisches Werk und das Manifest des von ihm kreierten „Roman-Flux“. Sein Titel ist wie angedeutet dem Okzitanischen entlehnt und bezeichnet einen „rabalaïre“ – einen Wanderer, Herumtreiber oder jemanden, der gerne zu den Leuten geht („un mec qui va à droite, à gauche, un homme qui aime bien aller chez les gens“). Die Hauptfigur und der ausschließliche Erzähler dieser „großen Odyssee“ ist Jacques Bangor, ein homosexueller Fünfziger, der gerade arbeitslos geworden ist. Getrieben von existentiellen Zweifeln („roman du doute“), dem délire (Wahn) und der Angst, die Lust an den Menschen zu verlieren, nutzt Jacques das Fahrrad und das Auto für seine ausgedehnten, ziellosen Wanderungen („errance“) durch karge Landschaften in Südfrankreich, insbesondere zwischen seiner Heimat im Aveyron und Clermont-Ferrand. Die Erzählung ist vollständig in seinem ungefilterten, chaotischen courant de conscience zentriert, der von der philosophischen Idee des Monde-flux (Welt-Fluss) durchdrungen ist, in dem alles ständig fließt, sich verflüssigt und Metamorphosen unterliegt.

Jacques‘ Reisen führen ihn in ein fantasievolles „Bermudadreieck“ des Aveyron, wo er in immer fantastischere Situationen gerät, die die Grenzen zwischen Kriminalroman, Fantastik, Pornografie und Politik radikal überschreiten. Ein zentraler Ort dieser épopée truculente ist der Col de l’Homme mort. Hier begegnet er dem alten Hirten Enric, der Teil eines Netzwerks von Brigoule-Destillateuren ist. Brigoule ist ein geheimnisvolles, starkes Elixier (gnôle) mit aphrodisierenden, leistungssteigernden und bewusstseinserweiternden Kräften, das aus den seltenen Dourougnes (Pilzen/Knollen) hergestellt wird. Diese Dourougnes werden mythologisch durch das Sperma der Charaktere, die im Wald masturbieren, genährt. Jacques selbst gerät durch seine Beziehung zu Rosine, der Barbesitzerin und Witwe des kürzlich verstorbenen Raymond, in das Zentrum eines Verbrechens. Er gerät in immer gewalttätigere Auseinandersetzungen mit Rosines eifersüchtigem Sohn Eric Fabre, bis Jacques schließlich die Oberhand gewinnt und Eric tötet. Er begräbt die Leiche, doch die polizeilichen Ermittlungen unter dem sadistischen Adjudant Grégory ziehen den Erzähler tief in die Paranoia und in ein Netz aus Lügen und Alibis.

Trotz der Kriminalität und der paranoïa chronique ist die Erzählung ein „Gesang der Liebe“ („chant d’amour“) und des Begehrens, das Guiraudie als eine unendliche, verbindende Kraft („puissance connective infinie“) versteht. Jacques‘ Désir-Flux ist polymorph, pervers und polysexuell, da er mit Männern und Frauen, Prostituierten (wie Lydia oder Ysaline), alten Menschen („seniors de 105 ans“) und dem schamanenartigen Priester Jean-Marie Berthomieu sexuelle und platonische Kontakte pflegt. Die Begegnung mit dem curé ist besonders prägend. Der Priester, der mit Witwen schläft und Jacques zu halluzinatorischen Reisen in das „Königreich der Toten“ führt, verbindet Guiraudies Themen von Erotik, Tod, Religion und dem fantastischen. Am Ende des Romans, als der polizeiliche Ring sich um Jacques zuzieht, finden Jacques‘ Geist und Jean-Maries Körper, angetrieben durch das désir de fusion und die Einnahme von Brigoule, in einer metaphysischen Vereinigung zueinander. Rabalaïre ist somit nicht nur ein polarisierender page-turner und eine ‚trukulente‘ Feier der ländlichen, vergessenen Bevölkerung Frankreichs – in einer Mischung aus Kampflust, Ungestümheit und derb-selbstbewusster Präsenz -, sondern auch ein philosophisches Werk, das die Fragen nach dem Sinn der Existenz („l’éternité et le néant“) und der Utopie mit roher, oraler Sprache und exzessivem Humor vermischt.

