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Paranoia als Vertrauensverlust
Il y a des faussetés déguisées qui représentent si bien la vérité que ce serait mal juger que de ne s’y pas laisser tromper. (La Rochefoucauld, Maximes, 282)
Es gibt getarnte Unwahrheiten, die die Wahrheit so gut darstellen, dass es falsch wäre, sich davon nicht täuschen zu lassen.
Lise Charles‘ Roman Paranoïa (P.O.L, 2025) ist ein literarisches Vexierspiel, das die Grenzen zwischen Realität und Fiktion im Zeitalter der Post-Wahrheit aufhebt und als scharfsinnige Diagnose der zeitgenössischen Identitätskrise fungiert. Das Werk, das in die engere Auswahl für den Prix Femina kam, erzählt die Geschichte der siebzehnjährigen Ex-Kinderdarstellerin Louise Milton und verbindet die formale Strenge der klassischen Moralistik mit der paranoiden Ästhetik moderner Überwachungsgesellschaften. Charles gelingt es, die „zu schwere Selbstwahrnehmung“ (trop lourde conscience de soi) der Gegenwart in einer anregend konstruierten, beunruhigenden Erzählung zu destillieren.
Das Buch Misstrauensgemeinschaften: zur Anziehungskraft von Populismus und Verschwörungsideologien des Soziologen Aladin El-Mafaalani (Kiepenheuer & Witsch 2025) befasst sich mit der tiefgreifenden Gefahr, die der gesellschaftlichen Stabilität und der liberalen Demokratie durch den Verlust von Vertrauen in hochkomplexe Systeme wie Medien, Wissenschaft und Politik droht. In einer komplexen Gesellschaft ist Vertrauen elementar für die Handlungsfähigkeit, da der Einzelne die unübersichtlichen Zusammenhänge aufgrund steigender Komplexität (bedingt durch funktionale Differenzierung, Globalisierung und Digitalisierung) nicht mehr überblicken oder kontrollieren kann. Wenn man dem „System“ misstraut, droht man handlungsunfähig zu werden. Um in diesem Zustand umfassenden Misstrauens dennoch handlungsfähig zu bleiben, wählen Individuen eine subjektiv rationale Alternative: Man vertraut anderen Misstrauenden, und zwar einzig und allein aufgrund des geteilten Misstrauens, nicht aufgrund von Qualifikation oder Kompetenz. Die digitale Vernetzung ermöglicht die Etablierung und Expansion von Misstrauensgemeinschaften, welche das Misstrauen stabilisieren und die Anziehungskraft von Populismus und Verschwörungsideologien verstärken. Das zentrale Anliegen von El-Mafaalanis Buch ist es, diesen Prozess als eine akute Gefahr zu analysieren, da Misstrauen die Legitimationsprobleme der Expertensysteme für Information und Wissen verstärkt.
Der Roman Paranoïa kann als literarische Illustration der individuellen und narrativen Konsequenzen einer Misstrauensgesellschaft interpretiert werden, da die Protagonistin Louise Milton in einer Welt lebt, in der das soziologische Misstrauen zur persönlichen psychischen Realität geworden ist. Louise leidet unter sozialer Paranoia und der Angst, permanent heimlich gefilmt zu werden, ganz wie das Filmvorbild The Truman Show. Diese Angst ist jedoch nicht nur pathologisch, sondern wird bestätigt: Ihre Mutter entwendet ihre Äußerungen für Comics auf Social Media, wodurch die „Thesen des Komplotts“ bestätigt werden. Im Sinne El-Mafaalanis, der argumentiert, dass Misstrauen gegenüber grundlegenden Strukturen ein enormes Problem schafft, erfährt Louise die totale „intolérable dépossession de soi“. Sie wird zu einer „héroïne de roman, persécutée par un auteur qui lui veut du mal“. Diese literarische Metapher der Verfolgung durch den Autor ist die radikalste Form des Kontrollverlusts über das eigene Leben und entspricht der soziologischen Erfahrung, in einer „Ära der Post-Wahrheit“ („ère post-factuelle“) zu leben, in der die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, weil die Expertensysteme (Medien, Fernsehen) die eigenen Erzählungen enteignen und verarbeiten.
Lise Charles transzendiert die individuelle Paranoia, indem sie die Haltung des Misstrauens als subjektiv rationale und sogar notwendige Überlebensstrategie im Sinne der Misstrauensgemeinschaften etabliert. Nachdem Louise die „Indécidabilité du point de vue de la véracité“ erlebt hat, zieht sie sich im zweiten Romanteil in die surreale Welt des Schlosses zurück, wo der Prince de Marsillac (alias der Moralist La Rochefoucauld) das „soupçon et la défiance y sont érigés en règle générale“. Die klassische Moralistik wird somit zur alternativen Systemlogik, die der chaotischen und undurchsichtigen Moderne intellektuelle Ordnung verleiht. Dies korrespondiert mit El-Mafaalanis These, dass die Etablierung von Alternativen (die Misstrauen strukturieren und Handlungsfähigkeit ermöglichen) ein Pull-Faktor für die Distanzierung von etablierten Systemen ist. Das tiefere Anliegen des Romans ist die Feststellung, dass in der „ère paranoïaque“ (paranoiden Ära) das „Sprachgebäude“ nicht mehr vor Misstrauen geschützt gehalten werden kann. Paranoïa zeigt literarisch, dass die Krise der Glaubwürdigkeit und der „Verlust der Wahrheit als regulative Idee“ zur „troisième thèse“ El-Mafaalanis führt: Misstrauen verbindet sich, reduziert radikal die Komplexität und wird zur konstitutiven Identität in einer Welt, in der die „frontière poreuse du réel et de la fiction“ das einzig Verlässliche ist.
