Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune hat Boualem Sansal begnadigt (vgl. die vorangegangenen Artikel zu Sansal auf diesem Blog). Die Begnadigung erfolgte auf eine ausdrückliche Bitte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hin, der sich persönlich für den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels (2011) eingesetzt hatte.
Sansal ist 81 Jahre alt und leidet an Prostatakrebs. Steinmeier hatte in seiner Bitte den „fragilen Gesundheitszustand“ Sansals betont. Nach seiner Begnadigung traf Boualem Sansal am Abend des 12. November 2025 in Deutschland ein und befindet sich auf dem Weg zur medizinischen Versorgung in einem Krankenhaus. Die Freilassung wird international, insbesondere in Deutschland und Frankreich, als wichtige humanitäre Geste und Erfolg diplomatischer Bemühungen gewertet, nachdem frühere Bitten aus Frankreich abgelehnt worden waren.
Eine Analyse der medialen Narrative zeigt jedoch eine deutliche Spaltung zwischen einer primär humanitären Perspektive und einer geopolitischen Interpretation des Ereignisses.
Die Begnadigung des 81-jährigen französisch-algerischen Schriftstellers Boualem Sansal durch den algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune am 12. November 2025 beendete eine nahezu einjährige Inhaftierung, die weltweit scharfe Kritik ausgelöst hatte. Die internationale Berichterstattung nahm diese Entwicklung mit großer Erleichterung auf.
Sansal war im November 2024 am Flughafen von Algier festgenommen und später im März 2025 wegen Untergrabung der territorialen Integrität Algeriens zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Verurteilung stand im Zusammenhang mit kritischen Äußerungen Sansals in einem Interview, unter anderem zur Grenzregelung zwischen Marokko und Algerien.
Die Vorgehensweise indiziert, dass Algerien die Freilassung nicht als obligatorische humanitäre Pflicht, sondern als kalkulierten diplomatischen Tauschakt nutzte, um internationalen Druck abzubauen. Die algerische Regierung hatte monatelang die Forderungen Frankreichs, des ehemaligen Kolonialherrn und direkten Konfliktpartners in der Causa Sansal, ignoriert. Die erfolgreiche Intervention Steinmeiers, dessen Land weniger direkt in den algerisch-marokkanischen Grenzkonflikt involviert ist, ermöglichte es dem algerischen Regime, das Gesicht zu wahren und die Entlassung unter einem humanitären Vorwand zu legitimieren.
Während Frankreich und Deutschland den Akt als Erfolg der europäischen Diplomatie werteten, interpretierten kritische Stimmen im Maghreb (insbesondere in marokkanisch-affinen Medien) die Freilassung als eine „pitoyable capitulation“ des algerischen Regimes. Die internationale Zivilgesellschaft (PEN, IPA) begrüßte die Freilassung als notwendige Korrektur eines Justizfehlers gegen die Meinungsfreiheit.
Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, ein prominenter Kollege und Kritiker des algerischen Regimes, drückte seine Freude über Sansals Freilassung aus, forderte aber gleichzeitig, dass Algerien schnell „le chemin de la liberté“ (den Weg der Freiheit) finden müsse. Dieses Statement war zentral in der französischsprachigen Presse, da es klarstellte, dass die Gnade ein singulärer humanitärer Akt blieb und die strukturelle Unterdrückung der freien Meinungsäußerung durch Gesetze wie die „Gefährdung der nationalen Einheit“ in Algerien ungelöst lässt.
Die Freilassung war keine innenpolitische Geste der Liberalisierung, sondern ein pragmatischer Akt der Realpolitik in der internationalen Menschenrechtsdiplomatie. Der Hintergrund war die Notwendigkeit, weitreichende diplomatische Störungen zu vermeiden, da Sansals lebensbedrohlicher Zustand und seine Inhaftierung weltweit große Empörung hervorgerufen hatten. Algerien konnte durch diese Inszenierung die diplomatische Isolation durch einen humanitär kaschierten Tauschhandel beenden.
Die internationale Reaktion auf die Begnadigung im November 2025 ist nur im Kontext der vorangegangenen, langwierigen juristischen und diplomatischen Eskalation verständlich. Der Ursprung des Disputs lag in Äußerungen, die Sansal kurz zuvor im französisch-extrem rechten Magazin Frontières getätigt hatte. Er hatte darin die aktuellen Grenzen Algeriens infrage gestellt und argumentiert, dass der Westen Algeriens historisch zu Marokko gehöre, womit er indirekt die Ansprüche Rabats auf die Westsahara anerkannte. Diese Aussagen berührten den hochsensiblen, tief verwurzelten algerisch-marokkanischen Territorialkonflikt und wurden von den algerischen Behörden als „Gefährdung der nationalen Einheit“ oder „Verletzung der Integrität des Staatsgebiets“ gewertet.
Die juristische Eskalation setzte sich fort: Am 27. März 2025 wurde Sansal in erster Instanz zu fünf Jahren Haft verurteilt. Trotz der Appelle aus Frankreich und der internationalen Gemeinschaft bestätigte das Berufungsgericht in Algier am 1. Juli 2025 diese fünfjährige Haftstrafe. Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich sogar zehn Jahre Haft gefordert.
Die Bestätigung des Urteils im Juli 2025 löste eine Welle der Empörung bei internationalen Schriftsteller- und Verlegerverbänden aus, die den Druck auf Algier signifikant erhöhte. Die starken internationalen Reaktionen verdeutlichten, dass die algerische Regierung durch das Urteil gegen Sansal diplomatisch isoliert war. Obwohl Frankreich seit der Verhaftung diplomatischen Druck ausgeübt hatte, indem es einen „geste d’humanité“ forderte , wurde dieser anhaltende Appell aus Paris konsequent ignoriert. Dies diente Algier dazu, seine Haltung zu betonen und den Fall erfolgreich als politisches Instrument zur Stärkung seiner territorialen Position und zur Abgrenzung gegenüber dem ehemaligen Kolonialherrn zu nutzen. Die Inhaftierung wurde bewusst verlängert, um die diplomatischen Spannungen mit Frankreich zu instrumentalisieren.
Chronologie der Affäre Boualem Sansal
| Datum | Ereignis | Berichterstattung |
| Nov 2024 | Verhaftung in Algier nach Interview in Frontières | Beginn der diplomatischen Krise, Anklage wegen „Gefährdung der nationalen Einheit“. |
| Mär 2025 | Verurteilung zu 5 Jahren Haft in erster Instanz | Erste Welle internationaler Verurteilung; Macron fordert „geste d’humanité“. |
| Jul 2025 | Berufungsgericht bestätigt 5 Jahre Haft | Eskalation; verstärkter humanitärer Appell von PEN und IPA. |
| Nov 2025 | Präsident Steinmeier bittet Algerien um Gnade | Erfolgreiche diplomatische Intervention Deutschlands unter humanitärem Vorwand. |
| 12. Nov 2025 | Präsident Tebboune begnadigt Sansal | Fokus auf Humanität und medizinische Behandlung in Deutschland. |