Pour les siècles des siècles (2024): Metaphysik der Fusion

Der Roman Pour les siècles des siècles (2024), der direkt auf das monumentale Werk Rabalaïre (2021) folgt und dessen Kontinuität absolut voraussetzt, markiert eine Steigerung des literarischen Projekts zur metaphysischen und theologischen Abstraktion. Die Handlung beginnt unmittelbar dort, wo der Vorgänger endete: Jacques Bangor, der „Rabalaïre“ und Mörder des jungen Eric Fabre, und der Priester Jean-Marie Berthomieu haben durch eine Kombination aus intensivem Liebeswunsch, spiritueller Extase und der Einnahme des halluzinogenen Elixiers Brigoule (destilliert aus der seltenen dourougne) fusioniert. Der Geist von Jacques ist nach seinem offensichtlichen körperlichen Tod (vermutlich durch Infarkt) dauerhaft in den Körper und das Bewusstsein des Priesters übergegangen. Diese Fusion stellt die ultimative Fluchtmöglichkeit für Jacques dar, da sich der Untersuchungsdruck der Gendarmerie um ihn zugespitzt hatte. Guiraudie formuliert mit diesem Ausgangspunkt eine tiefgreifende philosophische und existenzielle Frage, die auf dem Klappentext explizit als Leitmotiv dient: «Je me dis que c’est super, je suis dans le corps de celui que j’aime. Mais est-ce qu’on peut vraiment aimer de l’intérieur ?».

Das Kernstück des Romans bildet die innere Dynamik dieses neuartigen, kollektiven Subjekts, das sich mit Pronomen wie „wir“ („nous“) und „man“ („on“) beschreibt. Guiraudie nutzt die theologische Prämisse der Koexistenz als Vehikel für eine „utopie tendre et déjantée“, in der die fusionierten Geister versuchen, „amour et compassion“ (Liebe und Mitgefühl) in ihrer Umgebung zu verbreiten. Diese metaphysische Vereinigung wird als „eine Art Tod rückwärts“ („une mort à l’envers“) für Jacques beschrieben, da er einen neuen Körper apprivoisiert (zahm macht). Die Verschmelzung führt jedoch unweigerlich zu „Querelen“ und inneren „Tiraillements“ (Zerrissenheiten), insbesondere hinsichtlich der Nutzung des nun gemeinsamen Körpers und dessen Sexualität. Die Fusion wird als ein Akt der Empathie und als existenzielle Reformulierung christlicher Gebote interpretiert: „Ceci est mon corps“ wandelt sich zu „Ceci est notre corps“. Jacques erfährt durch den Priester einen Zugang zum Glauben und zur geistigen Existenz, während er im Gegenzug Jean-Maries (zuvor keusche) Sexualität und sein Begehren weckt. Die Fusion beendet die vertikale Hierarchie zugunsten einer Horizontalität, in der die sexuelle Macht dieser ’siamesischen‘ Helden in ihrer Umgebung ein zügelloses („débridé“) Begehren und einen fortwährenden Dialog zwischen den Körpern entfacht.

