Inhalt
- Anfänge: die Geburt des Schreibens aus Gewalt und Abwesenheit
- Schreiben ist Handeln: die Materialität der Sprache
- Erster Roman: der Sprung ins Leere
- Persönliche Geografie: das Haus als universeller Anker
- Bei der Arbeit: die Ethik der Ignoranz und die Jagd nach dem Realen
- Die Ordnung des Schreibens: Wiedererfinden der Form
- Ein Satz: die Choreografie der Gleichzeitigkeit
- Die Sprache formen: Rhythmus und Zeichensetzung
- Figuren: die Singularität der Überlebenden
- Schreiben und Veröffentlichen: die Metaphysik des Durchquerens
- (Nicht) wie die Eltern werden
« Quand la couleur est à sa valeur, la forme est à sa plénitude. » (Paul Cézanne) 1
„Wenn die Farbe ihren Wert hat, ist die Form in ihrer Fülle.“
Das vorliegende Buch Quelque chose d’absent qui me tourmente: entretiens avec Pascaline David (Minuit, 2025) ist das Ergebnis ausführlicher Gespräche Laurent Mauvigniers mit der Journalistin Pascaline David und bietet eine differenzierte Innensicht des Schaffens eines der bedeutenden zeitgenössischen französischen Romanciers. Die Herausgeberin David, die den Band nach einer ersten Veröffentlichung im Jahr 2020 für die vorliegende Edition von 2025 vollständig überarbeitet hat, verfolgt das Ziel, Mauvignier als einen Autor zu präsentieren, der „den Grund seiner Gedanken nicht zurückhält“ und „nichts von seiner inneren Küche verbirgt“. Über einen Zeitraum von 21 Jahren Publikationstätigkeit hinweg untersucht das Interviewprojekt die Dynamik des literarischen Schaffens Mauvigniers, indem es eine untrennbare Verbindung zwischen seinem Leben und seiner schriftstellerischen Praxis hervorhebt. Die Struktur des Buches folgt einer chronologischen und thematischen Achse, von den Anfängen bis hin zur Reflexion über Veröffentlichung und literarische Einflussnahme, wobei stets die persönlichen Erfahrungen als Nährboden für die Texte dienen.
Mauvigniers Gesamtvorhaben, wie es sich in diesen Dialogen manifestiert, ist nicht so sehr eine retrospektive Zusammenfassung seines Oeuvres, eher ein Weitersuchen nach der Wahrheit und dem authentischen sprachlichen Akt. Der Autor insistiert darauf, dass Schreiben nicht primär „etwas zu sagen“ haben muss, sondern „etwas zu tun“. Dieses Handeln wird zur Methode, um die Leere und die Falschheit der konventionellen Sprache zu entlarven, die er seit seiner Kindheit, insbesondere in Situationen wie dem Krankenhausaufenthalt, erfahren hat. Das Buch rekonstruiert Mauvigniers literarischen Sprung, den er als „intime, innere Entscheidung“ bezeichnet, die den normativen Sprachgebrauch hinter sich lässt. Zentral ist dabei die Überzeugung, dass Literatur – ähnlich der klassischen Prophetenrolle, die etwa Marguerite Duras einst für ihn verkörperte – die Aufgabe hat, die Wahrheit zu suchen, die Kompromittierung in der Sprache aufzudecken und durch die künstlerische Form eine äquivalente Realität zur erlebten Erfahrung zu schaffen. Mauvignier sucht die gereinigte Form seines Wortes, um durch eine Ästhetik der Verdichtung und Präzision die „richtige Schwingung des Motivs“ zu finden, was seinen Prozess als einen radikalen, selbstbestimmten Akt der literarischen Formgebung ausweist.
