Literatur als Ressource? Der kommende Frankoromanistiktag und Patrice Jean

Patrice Jean, Kafka au candy-shop: la littérature face au militantisme, Editions Léo Scheer, 2024.

Literatur am Scheideweg: eine nötige Debatte

Tout livre, tout texte vivant doit être une déclaration de guerre. (Patrice Jean)

Patrice Jeans Kafka au Candy-shop zeichnet das Bild einer Literatur, die sich unter dem süßlichen Druck politischer Moral zum gefügigen Konsumgut wandelt, während zugleich – wie bei Kafka – das Rätselhafte, die Erfahrung des Unverfügbaren, in ihr erstickt werden soll; der Titel selbst bringt diese absurde Kollision in ein Bild: Kafka, Inbegriff der existenziellen Düsternis und ästhetischen Radikalität, steht plötzlich zwischen Bonbonregalen, umgeben von wohlfeilen Empörungswaren, und soll dort seine surreale Verzweiflung in ein gefälliges Produkt verwandeln; genau in dieser grotesken Verschiebung verortet Jean die Krise der Gegenwartsliteratur, die das Dunkle, Ambivalente und Ungefügige zugunsten sofort verständlicher Haltungszuckerwaren aus dem Regal räumt – und damit die Literatur ihrer gefährlichen Kraft beraubt, dem Leser nicht Bestätigung, sondern Bewusstsein zu geben.

Wenn die Ausschreibung des kommenden Frankoromanistiktags das Leitmotiv res:sources entfaltet, markiert sie damit jenen Punkt, den Jean zur Problemzone erklärt: die Literatur als Rohstoff, als verwertbares Gut. Die Frage, die sich aus seiner Perspektive sofort stellt, lautet in höflicher, aber unmissverständlicher Zuspitzung: Wie soll die Literatur frei bleiben, wenn sie von vornherein als Ressource gedacht wird, als Mittel für gesellschaftliche Zielbestimmungen? Jean hätte in diesem Kontext nachgefragt, ob die dort beschworene „Quelle des Wissens“ nicht Gefahr läuft, alles Literarische auf seinen Informationsgehalt zu reduzieren, auf das, was messbar und vermittelbar ist, während das, was sich entzieht – Ambivalenz, Stil, existentielle Unschärfe – unbeachtet bleibt.

Die Leitfrage nach „Narrativen der Nachhaltigkeit“ berührt bei Jean eine tiefe Skepsis: Wie kann man verhindern, dass sich hinter dieser Erzählung eine neue Moraltheologie verbirgt, die Literatur als Werkzeug der Bewusstseinsproduktion vereinnahmt? Darf der Roman noch verletzen, zweifeln, scheitern, wenn sein Wert sich daran bemisst, ob er Verantwortung übernimmt und Lösungen anbietet? Jean würde hier wohl die feine, aber entscheidende Differenz anmahnen zwischen einer Literatur, die politisch denkbar macht, und einer Literatur, die politisch vorschreibt.

Die Ausschreibung spricht von Zugängen, Verteilungen, Kontrollmechanismen – Kategorien, die Jean notwendig machen würden, darauf hinzuweisen, dass gerade das Ungeregelte, das Unkontrollierbare zum Wesenskern der Kunst gehört. Welche Räume werden für jene Werke geöffnet, die sich durch ihre Nutzlosigkeit auszeichnen, durch ihren Eigensinn, ihre Weigerung, eine Ressource zu sein? Wer schützt die literarische Freiheit, wenn Wissenschaft und Politik sich einig sind, Literatur möge zur „Transformation“ beitragen?

Auch die Idee „Texte als Daten“ würde Jean zu einer höflichen Irritation veranlassen: Ist nicht der tiefste Sinn von Literatur, mehr zu sein als Informationen? Nicht Herkunft zu beweisen, sondern ein Bewusstsein zu erschüttern? Wenn Figuren zu Fallbeispielen sozialer Milieus und Leser zu Konsumenten korrekter Erkenntnisse werden, verliert der Roman seine gefährliche Fähigkeit, uns von uns selbst zu befreien. Jean würde vorsichtig fragen, ob der Zugriff auf kulturelle Güter im Sinne der CARE-Prinzipien nicht ungewollt selbst eine neue Regulierung hervorbringt, die den schöpferischen Excess bändigt – ausgerechnet im Namen der Ethik.