Parallel zu dieser metaphysischen Entwicklung vertieft sich der Roman in seine Elemente des Roman noir und der sozialen Satire. Die polizeilichen Ermittlungen zum Mord an Eric Fabre, dessen Leiche Jacques und Jean-Marie zwischenzeitlich umgebettet hatten, setzen das „zwei Charaktere in einem“ unter ständigen Druck. Der fusionierte Priester, der nun „wir“ sagt und zu sexuellen Handlungen mit Parochianen neigt, wird wegen seiner transgressiven Praktiken – etwa das Schlafen mit Pfarrkindern auf Wunsch der Eltern und seine „bizarreren priesterlichen Praktiken“ – beim Bischof denunziert. Die gesteigerte mentale Instabilität des gesamten narrativen und mentalen Gerüsts zeigt sich im Vertigo-Effekt der Erzählung, die sich „tel une vis sans fin“ (wie eine endlose Schraube) windet. Der Konflikt kulminiert in einem gefährlichen Exorzismus, den der Priester akzeptiert, um sein Priestertum zu retten. Während des Exorzismus (bei dem Guiraudie exakte liturgische Szenen mit blasphemischen Kommentaren durch Jacques vermischt) erkennt Jacques, dass er sich vollständig in Jean-Marie auflösen muss, um nicht aus dem Körper „bannisé“ und damit ausgelöscht zu werden. Er gibt sein eigenes Bewusstsein auf, um ganz der „curé de Gogueluz“ zu werden, ein Akt der totalen Fusion, der mit einem Blut- und Samenerguss verbunden ist. Pour les siècles des siècles bekräftigt so die literarische Freiheit Guiraudies, alle Genres, von der „fable politique féroce“ bis zum „roman liturgique et d’amour mystique“, in einem einzigen, unbegrenzten Fluss zu verschmelzen.

Persona non grata (2025): klerikaler Ausschluss

Persona non grata (Unerwünschte Person, 2025) ist die direkte Fortsetzung und vierte Säule der literarischen Saga Alain Guiraudies, die mit Ici commence la nuit begann und über den tausendseitigen Rabalaïre sowie Pour les siècles des siècles eskalierte. Es setzt das zentrale metaphysische Experiment des Vorgängerromans Pour les siècles des siècles unmittelbar fort. Im Zentrum der Handlung steht der fusionierte Charakter, der sich aus dem Geist des „Rabalaïre“ Jacques Bangor und dem Körper und Geist des Priesters Jean-Marie Berthomieu zusammensetzt. Die Frage, die der Klappentext des Vorgängerbandes aufwarf – „Je me dis que c’est super, je suis dans le corps de celui que j’aime. Mais est-ce qu’on peut vraiment aimer de l’intérieur ?“ – wird nun in die Realität der Exkommunikation und Verfolgung überführt.

Die Handlung dreht sich um den „curé répudié“ (den verstoßenen Priester). Die Fusion von Jacques und Jean-Marie, angetrieben von Liebe, Lust und der Einnahme des halluzinogenen Elixiers Brigoule, hat die kirchlichen und weltlichen Autoritäten auf den Plan gerufen. Der Priester wurde seines Amtes enthoben („perdu mon sacerdoce“) und muss feststellen, dass ihm sämtliche priesterlichen Gewänder und Gegenstände entzogen wurden. Guiraudie nutzt die physische Entfernung dieser Sakralien – selbst das wertvolle Altarmessbuch ist verschwunden – um die Realität des Ausschlusses zu verdeutlichen, was den fusionierten Geist zu der Erkenntnis führt, dass der Spruch „L’habit ne fait pas le moine“ (Kleider machen Leute) in diesem Fall „aussi faux“ erscheint. Die Identität ist nicht nur im Fluss, sondern wird aktiv aus ihren traditionellen Verankerungen gerissen.

Gleichzeitig muss sich der fusionierte Geist mit den Folgen des Verbrechens auseinandersetzen, da Jacques Bangor der Mörder von Eric Fabre ist, dem Sohn seiner Geliebten Rosine. Der unerbittliche Adjudant Grégory, der Jacques bereits im ersten Roman gefoltert hatte, setzt die Ermittlungen fort. Er veranlasst den Priester/Jacques, das verweste und in einem Grab versteckte Opfer zu inspizieren. Die Ermittlung konzentriert sich nun auf die Komplizenschaft bei der Leichenbeseitigung und der „violation de sépulture“ (Grabschändung), wobei der Adjudant Grégory den Priester direkt der Beihilfe zum Mord verdächtigt.