Anfänge: die Geburt des Schreibens aus Gewalt und Abwesenheit
Mauvigniers literarische Ursprünge sind durch gewaltvolle Erfahrungen der Entwurzelung und des Mangels geprägt: Das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie in der Touraine, ohne Bücher im Haus, markiert eine Ausgangssituation, die ihm keinerlei literarische Prädestination gab. Die formativen Erlebnisse waren stattdessen die Erfahrung der Isolation im Krankenhaus im Alter von neun Jahren, wo er sich angesichts seiner potentiell lebensbedrohlichen Erkrankung und der schroffen Umgangsformen der Erwachsenen „aus der Welt herausgerissen“ fühlte. Das Schreiben, das dort mit einem geschenkten Roman von Comtesse de Ségur und einem Notizbuch begann, bot ihm eine „große Kraft“ der Befreiung und die „Schlüssel zu einer Freiheit“, die ihm das Gefühl gab, sich selbst zu gehören. Dieses anfängliche Schreiben, etwa in Form einer idyllischen Fortsetzung des Romans in Kontrast zu seiner realen, gewalttätigen Erfahrung, ist demnach unmittelbar als Strategie der Selbstermächtigung und des Überlebens zu interpretieren.
Die weitere Entwicklung wird durch zwei zentrale Aspekte bestimmt. Einerseits die Erfahrung der „Schizophrenie“ der elterlichen Forderung, durch Bildung dem eigenen Milieu zu entkommen, was Mauvignier lange Zeit dazu verleitete, gegen seine Herkunft anzuschreiben, bis er in Loin d’eux die Notwendigkeit der Rückkehr erkannte. Andererseits die visionäre Begegnung mit Marguerite Duras im Fernsehen, deren Wort über die Nabis (Propheten) ihm die Idee eines „wahren Wortes“ vermittelte, das unermüdlich die Kompromittierung in der Sprache aufdeckt. Diese Wahrheitssuche war eine direkte Reaktion auf die leeren, verlogenen oder jargonisierten Worte der Erwachsenen, die er im Krankenhaus als entwürdigend erlebte. Das Schreiben ist für ihn somit von Anfang an mit einer ethischen Haltung der Entlarvung verbunden. Diese Anfänge finden ein jähes Ende, als der Suizid seines Vaters im Alter von sechzehn Jahren die Grenzen der Literatur auf schmerzhafte Weise demonstriert: Angesichts der „Mächtigkeit einer solchen Verwüstung“ erschien der Versuch zu schreiben „lächerlich, pathetisch“, was zu einer mehrjährigen Schaffenspause führte. Dies etabliert Mauvigniers späteres Schaffen als den Versuch, die durch dieses Trauma freigelegte existentielle Tiefe literarisch zu fassen, ohne in Klage oder Sentimentalität zu verfallen.
Schreiben ist Handeln: die Materialität der Sprache
Die Jahre an der École des Beaux-Arts in Tours markieren eine entscheidende Wiederbelebung seines Schreibwunsches, indem sie ihm neue, vor allem materialästhetische Perspektiven eröffneten. Die Begegnung mit Avantgarde-Künstlern wie Valère Novarina, dessen sprachliche Performance Mauvignier als „K.O. stehend“ beschrieb, führte zur Entdeckung der Sprache als „Material“, das geformt, modelliert und skulptiert werden kann, anstatt nur Sinn zu produzieren. Die zentrale Erkenntnis dieser Phase ist die Verlagerung des Fokus vom Sagen zum Tun: „Il ne faut pas avoir quelque chose à dire, il faut avoir quelque chose à faire“. Diese radikale Hinwendung zum Akt des Machens befreite die Fiktion von der Last der Ideen und Subjekte, da das, was gesagt werden muss, sich ohnehin im Prozess des Tuns offenbaren wird.
Obwohl die damalige Avantgarde traditionelle Fiktion, Charaktere und Psychologie ablehnte, nutzte Mauvignier die experimentellen Techniken – etwa das Bearbeiten und Zerstören alter Manuskripte durch Collage und cut-up – um die Fiktion, die für ihn ein „ultimatives Tabu“ blieb, neu zu denken. Für die endgültige Rückkehr zum Roman war die simultane Entdeckung von François Bon und Thomas Bernhard entscheidend. Bon legitimierte Mauvigniers Herkunftsmilieu als Gegenstand zeitgenössischer Literatur, indem er zeigte, dass Literatur auch im Super U und in Vorstadtzonen existieren kann. Bernhard hingegen lieferte das formale Rüstzeug, um den Roman nach den avantgardistischen Zerstörungen des 20. Jahrhunderts neu zu erfinden und dessen Errungenschaften zu integrieren, ohne sich in altmodischen Erzählmustern zu verlieren. Diese „chemische Reaktion“ zwischen Bon und Bernhard ermöglichte es Mauvignier, die Figur des Romanciers wieder anzustreben, indem er Fiktion als ein dynamisches, gegenwärtiges und formal innovatives Genre etablierte.