Schließlich steht über allem die höfliche, aber entschlossene Frage nach dem Innen: Wenn der Kongress ein neues Ressourcenverständnis fordert, wer garantiert, dass die „vie invisible“, die unsichtbare, eigensinnige Innerlichkeit des Subjekts, nicht zum blinden Fleck wird? Jean würde an die Ausschreibung die Bitte richten, jene Zone der Literatur nicht aus den Augen zu verlieren, in der der Mensch weder Opfer noch Ressource ist, sondern ein Wesen des Mangels, der Sehnsucht und des Rätsels. Eine Romanfigur ist kein Bestand. Ihr Sinn beginnt erst dort, wo die Logik des Verfügens endet.

Die französische Literatur steht, so Patrice Jean, am Scheideweg. In Kafka au candy-shop diagnostiziert er eine symptomatische Verschiebung des literarischen Feldes: weg von der Kunst, hin zur moralisch-politischen Rechtfertigung. Nicht mehr das ästhetische Gelingen, die innere Wahrheit oder der Erkenntnisraum des Romans sind entscheidend, sondern die Parteilichkeit seiner Botschaft. Jean beschreibt ein Klima, in dem sich Autorinnen und Autoren nur noch als Anwälte einer legitimierten Gesinnung behaupten dürfen. Der Roman wird zu einem Instrument, das Gefolgschaft erzwingt statt Freiheit zu eröffnen. Die Streitfrage, die sich dahinter auftut, ist die alte, aber nun mit neuer Härte ausgefochtene: Darf die Literatur ganz sie selbst sein – oder muss sie sich dem gesellschaftlichen Fortschrittsauftrag beugen?

Jean stellt fest: Die Literatur werde heute stärker nach der politischen Orientierung des Autors beurteilt als nach ihren literarischen Qualitäten 1. Er führt damit ein Klima vor Augen, in dem Werke nur noch als gut gelten dürfen, wenn sie politisch sind – und politisch richtig. Dies wird als Ohrfeige für jeden verstanden, der sich an der Imagination orientiert statt an der Identität. Der Satz erscheint wie eine Diagnose und zugleich wie ein Weckruf. Er zeigt, wie Jean sich selbst verortet: nicht jenseits, aber vor dem Tribunal des Zeitgeistes.

Das große Ertrinken der Literatur im Ozean der Bücher

Der eigentliche Kern des Buches ist jedoch nicht politische Polemik. Er steckt im Mangel an Bewusstsein dafür, dass Literatur immer zwei Dimensionen vereint: das Objektive und das Subjektive, das Soziale und das Existenzielle. Hier nimmt Patrice Jean den Kampf gegen die vorherrschende These „Alles ist politisch“ auf. Er zeigt, wie der Roman gerade dort beginnt, wo der Diskurs endet: im Unverfügbaren, im Schwebenden, in der inneren Wahrheit einer Figur, die sich keiner Moralpolizei unterwerfen muss. Jean verteidigt damit die Literatur als Ort des Subjekts, der – gerade inmitten gesellschaftlicher Mechanismen – allein existiert und fühlt.

Jean führt exemplarisch vor, was auf dem Spiel steht, wenn die Literatur ihre Autonomie verliert. Wenn sie dem moralischen Aktivismus gehorcht, wird sie selbst zum Apparat. Keine ästhetische Distanz mehr, kein Zweifel, keine Ambivalenz. Der Roman wird zum Flugblatt. Die Kritik wird zur Inquisition. Der Leser wird zum Soldaten oder zum Angeklagten. Und die Sprache, statt Beweglichkeit zu entwickeln, erstarrt in Haltung.

Er beschreibt diesen Wandel als „grande noyade de la littérature dans l’océan des livres“, als das große Ertränken der Literatur in einem Ozean bloßer Bücher. Der Ausdruck ist präzise gewählt. Denn was Jean hier beklagt, ist nicht die Vielfalt an Publikationen, sondern der Verlust der Unterscheidung: Literatur wird den Büchern angeglichen, die keinen Anspruch mehr formulieren als unmittelbare Verwertbarkeit. Die Flut des Moralischen drückt das Erhabene unter die Oberfläche des Nützlichen.