Der in Persona non grata thematisierte „fusionierte Geist“ bezeichnet den metaphysischen Zustand der Koexistenz, in dem die Gedanken und das Bewusstsein des Protagonisten Jacques Bangor (des „Rabalaïre“ und Mörders) dauerhaft in den Körper und Geist des Priesters Jean-Marie Berthomieu (des Curé de Gogueluz) übergegangen sind. Diese Fusion ist die direkte Folge einer intensiven Liebesbeziehung und des „Wunsches nach Fusion“ („désir de fusion“), die durch die Einnahme des halluzinogenen Elixiers ausgelöst wurde. Die Verschmelzung fand am Ende von Rabalaïre statt und diente Jacques auch als einzige Fluchtmöglichkeit („seule échappatoire“), da sich der polizeiliche Ermittlungsdruck um ihn zuspitzte. Die Fortsetzung, Persona non grata, verfolgt die „Abenteuer dieser zwei Charaktere in einem“ („deux personnages en un seul“), die nun einen „Körper, der zwei beherbergt“ („corps qui en abrite deux“) teilen.

In Persona non grata wird dieser Zustand, der bereits in Pour les siècles des siècles zur inneren Zerrissenheit („tiraillements“) führte, bis zur Totalität eskaliert. Aufgrund unkonventioneller Praktiken und des Verdachts, von einem „anderen Geist“ („autre esprit“) besessen zu sein, wird der Priester von kirchlichen Autoritäten zum Exorzismus gezwungen. Als Jacques spürt, dass sein Geist aus dem Körper des Priesters ausgetrieben („extirpé“) werden könnte, um dort zu bleiben und weiterhin zu existieren, muss er den Widerstand aufgeben und sich vollständig in Jean-Marie Berthomieu verschmelzen („se fondre“). Die Fusion wird damit „total“. Diese metaphysische Einheit, in der die Subjekte innerlich miteinander streiten, insbesondere über die Nutzung des „gemeinsam gewordenen Körpers und Geschlechts“ („corps et de leur sexe devenu commun“), führt beim Priester zur Erkenntnis, dass, da Jacques nun seinen Körper und sein Herz bewohnt, „nicht mehr wirklich Platz für Gott“ („plus vraiment de place pour Dieu“) ist, was den priesterlichen Pakt bricht und die Identität des Priesters grundlegend verändert.

Die Poetik des Roman-Flux erlebt in Persona non grata eine weitere Steigerung der Ambiguität und Paranoia. Der Titel selbst verweist auf die Thematik der totalen sozialen Ächtung und Ausgrenzung, ein Motiv, das Guiraudie auch in seinen Filmen wie L’Inconnu du lac verhandelte. Der Priester ist persona non grata sowohl in seinem Dorf Gogueluz als auch bei der Kirche. Die Erzählung ist von einer tiefen „paranoïa bangorienne“ durchdrungen, die den fusionierten Charakter dazu bringt, jede Begegnung und jedes Detail als potenzielle Falle zu interpretieren.

Diese Paranoia wird durch neue, explizit politische und fantastische Verschwörungselemente genährt:

Religiös-politische Gegnerschaft: Der Priester wird vor einer „Sainte Ligue“ (Heiligen Liga) gewarnt, die als extreme Abspaltung des Opus Dei beschrieben wird. Ziel dieser Gruppe, zu der möglicherweise Leute wie Anton und Adadza Horvag gehören, sei es, den liberalen Priester zum Exempel zu machen, da er durch seine offene Sexualität und seinen freien Umgang mit den Kirchengeboten die „décadence“ fördere. Die Verschwörung agiert unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den radikalen Islamismus.

Ökoterrorismus und Gesellschaftskritik: Die Nachrichten, die der Priester überhört, beschreiben eine Welt im sozialen und ökologischen Chaos. Es wird von „écoterrorisme“ gesprochen, einem blockierten Flughafen, einem Raketenangriff auf einen Privatjet und Plünderungen von Supermärkten, was die tief sitzende Gesellschaftskritik Guiraudies unterstreicht. Die Charaktere (Jacques/Jean-Marie) stellen die großen moralischen Fragen der Zeit, etwa ob die Menschheit sich selbst opfern sollte, um das Überleben der Spezies zu sichern, oder ob christliche (chrétiens) und kommunistische (communiste) Prinzipien sich in der Demokratisierung des Begehrens treffen.