Erster Roman: der Sprung ins Leere
Der Weg zum ersten Roman, Loin d’eux, war durch Selbstauferlegung und Scheitern gekennzeichnet, bis Mauvignier die notwendige Bedingung der Hingabe erkannte. Nachdem er sich eine Frist gesetzt hatte, um „bis zum Ende dieses Verlangens zu gehen“, und nach zwei gescheiterten Versuchen, erlebte er im Juni 1998, drei Monate vor seinem eigenen Ultimatum, eine plötzliche „große Befreiung“ und „Friedensgefühl“, als er das Ziel, Schriftsteller zu werden, aufgab. Erst dieser emotionale Loslass-Akt erlaubte ihm, die ersten vier Seiten von Loin d’eux ohne Projekt, ohne Idee und ohne Erwartung zu schreiben. Mauvignier interpretiert diesen Moment als seine „zweite Geburt“ und als die entscheidende Erfahrung, dass das Schreiben selbst ein intimerer Ort ist als der bloße Wunsch, Schriftsteller zu sein („le désir d’écrire“).
Die Thematik von Loin d’eux selbst spiegelte diese innere Wende wider: Der Roman, der das Thema des Suizids behandelt, wurde möglich, weil Mauvignier die elterliche Forderung, der Herkunft zu entfliehen, verriet und stattdessen die „schmerzhafte Akzeptanz“ seiner Geschichte und seines Milieus fand. Dies ist Mauvigniers konkrete Umsetzung der Metapher vom „Sprung ins Leere“ (nach Georges Perec), der die „intime, innere Entscheidung“ vom normativen Sprachgebrauch trennt. Nur dieser Sprung, der bei Mauvignier als eine Suche nach Präzision, Intuition und Balance beschrieben wird, führt zu literarischen Werken, die eine „Wirbelsäule“ und existenzielle Substanz besitzen. Die rasche Annahme des Manuskripts durch Les Éditions de Minuit, vermittelt durch Tanguy Viel, bestätigte diesen radikalen Neuanfang. Die Veröffentlichung markierte jedoch nicht das Ende des Lernprozesses; Mauvignier betont, dass es drei bis vier Bücher braucht, um die Singularität der eigenen Stimme zu erkennen und sich von den Einflüssen zu befreien, die im Endeffekt nur das eigene, noch im Keim liegende Werk imitiert hatten.
Persönliche Geografie: das Haus als universeller Anker
Mauvigniers Auseinandersetzung mit den Schauplätzen seiner Romane ist eng mit der Transformation seiner Herkunft verbunden. Das fiktive Dorf La Bassée, eine Abbildung seiner Kindheitsgegend Descartes/Balesmes, dient als „Ankerpunkt“ („point d’ancrage“) seiner Prosa. Der Name selbst verweist auf das „Erniedrigte“ („l’abaissé“) und das „Dort-unten“ („là-bas“), was die soziale und geografische Verortung seiner frühen Texte symbolisiert. Dabei ist Mauvignier wichtig, dass dieser Ort kein bloßes „Dekor“ ist, sondern ein intimer Raum des literarischen Handelns, in dem er die Wahrheit des Ortes, nicht seine Exaktheit sucht. Um einer künstlerischen Einengung zu entgehen (im Sinne von Faulkners Yoknapatawpha County), weitete er die Schauplätze später auf unbenannte Städte (Ceux d’à côté, Seuls) und schließlich auf globale, historisch dokumentierte Gebiete aus (Algerien in Des hommes, Kirgisistan in Continuer, diverse Orte in Autour du monde).