Szenario I: Literatur als Werkzeug

Im ersten Szenario stellt Jean eine Literatur vor, die von der Grundannahme beherrscht wird, dass jede menschliche Erfahrung aus einer Ursache abzuleiten sei, die im politischen System wurzelt. So beginnt er mit dem Alltäglichen: Ein Mann wartet auf eine Nachricht seiner Geliebten und fällt in Melancholie. Das Aneinander von Gefühl und Politik erscheint ihm wie ein Gewaltakt gegen das Subjekt. Der Mensch darf sein Unglück nicht mehr ohne Schuldzuweisungen an Wirtschaftsstrukturen, Herkunft oder Geschlecht empfinden. Die Literatur, die diese Logik unterstützt, betrachtet jede Regung als Vorfall im Machtgefüge.

Jean lässt seinen Leser dabei in ein Gedankenexperiment eintreten, das die marxistische Karikatur ad absurdum führt: Der Coach ist ein Produkt kapitalistischer Ausbeutung, die Einsamkeit ein historisch-politisches Ergebnis der Wohnarchitektur. Auch das Begehren erhält seinen Ursprung nicht mehr in der Seele, sondern im Smartphone am Rande der imperialen Lieferketten. Je konkreter Jean diesen Gedanken durchspielt, desto grotesker wirkt das Modell, dem die Literatur angeblich verpflichtet ist. Es ist der Versuch, das Geheimnis des Lebens zu rationalisieren, ohne jemals seine Tiefe zu berühren.

Die Passage, in der Jean schreibt: „Votre être le plus intime n’est intime que par le nombre, l’histoire, l’artifice“, ist bitter und paradox zugleich. Er dreht die These des Totalpolitischen gegen sich selbst und zeigt, wie sie das Geheimnis der Existenz auflöst. Wenn alles kollektiv bestimmt ist, gibt es kein Ich mehr, das noch spüren darf. Der Einzelne wird zur Folge von Regeln, die er nicht kennt. Er hört auf, Subjekt zu sein.

Diese Literatur reduziert das Innenleben auf Statistik. Figuren werden zu Schaubildern, Handlung zu Beweisführung. Sie sind rechtfertigungsbedürftig, bevor sie erscheinen dürfen. Jean führt den Begriff des „sous-officier chargé d’enrôler des soldats“ ein, des Unteroffiziers des Guten. Das Bild ist bewusst historisch und militärisch. Der moralische Roman ist kein Ort des freien Denkens mehr, sondern ein Rekrutierungsbüro. Wer sich ihm widersetzt, gilt bereits als Feind. Und mit dem freien Denken ist dezidiert nicht das sogenannte „politisch Unkorrekte“ gemeint (das ja selbst ideologisch ist), sondern das Literarisch-Existenzielle.

Die Literatur, die Jean hier skizziert, ist nicht einmal plump – sie ist strategisch. Sie will das Richtige und tut das Falsche, indem sie die Komplexität des Menschen unterdrückt. Was sie nicht kontrollieren kann, erklärt sie unzulässig. Was sie nicht versteht, pathologisiert sie moralisch. Das alte Anliegen der Kunst – den Menschen zu erkennen – wird durch das neue Anliegen ersetzt, ihn umzuerziehen.

Von dieser Warte aus betrachtet Jean die derzeit bekannten Protagonisten im französischen literarischen Feld. Annie Ernaux erscheint als Paradefigur für die streng soziologisch begründete Erzählkunst. Houellebecq dagegen als reaktionäres Schreckbild jener, die sich an den moralischen Imperativ klammern. Jean verweigert sich der Logik, sich auf eine Seite zu schlagen. Er liest Ernaux wie Houellebecq gleichermaßen und zeigt dadurch, dass das literarische Werk jenseits politischer Zustimmung existiert.

Er beklagt die Einteilung von Literatur in „rechte“ und „linke“. Sie ist für ihn die ultimative Bankrotterklärung der Kritik. Wer nur noch dem Richtungsdenken folgt, hat aufgehört zu lesen. Jean schärft diesen Gedanken durch eine vehemente Erinnerung an Drieu la Rochelle: Der Roman Gilles bleibe trotz seines fatalen Endes faszinierend, weil er existenzielle Fragen verhandelt, nicht politische Programme. Der Leser, sagt Jean, darf sich nicht zum moralischen Richter anstelle der Kunst erheben. Die Literatur entbindet uns nicht vom Denken – sie fordert es heraus.

Der „militantisme littéraire“ bedeutet für Jean auch eine neue Form der Zensur, die subtiler wirkt als das staatliche Verbot. Sie verhindert nicht die Publikation des Unpassenden – sie verhindert, dass es gelesen wird. Die Kritik hat eine moralische Ampel installiert. Rot bedeutet Ausschluss, Gelb Verdacht, Grün Lob. Aber in allen Fällen richtet sich der Blick nicht auf das Werk, sondern auf sein moralisch-politisches Profil. Jean erkennt hierin eine immense Gefahr: Der Staat braucht die Literatur nicht mehr zu unterdrücken, wenn ihre Vertreter sich selbst überwachen.