Die Dialektik des Begehrens (Désir-Flux): Trotz Exkommunikation und Verfolgung bleibt das „Désir-Flux“ die bestimmende Kraft. Inmitten des Chaos muss der fusionierte Protagonist seiner Liebe zu Isabelle Bonal Ausdruck verleihen, auch wenn dieser „bel aveu“ (dieses schöne Geständnis) wahrscheinlich seinen endgültigen Ausschluss aus der Region besiegelt. Die Liebe wird nicht als befriedigende Erfüllung, sondern als Akt des Mutes und der totalen Hingabe dargestellt, der die Vernunft herausfordert.

In Persona non grata erreicht die Suche nach Liebe und Gemeinschaft ihren radikalsten transzendentalen Ausdruck. Die Fusion von Jacques und Jean-Marie im selben Körper ist der Versuch, das Begehren zu verewigen und „amour et compassion“ (Liebe und Mitgefühl) zu verbreiten. Diese Fusion wird jedoch durch innere Querelen und durch die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Körper für sexuelle und geistige Bedürfnisse zu managen, auf die Probe gestellt.

Der Roman ist ein fortlaufender Akt des „délire“ (Wahn), der religiöse Rituale (wie den Exorzismus, der versucht, Jacques und Jean-Marie zu trennen) mit profanen Handlungen und expliziter Sexualität vermischt. Guiraudie verwendet die Flüssigkeitsmetaphorik (Sperma, Wein, Elixier), die bereits in Rabalaïre etabliert wurde, um die Porosität von Körpergrenzen und Identität zu zelebrieren.

So ist das jüngste Werk das literarische Zeugnis der Unmöglichkeit der Existenz des freien, polymorphen Subjekts innerhalb einer konventionellen Gesellschaft. Der Protagonist wird zur „persona non grata“ erklärt, weil seine gelebte, fusionierte Liebe und sein entgrenztes Begehren die starren Kategorien von Kirche, Gesetz und sozialer Norm atomisieren. Guiraudie zwingt seine Leser dazu, die Grenzen von Genre, Realität und Moral zu hinterfragen und die politischen Implikationen der sexuellen Freiheit bis zum Äußersten zu verfolgen, in einem Erzählfluss, der nicht endet, sondern in ständiger Bewegung bleibt.

Thematische Konstellationen: Sexualität, Gewalt und Identität

Das zentrale Thema in Guiraudies Werk ist das Begehren (désir), das er als offen homosexueller Autor explizit in seine Fiktion integriert. Das Begehren ist im philosophischen Sinne Deleuzianisch konzipiert: nicht als Mangel, sondern als unendliche, produktive und verbindende Kraft (puissance connective infinie). Dieses Désir-Flux ignoriert binäre und soziale Hierarchien. Es ist „polymorph, pervers und polymorph“.

Die Sexualität in den Romanen ist radikal entgrenzt und nicht-normativ: Gilles in Ici commence la nuit begehrt den 98-jährigen Pépé (Gerontophilie), und Jacques in Rabalaïre sucht sexuelle Begegnungen mit verschiedenen Altersgruppen, Geschlechtern und sozialen Schichten (Prostituierte, Priester, Landwirte, junge Männer). Guiraudie betrachtet dies als ein ästhetisches und politisches Programm: « Les gros, les vieux, les paysans n’ont pas droit à la sensualité, à la sexualité, à l’érotisme. ». Er will dieser ignorierten Humanität die Sinnlichkeit zurückgeben und gegen die vom Markt auferlegten Schönheitsideale kämpfen.