Paradoxerweise war das Schreiben über ihm unbekannte Orte oft einfacher, da die direkte Konfrontation mit der eigenen Realität zu Lähmung führte. Für diese entfernten Orte stützte er sich auf intensive Dokumentation, jedoch immer mit der Notwendigkeit, diese Informationen durch die „organische Wahrheit“ des Romans zu filtern. Er verwendet Details, die er durch literarische Lektüre, Dokumentarfilme oder triviale Internet-Foren gewinnt (etwa die Farbe eines Bustickets oder die Geräusche in Oran 1960). Diese Details sind nicht der historischen „Wiederherstellung“ geschuldet, sondern sollen die „Wahrscheinlichkeit“ („vraisemblance“) für den Leser erzeugen und die „Atmosphäre“ und „Empfindung“ des Ortes greifbar machen. Laurent Mauvignier äußert sich in den vorliegenden Gesprächen nicht direkt zum Roman La maison vide, der 2025 den Prix Goncourt erhielt. Allerdings reflektiert Mauvignier ausführlich über die geografische und psychische Bedeutung des Hauses in seinem gesamten Schaffen, was auf das Motiv des Titels verweist. Er stellt fest, dass es ihm nie gelungen ist, auch nur ein einziges Buch zu schreiben, das „aus einem Haus herausgelangt“ („n’ai pas réussi à écrire un seul livre qui sorte d’une maison“). Selbst als er versuchte, die Schauplätze seiner Romane zu erweitern – etwa in Autour du monde oder Continuer – stellte er fest, dass er mental immer noch in einer Hausstruktur verharrte. Er komponierte die Kontinente in Autour du monde als „Räume eines immensen Hauses“ („pièce d’une immense maison“). Auch äußere, historische Ereignisse, wie der Algerienkrieg in Des hommes, werden von Mauvignier als „huis clos“ (Kammerspiele) oder familiäre Konflikte interpretiert, in denen das Äußere den inneren Ereignissen untergeordnet bleibt. Die Geografie wirkt dabei als Spiegelbild der inneren, häuslichen Konflikte und der verinnerlichten Familienstruktur.
Bei der Arbeit: die Ethik der Ignoranz und die Jagd nach dem Realen
Mauvigniers Schreibprozess zeichnet sich durch eine ständige mentale Präsenz des Buches aus, die über die täglichen Schreibzeiten hinausgeht; das Buch „wohnt in ihm“. Sein Rhythmus ist morgendliches, intensives Schreiben, gefolgt von Phasen der Reflexion, in denen das Werk unterirdisch weiterarbeitet. Er beschreibt die Existenz des Autors mit einem „doppelten Blick“ („double regard“) – einerseits menschliche Empathie und Neugierde, andererseits eine beobachtende, fast vampirisierende Distanz („homuncule“), die Details für den Text registriert. Diese Beobachtungsgabe zielt darauf ab, das „Ineffable“, das den Charakter des Lebens ausmacht, einzufangen: etwa ein offener Schnürsenkel an einem klischeehaften Liebespaar vor dem Eiffelturm, der das Klischee durchbricht und die Realität wieder einbringt.
In Bezug auf historische oder soziale Themen, wie den Algerienkrieg in Des hommes, ist die Dokumentation nur ein dienendes Werkzeug. Mauvignier betont, dass die Realität, die er sucht, die „organische Realität“ des Romans ist, die die historische Wahrheit dem internen Wahrheitsgehalt des Werkes unterordnet. Ein zentrales methodisches Postulat ist die Notwendigkeit, die „Brutalität der Ignoranz“ zu kultivieren: Der Autor muss alles wissen, aber in der Erzählung vergessen, was seine Figuren in der jeweiligen Gegenwart (etwa 1950er Jahre in Algerien) unmöglich wissen konnten. Diese Rekonstruktion des gegenwärtigen Moments durch das Ignorieren historischen Wissens ermöglicht es ihm, die „Monstrosität des Ereignisses“ in seiner Alltäglichkeit und seiner „Kraft der Fassungslosigkeit“ zu erfassen. Er lehnt Romane ab, die eine zu klare Botschaft oder These verfolgen, da diese den Blickwinkel schwächen; stattdessen muss das Chaos und die Unlesbarkeit der Realität im Roman widergespiegelt werden. Seine Überzeugung ist, dass die „literarische Wahrheit“ oft durch die Distanz zum direkten Erlebnis gewonnen wird, was ihm die Schärfe des Blicks verleiht, die den Betroffenen selbst fehlt.