Der Roman wird als Geste des Rechthabens gelesen. Die Welt muss erklärt, nicht erfahren werden. Der Leser soll nicht staunen, sondern sich bekennen. So verfällt die Literatur der gleichen Versuchung wie die Religion: Sie möchte Erlösung versprechen und bestraft Zweifel als Blasphemie.

Die Konsequenz ist eine Ästhetik des Verdachts. Alles wird auf asymmetrische Machtverhältnisse zurückgeführt. Der Mensch wird konsequent entlastet von der Verantwortung für seine Abgründe. Denn die wahre Gefahr, meint Jean, sei nicht der einzelne Verbrecher, sondern die Struktur, die ihn hervorgebracht habe. Die Literatur verliert dadurch einen Raum, den sie immer besetzt hat: den der Schuld. Der der Scham. Den Raum der dunklen Unentschiedenheit.

Jean zeigt an Figuren wie Lucien aus Sartres L’Enfance d’un chef, wie entscheidend die Möglichkeit der Täuschung, des Irrwegs, der moralischen Niederlage für den Roman ist. Wenn Literatur nur noch tugendhaft sein darf, dann muss sie den Menschen aufgeben – und mit ihm die Kunst.

Szenario 2: Literatur als Organ

Jean entwirft eine Gegenvision. Literatur, so schreibt er, ist das „frottement“ der beiden Ordnungen: der objektiven und der subjektiven Welt. Sie beginnt dort, wo Statistik und Gefühl sich treffen und scheitern. Der Roman zeigt die Einzigartigkeit eines Bewusstseins, das durch die Welt geht und sich selbst entdeckt. Seine Wahrheit erwächst nicht aus der Gesellschaft, sondern aus dem, was sich in der Dunkelheit des Inneren regt.

Eine Literatur, die sich Jean wünscht, würde den Mut besitzen, die Ambivalenz auszuhalten. Sie würde Fragen stellen, die keine Partei beantworten kann. Sie würde den Leser nicht aufrufen, sondern anrufen. Sie wäre keine Bewegung, sondern ein Schicksal.

Jean erinnert daran, dass die Literatur nie die Aufgabe hatte, die Gesellschaft zu heilen. Sie kann sie aber heller machen, indem sie das Leben zeigt, wie es ist: widersprüchlich, schmerzhaft, grandios. Der Roman ist kein Werkzeug, sondern ein Organ. Er dient nicht dem Fortschritt, er ist ein Fortschritt eigener Art: ein ästhetischer, nicht ein politischer. Die Literatur muss zu ihrer Gewalt zurückfinden, zu ihren Zähnen, ihrer Schönheit, ihrer Zärtlichkeit.

In einem zentralen Abschnitt erklärt Jean: „L’écrivain n’est pas un directeur de conscience“. Der Schriftsteller ist kein Seelsorger. Er ist kein Pastor des Guten. Diese Selbstverpflichtung des Dichters zur Weisheit ist der Beginn seines Verrats. Die Literatur ist am stärksten, wenn sie aufhört zu erziehen.

Deshalb ist für Jean der Stil kein Ornament, sondern eine ethische Haltung. Der Stil macht sichtbar, was argumentativ nicht eingefangen werden kann. Er bricht die Schablonen der Milieuanalyse. Die Sprache erschafft nicht nur Bilder, sie erschafft Wirklichkeit. Wahre Literatur fordert vom Leser die Bereitschaft, sich mit dem Unverfügbaren auszusöhnen.

So wird die Autonomie der Literatur nicht aus willkürlicher Selbstbezogenheit gefordert, sondern als Voraussetzung dafür, dass sie sich dem Menschen zuwenden kann. Nicht indem sie dessen politische Identität bestätigt, sondern indem sie sein Innenleben berührt.

Jean beschreibt die Literatur als Ort der Vengeance. Nicht um Menschen zu zerstören, sondern um dem Schmerz Bedeutung zu geben. Die Kunst beantwortet die Verletzung des Daseins, indem sie es verwandelt. Der Roman denkt den Schmerz weiter, er verleiht ihm Gestalt, Stimme, Atem. So wehrt sich das Subjekt gegen das Verstummen unter den Strukturen.