Fließende Identität und der ländliche Schauplatz

Die Metaphorik der Flüssigkeiten (Sperma, cyprine, Elixiere) ist fundamental für die Darstellung des Flux. Diese Körpersubstanzen sind Katalysatoren der Metamorphose und betonen die Porosität der Körpergrenzen. Das fantastische Motiv der Dourougnes (Pilze), die durch Sperma im Wald genährt werden und übermenschliche Stärke verleihen, ist die ultimative materialistische Metapher: Das polymorphe Begehren wird zur Quelle mystischer, körperlicher Übermacht. Die Transzendenz wird somit nicht metaphysisch, sondern direkt über die physische, sexuelle Ebene erreicht.

In Guiraudies Romanen sind Identitäten ephemer und austauschbar. Die Charaktere (Mörder, Liebhaber, Priester, Terrorist) sind alle „ein wenig verloren“ (un peu paumés) und ständig in Bewegung. Die Fusion von Jacques und dem Priester Jean-Marie in Pour les siècles des siècles ist die ultimative Manifestation dieses Identitätsflusses: « Je me dis que c’est super, je suis dans le corps de celui que j’aime. Mais est-ce qu’on peut vraiment aimer de l’intérieur ? ». Diese Frage, die auf dem Klappentext von Pour les siècles des siècles steht, bringt die metaphysische Herausforderung der Koexistenz im selben Körper auf den Punkt.

Der ländliche Raum (Aveyron, Causses, Clermont-Ferrand) dient als dialektischer Schauplatz. Einerseits ist er ein utopischer Rückzugsort für spontane Begegnungen und philosophische Auseinandersetzungen, andererseits die düstere Kulisse für fantastische und kriminelle Elemente (lasso-schwingende Söldner, Chabrol-artige Thriller-Elemente). Guiraudie empfindet eine Nostalgie für diesen « Vieux Monde en train de disparaître ».

Liebe, Utopie, Flüssigkeit

Die Liebe in Guiraudies Fiktion ist untrennbar mit dem Wunsch verbunden, das Begehren zu verewigen – « Je cours toujours après cette idée du désir qui dure ». Oft manifestiert sich dieses Ideal in der Unmöglichkeit der Erfüllung, wie in Ici commence la nuit, wo Gilles‘ zarte Zuneigung zu Pépé als platonische, zärtliche Passion beschrieben wird.

Im späten Werk wird die Liebe zum utopischen politischen Programm. Der Priester in Miséricorde predigt universelle Liebe (« Nous avons tellement besoin d’amour »), auch wenn diese mit heidnischem, polymorphem Verlangen verwechselt wird. Die Fusion von Jacques und Jean-Marie in Pour les siècles des siècles ist ein metaphysischer Akt, um « amour et compassion » in einer neuen Form der Existenz zu verbreiten. Es ist eine „utopie tendre et déjantée“, die in der Fiction die Möglichkeit einer anderen Welt feiert, frei von Hass und Konventionen.

Enden des Flusses

Leser von Guiraudies Romanen sollten sich auf ein anstrengendes, aber zutiefst lohnendes Erlebnis einstellen. Sein Schreiben fordert heraus, da er bewusst literarische Konventionen unterläuft und auf einen „Soliloque intérieur jouisseur et inquiet“ setzt. Die Lektüre ist ein « Tourmalet de la lecture » – ein gewaltiges Unterfangen, das aber zugleich fesselnd (page-turner) und erregend ist.

Was die Bücher besonders interessant macht, ist die einzigartige Synthese von philosophischem Tiefgang (Héraclitus, Deleuze) mit populärkulturellen und ländlichen Elementen; die radikale Freiheit des Stils, mit der Erfahrung, in den ungebremsten, „hämorrhagischen“ Fluss des Bewusstseins eines Charakters einzutauchen; die politische Dimension des Begehrens, konkret die literarische Feier der Sexualität von Menschen, die in der Gesellschaft oft als unerotisch gelten (Alte, Arbeiter, Dicke), als Akt der politischen Resistenz; schließlich die unauflösbare Ambiguität: Der Leser muss akzeptieren, dass die Ereignisse möglicherweise nur ein délire (Wahn) des Erzählers sind, was zu einem anhaltenden Gefühl der Verwirrung und des fantastischen Eintauchens führt.