Die Ordnung des Schreibens: Wiedererfinden der Form
Mauvigniers Technik des Schreibens ist fundamental eine Praxis der Umschrift („réécriture“). Er beginnt oft mit handschriftlichen Notizen und Dokumentationen, um diese beim Übertrag auf den Computer nicht einfach nur zu kopieren, sondern sie durch „Aneignung“ in eine andere Form zu überführen. Er sieht sich dabei als einen „Free-Jazz-Spieler“, der ein Motiv aufgreift und es improvisatorisch fast vollständig neu erfindet. Dieser Prozess ist darauf ausgerichtet, die „Plénitude“ (Fülle oder Vollendung) der Form zu erreichen, eine Vorstellung, die er auf ein Cézanne-Zitat zurückführt: „Wenn die Farbe ihren Wert hat, ist die Form in ihrer Fülle“. Dies bedeutet eine ständige Überlagerung von Schichten, eine Arbeit, die er mit derjenigen eines Malers oder Bildhauers vergleicht, der um einen perfekten Farbauftrag kreist.
Der Autor ist stets bestrebt, „nur die Bücher zu schreiben, die man nicht zu schreiben weiß“, weshalb er bewusst die Methoden seiner Romanprosa „zerstört“, um eine Fossilisierung zu verhindern. Seine Theaterarbeit, oft durch externe Projekte initiiert, dient diesem Zweck, indem sie ihn zwingt, die für seine Romane typische spiral- oder lawinenartige Satzstruktur durch die Frontalität des Dialogs aufzubrechen. Diese Auseinandersetzung mit dem Dialog nährt wiederum seine Romane, indem sie die verschiedenen Genres in einem gemeinsamen Bewegungsfluss zusammenfügt. Mauvignier arbeitet oft mit einem „Gerüst“ aus drei oder vier Teilen, die eine wachsende, dann abnehmende Bewegung darstellen, wobei die erste Sektion oft eine Art „Vorgeschichte zum Roman“ bildet, die den Leser auf das eigentliche Geschehen vorbereitet und die Relevanz des Themas in der Gegenwart verankert.
Ein Satz: die Choreografie der Gleichzeitigkeit
Mauvigniers Stil ist untrennbar mit der Struktur seiner langen, sich entfaltenden Sätze verbunden, deren Analyse seine Poetik aufschlüsselt. Am Beispiel einer Passage aus Histoires de la nuit erläutert er, wie er durch die Akkumulation von Details und die Erweiterung der Perspektiven eine Choreografie der Gleichzeitigkeit in der Sprache realisiert. Der Satz beginnt mit einem Detail – dem ausgestreckten Arm des Gendarmen – und entfaltet sich dann zu einer Art „Plansequenz“. Er beschreibt die Bewegungen zweier Figuren (Christine und der Gendarm) gleichzeitig, indem er ihre Gesten, ihre Wahrnehmungen und die „Effekte des Realen“ (wie die aufgerissenen Stellen des Kunstledersessels oder die Haarstruktur der Hand) in einem einzigen Atemzug verbindet.
Diese Präzision der Beschreibung ist für Mauvignier die Bedingung für die Existenz des Satzes. Seine Methode folgt der Logik des „Schneeballeffekts“, der ausgehend von einem kleinen Detail, das Bild in ein größeres Feld einbettet, bis die „intime Realität der Figuren“ erreicht wird. Entscheidend ist dabei die Vermeidung des direkten Benennens von Emotionen oder abstrakten Begriffen; anstatt Marion als „schön“ zu bezeichnen, beschreibt er, wie Männer sich bei ihrem Eintreten erheben – eine Technik, die er auf Koltès und Homer zurückführt. Das Nennen starker Wörter wie „Schönheit“ betrachtet er als „obszön“ und faul, da es dem Leser die Erfahrung raubt. Die Umschreibung und Detaillierung ermöglichen es dem Gefühl und der Empfindung, eine Tiefe und Nuance zu erlangen, die das Einzelwort nicht bieten kann, und fordern die aktive Teilnahme des Lesers heraus.