Die Passage über die Literatur als „déclaration de guerre“ ist bezeichnend. Der Schriftsteller, „conquérant avec tout ce que cela implique d’échec“, bekämpft nicht die Gesellschaft, sondern die Gleichgültigkeit. Ein Werk, das nicht beißt, sagt Jean, hat keinen Sinn.

Schließlich nennt Jean den Kern dieser Literatur beim Namen: die „vie invisible“. Die unsichtbare, lebendige Erfahrung ist ihr Stoff. Sie ist nicht messbar, nicht auswertbar. Sie ist unvernünftig und doch die Quelle jeder Erkenntnis. Ohne die unsichtbare Dimension bleibt nur das, was Jean mit bitterem Hohn „la subjectivité vide“ nennt: ein Sein ohne Inneres.

Diese Literatur transzendiert die Tagesmeinungen, ohne sie zu ignorieren. Sie zeigt den Menschen nicht als Opfer oder Täter, sondern als Wesen des Mangels. Sie sagt: Das Politische ist real, doch das Existenzielle ist wahr.

Die ausstehende Selbstbefragung der Literaturwissenschaft

Sacha Cornuel Merveille 2 entfaltet Jeans Position anhand einer alltäglichen Szene: Ein Mann wartet melancholisch auf die Nachricht einer Geliebten – ein Moment radikal subjektiver Existenz. Dagegen setzt er die strukturalistische oder marxistische Lesart, die im Individuum bloß die Summe seiner gesellschaftlichen Bedingungen erkennt. Jean lehnt beide Reduktionen ab: Niemand ist frei von Strukturen, aber niemand geht in ihnen auf. Wo das Diktum „alles ist politisch“ die private Erfahrung zur bloßen Funktion erklärt, besteht Jean darauf, dass Freude, Müdigkeit, Schmerz nicht politisch erklärbar werden, ohne ihr Geheimnis zu verlieren. Die Literatur hat daher ihren Platz genau dort, wo die objektiven Erkenntnisse der Wissenschaft an die Grenzen stoßen: Sie macht das Unmessbare sichtbar, die Singularität der „chair et du sang“. Zur Illustration verweist Jean gleichermaßen auf Drieu la Rochelle wie auf Sartre und Aragon – ideologisch antipodisch, aber literarisch vereint in der Darstellung existenzieller Konflikte. Literatur bleibt für ihn ein Ort der Rache und des Widerstands, in dem der Einzelne seine Würde zurückerhält: gegen den Nützlichkeitsfuror von Markt und Moral gleichermaßen, gegen den „philistisme“ eines Zeitgeistes, der nur das Funktionale gelten lässt. In diesem Sinne erkennt Merveille in Jeans Essay eine Verteidigung der Literatur gegen alle Versuche, sie einem Zweck zu unterwerfen – sei es zur Revolution oder zum Feel-Good. Die Wissenschaft kennt das Allgemeine, die Literatur das Einmalige. In einer Gegenwart, die das Subjekt unter statistischer und politischer Verfügbarkeit begräbt, erscheint Kafka au Candy-shop als leidenschaftliches Plädoyer für das, was sich nicht verrechnen lässt: die Tragödie und Herrlichkeit des Einzelnen.

So wählt Patrice Jean seine Gewährsleute nicht nach politischer Nähe, sondern nach philosophischer Tiefenschärfe. Schopenhauer, Michel Henry, Rosset bilden ein phänomenologisch-existenzialistisches Dreieck, in dem die Innenwelt des Menschen als primäre Realität erscheint. Jean schreibt als Romanschriftsteller mit philosophischem Nachdruck. Sein Denken lebt von der Anschauung.

Die Entscheidung, mit Bataille oder Baudelaire zu sprechen, ist keine Provokation, sondern eine Rückversicherung. Die Literatur ist dort am stärksten, wo sie die Grauzonen schützt. Wo der Schatten nicht verdammt wird, sondern bewohnt. Wo die Fallhöhe steht, nicht die Verordnung.

Sein Verhältnis zur Religion ist ambivalent, aber erkenntnisstiftend: Der Glaube ist nicht das Modell, sondern das Symptom für die metaphysische Obdachlosigkeit des modernen Menschen. Die Literatur darf sich nicht als Ersatzreligion missbrauchen lassen. Sie muss den Zweifel retten, nicht die Erlösung.