Guiraudies Romane vermeiden traditionelle, definitive Schlüsse, da sie dem Prinzip des endlosen Flusses verpflichtet sind. Statt einer Auflösung bieten sie einen Zustand des Übergangs oder der Reflexion.

Ici commence la nuit schließt mit der Feststellung, dass die Suche nach der Liebe und deren Unmöglichkeit ein ewiger Kreislauf ist: « C’est toujours pareil. J’ai toujours besoin d’un troisième et je me demande quand est-ce que tout ça finira ». Dieser Abschluss, der die Sehnsucht nach einem Dritten (Beziehungsunfähigkeit oder unerfüllter Wunsch nach Gemeinschaft) thematisiert, ist desillusionierend, aber poetisch. Er zementiert die Unmöglichkeit, die liberté sensuelle in ein dauerhaftes Glück zu überführen.

Das Ende von Rabalaïre mündet in die Erkenntnis des Erzählers Jacques, dass selbst für die utopische Flucht in eine Liebesblase der Bezug zur Außenwelt und zu den Anderen notwendig ist: « Pour penser ensemble, pour avoir des sensations ensemble, il faut bien un monde autour, peut-être même un monde à affronter. ». Diese Entdeckung wird vom Autor selbst als der Punkt gesehen, an dem die Geschichte erst wirklich interessant wird, weil sie eine mögliche Versöhnung mit dem „Zusammenleben“ ermöglicht, anstatt in reinem Individualismus zu verharren.

Der Abschluss von Pour les siècles des siècles und der Übergang zu Persona non grata (2025) ist der radikalste: Die geistige Fusion von Jacques und dem Priester ist ein Zustand, der trotz eines Exorzismusversuchs andauert. Das Buch endet mit einer Apotheose der Ambiguität, einer fortdauernden, übermäßigen Existenz, die die utopische Liebe in die Realität der physischen und politischen Welt hineinträgt. Das Ende ist kein Schlussstrich, sondern ein Sprungbrett in die nächste narrative und existenzielle Dimension, in der die Grenzen des Selbst und der Moral aufgehoben bleiben.

Persona non grata radikalisiert die mangelnde Auflösung, indem es die Konsequenzen der Fusion auf die soziale und institutionelle Ebene überträgt: Der fusionierte Priester wird als „curé répudié“ (verstoßener Pfarrer) und Persona non grata aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgestoßen. Der Abschluss von des Buchs ist somit kein Ende, sondern die endgültige Verfestigung der Verfolgung und Marginalisierung des utopischen, aber kriminellen Subjekts durch Staat und Kirche, wodurch die Geschichte als noir und politisch auf die Fortsetzung der „épopée truculente“ ausgerichtet bleibt, in der das Begehren gegen alle gesellschaftlichen Widerstände zirkuliert.

Alain Guiraudies literarisches Werk ist eine radikale Neudefinition des Romans, die den inneren Monolog und den Bewusstseinsstrom als Vehikel für eine anarchische Utopie nutzt. Durch die Erschaffung des Roman-Flux gelingt ihm eine einzigartige Synthese aus philosophischer Tiefe, expliziter, polymorpher Sexualität und sozialer Kritik. Sein Schreiben ist ein Akt der Freiheit, der sich jeglicher Zensur oder Konvention verweigert. Identität ist fließend, Moral ist dialektisch, und die Realität ist ständig am Rande des Wahns angesiedelt. Das Begehren – der Motor seiner Fiktion – ist eine kosmische, verbindende Kraft, die in ländlichen Schauplätzen die Tabus von Alter, Klasse und Geschlecht sprengt. Letztlich ist Guiraudies Literatur der Versuch, durch das unaufhaltsame Fließen des Erzählens eine Realität zu erfinden, in der die Liebe, selbst in ihrer exzessivsten und fantastischsten Form, als politisches Ideal triumphiert.


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