Die Sprache formen: Rhythmus und Zeichensetzung
Die Gestaltung der Sprache bei Mauvignier ist durch das Kreisen um Motive und das Spiel mit Wortwiederholungen und Spiegelungen gekennzeichnet, die oft das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit verhandeln, wie im Beispiel der Leere, die durch den abwesenden Luc in Loin d’eux besetzt wird. Er nutzt häufig das Futur in Hypothesen, wodurch die Vorstellung einer Möglichkeit als bereits vollzogener Akt in der Sprache erscheint und diese sich an die Stelle der Realität setzt. Der bewusste Verzicht auf das Passé simple ist eine ästhetische und politische Entscheidung, die das Anachronistische und Gesteifte des klassischen Französisch ablehnt und seine Texte in der lebendigen, gesprochenen Gegenwartssprache verankert.
Mauvigniers Affinität zu Thomas Bernhard zeigt sich in der Technik des Wiederholens („ressassement“), die bei ihm die „Obsessionalität“ der Figuren, oft getrieben von Wut oder Gewalt, als Geburtsort des Monologs inkarniert. Für die rhythmische Gestaltung sind die Satzzeichen essentiell und werden fast musikalisch eingesetzt. Der Bindestrich markiert einen plötzlichen, ungeplanten Spurwechsel („on braque“) in der Erzählung. Der Doppelpunkt hingegen dient der Zielgenauigkeit und Fokussierung, indem er eine Konklusion festnagelt. Das Semikolon ermöglicht es, den Atem und die Energie des Satzes beizubehalten, während es eine kausale oder kontinuierliche Beziehung zwischen den Satzteilen herstellt. Der scharfe Einsatz des Punkts ist besonders in Momenten großer Spannung oder existentieller Krise (wie bei Christines Wiedererlangen des Bewusstseins in Histoires de la nuit) zu beobachten, wo er als „Cut“ im Filmschnitt oder als notwendige Zäsur zur Gewinnung von Atem und „Relief“ fungiert. Sogar in seinem Einsatz des Participe Présent sieht Mauvignier ein dynamisches Werkzeug, das als „Sprungfeder“ den Satz neu belebt und ihn entfalten lässt.
Figuren: die Singularität der Überlebenden
Die Gestaltung der Charaktere bei Mauvignier ist eine künstlerische Stilisierung, die die Figuren von einer naturalistischen Darstellung ihrer sozialen Herkunft emanzipiert. Anstatt eine spezifische „Sprechweise“ („parlure“) zu suchen, strebt er eine „Klangfarbe“ („tessiture“) an. In frühen Werken wie Dans la foule teilten die Figuren eine Art „Mauvignier-Sprache“, die sie jenseits ihrer Schwierigkeiten zu sprechen vereinte. Die Individualisierung erfolgt subtil über einfache Sprachmarker (wie Jeans häufige Verwendung von „ça“ in Loin d’eux) und vor allem durch physische Beschreibung, Gesten und Bewegungen, die mehr über die Persönlichkeit aussagen als jeder Sprach-Tick. Er betont die Notwendigkeit, die Sprache auf eine „stilisierte Höhe“ zu heben, um selbst der Trivialität und dem Prosaismus des Realen Würde zu verleihen. Die Bruderkonstellation in Histoires de la nuit wird als „Cerberus“-ähnliche Einheit beschrieben, deren Facetten (Denis, Christophe, Bègue) in ihrem Kommunikationsverhalten, das zwischen Schweigen, Prahlen und explosivem Gestammel variiert, reliefartig ausgearbeitet werden.
Mauvignier bekennt sich zu einer größeren Empathie für seine weiblichen Figuren (Marthe, Sibylle, Tana, Marion), die er als „Schwestern“ und Figuren des Überlebens betrachtet, die alle einer potentiell tödlichen Wunde entkommen sind. Diese Affinität leitet sich von der Beobachtung seiner Mutter und seiner Unfähigkeit ab, sich mit dem dominanten Männlichkeitsklischee seiner Jugend zu identifizieren, das er als selbst dominiert und klischeehaft empfand. Letztlich sucht er in der Figur nicht das Soziale, sondern die „Fragilität“ und „Verletzlichkeit“ („failles“) des Menschen, die sich offenbart, wenn die perfekt dargestellte Fassade Risse bekommt. Mauvignier begreift die Figur als einen „Trajet“ (Weg/Reise), deren Wahrheit sich erst durch die gesamte Buchlänge erschließt, indem der Leser den Abstand zwischen dem ursprünglichen Klischee und der komplexen Person dahinter misst.