Patrice Jean zwingt die Literaturwissenschaft zu einer Selbstbefragung. Sie muss klären, ob sie dem Werk dient oder seiner moralisch-diskursiven Verwertung. Sie muss sich entscheiden, ob sie weiterhin auf die Themen starrt – oder ob sie erneut beginnt, die Form zu lesen. Die Stimme. Den Stil.

Die französische Literaturgeschichte ist reich an Kontroversen zwischen Engagement und Freiheit. Doch Jean erklärt diesen Konflikt nicht für überholt: er aktualisiert ihn. Seine schärfste These richtet sich nicht gegen politische Literatur, sondern gegen Literatur ohne Freiheit. Der Roman darf aufklären, aber nicht indoktrinieren. Er darf trösten, aber nicht steuern. Er darf verletzen, wenn er offenlegt.

Was Jean dem literaturwissenschaftlichen Feld aufdrängt, ist nichts weniger als die Rückkehr zu einem Grundsatz: Die ästhetische Kritik ist keine Unmoral. Sie ist die Bedingung der Erkenntnisfähigkeit.

Kafka au candy-shop ist ein Gegenangriff. Patrice Jean zeigt, dass Literatur keine Tugendkaserne ist, sondern ein gefährlicher Ort. Er fordert keinen Rückzug, sondern eine Offensive des Subjektiven. Er verteidigt die Einsamkeit des Individuums als Existenzform der Kunst.

Seine Sprache ist präzise, ironisch und kämpferisch. Sein Denken ist selbst literarisch und nicht nur argumentativ. Sein Buch ist eine Einladung zum Ungehorsam des Lesens. Und ein Hinweis darauf, dass der Roman uns weniger befreit, wenn er uns erlösen möchte. Er befreit uns, wenn er uns auf uns selbst zurückwirft. Patrice Jean erinnert uns daran, dass es ohne die „vie intérieure“ keine Literatur gibt.

Aus Patrice Jeans Denken ergeben sich keine fertigen Terminus-Pakete, aber sehr klar konturierte semantische Gegenzonen zu dem, was die oben genannte Ausschreibung „Ressource“ nennt. Wo Ressource das Verfügbare, Berechenbare, für Zwecke Bereitzustellende meint, spricht Jean von jenen Dimensionen der Literatur, die sich genau dieser Zugriffsmacht entziehen. Seine Gegenbegriffe würden im Feld des Unverfügbaren liegen: Literatur ist für ihn nicht Vorrat, sondern Ereignis; nicht Kapital, sondern Risiko; nicht Rohstoff, sondern innere Notwendigkeit. Man müsste das Wort Ressource geradezu umpolen, indem man die Literatur nicht als Mittel begreift, sondern als eigenständige Form des Lebens. Jean denkt Literatur als etwas, das gerade dadurch wirkt, dass es niemandem dient: als Stimme, die vor jeder Funktion steht; als Erfahrung, die sich nicht in Wissen verwandelt; als Freiheit, die nicht mit Bewusstseinsbildung verrechnet werden kann.

Er würde das Innere des Menschen gegen seine soziale Verwertbarkeit setzen und könnte – ohne Pathos, aber mit allem Ernst – von Literatur als Innenraum sprechen, als Ort des Bewusstseins, als „vie invisible“, die sich keiner Evaluation erschließt. Statt Ressource erscheint hier die Idee des Überflüssigen, das gerade deshalb unersetzlich ist, weil es das Menschliche überhaupt erst garantiert. Jean spricht mit Vorliebe in Bildern von „frottement“, vom Reibungswiderstand zwischen äußerer Ordnung und innerer Wahrheit. Er würde sich eher auf das Dunkle als auf das Nützliche berufen, auf Stil und Singularität statt auf Daten und Diskurse. Seine Gegenbegriffe lauten Subjektivität, Ambivalenz, Risiko, Schicksal. Keiner davon ist marktfähig, und gerade darum gehören sie zur Literatur.

Eine Literatur, die Jean als Ressource bezeichnet sieht, wäre keine mehr. Seine Gegenbegriffe verteidigen das, was sich nicht umbenennen lässt: Literatur als Angriff und als Zuflucht, als Frage ohne Zweck, als Welt, die uns nicht erklärt, sondern verwandelt.

    Anmerkungen
  1. „davantage jugée selon l’orientation politique de son auteur que sur ses vertus littéraires“>>>
  2. Sacha Cornuel Merveille, „Patrice Jean : le sang contre les sciences“, Zone critique, 17. April 2024.>>>

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