Schreiben und Veröffentlichen: die Metaphysik des Durchquerens
Die literarische Aufgabe des Autors, das Klischee zu „brechen“, wird von Mauvignier als ein „Durchschreiten des Spiegels der Erscheinungen“ beschrieben. Der Roman ist dieser Akt der Durchquerung („traversée“) eines Bildes. Selbst wenn Mauvignier auf konventionelle Fiktionsklischees zurückgreift (wie Thriller-Elemente oder anonyme Briefe in Histoires de la nuit), dient dies dazu, den „irreduziblen Teil des Realen“ zu suchen, der in einem scheinbar überzeichneten fiktionalen Schema verborgen liegt. Die Fiktion hat für ihn eine „dokumentarische Funktion“ im Hinblick auf das Reale, indem sie uns Figuren und Muster bereitstellt (wie Ödipus oder Othello), die uns helfen, die psychische und soziale Welt zu lesen.
Die Entdeckung des Titels ist für Mauvignier ein unvorhergesehener Moment der Evidenz, der nicht vor dem Schreibprozess liegen darf, da sonst die Erfüllung der Idee das Schreiben verhindern würde. Die langjährige Zusammenarbeit mit seiner Verlegerin Irène Lindon ist dabei fundamental. Lindon wird als „Katalysator“ für die Selbstkritik des Autors gesehen. Ihre Korrekturvorschläge führen nicht zur Unterwerfung, sondern zu einer noch größeren Rigorosität und einer tieferen Revision des Textes, indem sie etwas in ihm „entriegelt“. Die Veröffentlichung selbst – die Mauvignier als eine Konformität mit seinem inneren Selbstbild des Schriftstellers und als Befreiung vom Zwang zur Brotarbeit erlebt – erzwingt die öffentliche Rolle, die er als Fremdkörper empfindet. Letztendlich ist die literarische Existenz für Mauvignier ein permanenter Kampf gegen die Fossilisierung im eigenen Werk. Sein finaler Rat an Schreibende fasst seine Poetik zusammen: Sie müssen die Dringlichkeit des Schreibens im Sinne der Unmöglichkeit, es nicht zu tun, spüren und dann den „verrückten Sprung“ ins Ungewisse wagen, der keine Ratschläge, sondern nur eine intime Entscheidung erfordert.
(Nicht) wie die Eltern werden
Mauvignier setzt sich wie in La maison vide intensiv mit den Themen sozialer und familiärer Determination sowie mit den Determinismen im Schreiben des Naturalismus auseinander: Mauvignier beschreibt seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie in der Touraine, in der es keine Bücher gab. Die Eltern, insbesondere der Vater, erlegten ihm auf („injonction“), sich in der Schule anzustrengen, um nicht wie sie selbst Arbeiter zu werden. Diese Forderung empfand er als „sehr gewalttätige Schizophrenie“, die ihn dazu zwang, daran zu arbeiten, nicht wie seine eigenen Eltern zu werden.
Er sah sich lange Zeit dazu veranlasst, gegen dieses Milieu anzuschreiben, um dieser Trauer der Herkunft zu entfliehen. Erst mit Loin d’eux erkannte er, dass er dieses Verlangen des Vaters verraten musste, um ihm paradoxerweise treu zu sein („trahisse pour lui être fidèle“). Die Sprache sollte nicht der sozialen „Ascension“ dienen, sondern dazu, zu seiner Herkunft zurückzukehren („y revenir“).
Grundsätzlich erkennt Mauvignier an, dass das eigene Leben von äußeren Faktoren bestimmt wird: „Unser Weg bestimmt uns, unsere Epoche, unsere Geschichte auch“ („Notre parcours nous détermine, notre époque, notre histoire aussi“). Er verdeutlicht dies auch am Beispiel der Männerbilder seiner Jugend: Er konnte sich mit dem dominanten Männlichkeitsklischee nicht identifizieren und sah, dass diese „Dominierenden“ selbst „dominiert sind“ durch ihre Kultur, Geschichte und die „Anweisungen, ein starker Mann zu sein“ („injonctions à être un homme fort“).
Auch wenn Zola, der eine wichtige Funktion in La maison vide einnimmt, in den Gesprächen nicht genannt wird, distanziert sich Mauvignier von naturalistischen Darstellungsweisen, die oft mit deterministischen Ansätzen verbunden sind. Er lehnt es ab, eine spezifische „Sprechweise“ („parlure“) oder linguistische Ticks zu verwenden, um seine Charaktere karikaturhaft oder soziologisch zu etikettieren. Er sucht stattdessen eine „Klangfarbe“ („tessiture“). Ihm ist es wichtig, die Sprache auf eine „stilisierte Höhe“ („hauteur stylisée“) zu heben, um selbst der „Trivialität und dem Prosaischen des Realen Würde zu verleihen“. Er betont, dass die Darstellung der Mühen des Körpers („mémoire du corps“) oder der psychischen Verfassung seiner Figuren nicht auf psychologische Dokumentation beruht (etwa das Lesen von Zeugnissen traumatisierter Personen), sondern auf der eigenen Erfahrung der Isolation, Angst und Verletzlichkeit („solitude“, „peur“, „sentiment d’abandon“).
Mauvignier verortet die Wahrheit seiner Charaktere eher in ihren „Brüchen“ („failles“), ihrer „Zerbrechlichkeit“ („fragilité“) und „Verletzlichkeit“ („vulnérabilité“) als in ihrer sozialen oder psychologischen Bestimmung. Die Wahrheit eines Charakters erschließt sich erst, wenn der Leser den Abstand zwischen dem anfänglichen Klischee und der komplexen Person dahinter misst.
Die Suche nach dem Realen im Roman ist daher nicht dokumentarisch-naturalistisch, sondern auf die „organische Realität“ des Werkes ausgerichtet, wobei die historische oder dokumentierte Wahrheit der internen Logik des Romans untergeordnet wird. Diese interne Logik ergibt sich oft aus unterirdischen Prozessen, die Mauvignier als eine „chemische Reaktion“ aus Einflüssen und eigener Geschichte beschreibt. Anstatt die sozialen Fesseln zu beschreiben, strebt er die Durchdringung der Erscheinung („traverser le miroir“) an, um die „Person hinter der Figur“ zu finden.
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Mauvigniers gesamtes Werk lässt sich als ein heroischer Akt der sprachlichen Aneignung interpretieren. Indem er die Erzählform ständig durch Wiederholung („ressassement“), perspektivische Dichte und eine bildhauerische Präzision des Details herausfordert, sucht er stets den Übergang vom Klischee zur existentiellen Wahrheit. Seine Prosa, oft metaphorisch als das Haus oder der Körper des Überlebens konzipiert, bietet einen einzigartigen Raum, in dem die tiefsten Traumata der persönlichen Geschichte und der kollektiven Historie (wie der Algerienkrieg oder die sozialen Brüche der Arbeiterklasse) durch die ästhetische Form transformiert und sublimiert werden. Mauvignier erweist sich in diesen Gesprächen als ein reflektierter Poet der „fehlenden Sache, die ihn quält“ (Quelque chose d’absent qui me tourmente), deren Abwesenheit er durch die „Plénitude“ des literarischen Satzes zu füllen sucht.
Anmerkungen- Mauvignier merkt an, dass er diese Phrase in seiner Jugend von seinem Kunstlehrer Daniel Lebier zitiert bekommen hat, wobei er darauf hinweist, dass die Zitation annähernd sei, aber er sie auf diese Weise gelernt habe und sie sehr gut findet. Er wiederholt diesen Satz häufig und wendet das Prinzip auf seine Arbeit an, indem er etwa feststellt, dass er manchmal das Gefühl hat, die Fülle oder Vollendung der Form noch nicht erreicht zu haben. – Gefunden habe ich gleichwohl nur dieses Zitat: „Le dessin et la couleur ne sont point distincts; au fur et à mesure que l’on peint on dessine ; plus la couleur s’harmonise, plus le dessin se précise. Quand la couleur est à sa richesse, la forme est à sa plénitude. Les contrastes et les rapports de tons, voilà le secret du dessin et du modelé.“ Émile Bernard, « Paul Cézanne », L’Occident, juillet 1904, p. 24.>>>