Zweiteilung der Romanstruktur als Spiegel der Identitätskrise
Die Romanstruktur ist in zwei ungleich lange Teile geteilt, deren Atmosphären radikal voneinander abweichen. Diese Zweiteilung dient dazu, die Frage nach der Authentizität zu stellen, da die Teile „das verzerrte Bild des anderen“ darstellen, ohne dass klar ist, welches das Original ist: „Da alles nur Fiktion ist, kann man sagen, dass die eine authentischer ist als die andere?“.
Der erste Teil – der längere – etabliert Louises existentielle Entfremdung in der scheinbaren Realität des Pariser Elite-Gymnasiums. Nachdem ihre erfolgreiche Serie Lou y es-tu? aufgrund eines Skandals um den Schauspieler Renaud Wahl (ihren TV-Vater) gestoppt wurde, muss Louise in den normalen Schulalltag zurückkehren. Hier erlebt sie die „Unterscheidung durch das Fehlen der Unterscheidung“, da sie, um nicht aufzufallen, bewusst versucht, keine Besonderheit zu zeigen (z. B. durch das Tragen von Jeans und Converse anstelle eines Kostüms beim Theatervortrag).
Der zentrale Konflikt, der die erste Hälfte beendet, ist der Verlust ihrer fiktionalen Identität. Die Produzenten wollen die Serie ohne Louise neu auflegen, da sie zu alt geworden ist und „für die Fernsehwirtschaft unbrauchbar“ ist. Ihre jüngere Schwester Jeanne wird als ihre Nachfolgerin in der Rolle der Lou in Betracht gezogen, da sie ihr „wie ein Tropfen Wasser dem anderen“ ähnelt, was Louise als „intolerable Enteignung des Selbst“ empfindet. Ironischerweise ist Louise’s einziger Fluchtpunkt die Literatur (La Princesse de Clèves) und die gemeinschaftlichen Erzählungen mit Jeanne, in denen sie die Tragödie ihrer eigenen Ablösung vorwegnimmt.
Der Umschlag erfolgt, als Louise in einem Moment äußerster Verzweiflung und Eifersucht den Tod ihrer Schwester Jeanne wünscht, nachdem diese die Hauptrolle in der Neuauflage erhält. Der Tod tritt kurz darauf ein. Die zweite Hälfte beginnt mit Louises Flucht und ihrem Eintritt in eine traumähnliche, pastichierte Welt, die visuell an filmische Werke wie David Lynchs Mulholland Drive erinnert. Die Abwesenheit von Übergängen (absences de transition) und die Ellipsen betonen die Diskontinuität zwischen den beiden Hälften.
Im Schloss-Ambiente, das auch an einen möglichen psychiatrischen Aufenthalt denken lässt, wird Louises reale Paranoia in einen narrativen Krimi verwandelt. Sie beginnt zu glauben, dass ihr Onkel Charlie der mysteriöse „Smaragd-Killer“ (tueur aux émeraudes) ist, da er ihr einen Smaragdring mit einer merkwürdigen Gravur geschenkt hat. Louise sucht aktiv nach einem Weg, die Geschichte zu beenden, indem sie den Prince de Marsillac tötet und ihn in einer improvisierten lappländischen Hütte begräbt, wobei ihre Komplizin die als Manon verkleidete Bérengère ist. Der Akt der Tötung (oder der Beendigung des Plots) erfolgt, nachdem Louise das Gefühl hat, dass Marsillac ihr die Augen geöffnet hat, was sie ihm übelnimmt: „Man hasst diejenigen, die einem die Augen öffnen“ (On hait ceux qui nous ouvrent les yeux). Die Struktur dient somit als tiefgreifende Untersuchung der Grenzziehung zwischen Wahrheit und Fiktion.
Metafiktionalität und moralistische Zersetzung des Selbst
Die Poetik von Paranoïa wird zentral durch zwei literarische Strategien bestimmt: die Metafiktionalität und die Strategien der Intertextualität gegenüber den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts. Louise, die Protagonistin, erlebt ihre Existenz als eine von außen gesteuerte Aufführung, eine Erfahrung, die direkt mit der metafiktionalen Anlage des Romans korrespondiert. Louise, die ehemalige Heldin der erfolgreichen Serie Lou y es-tu?, empfindet eine tief sitzende soziale Paranoia und die ständige Angst, heimlich gefilmt zu werden, selbst während ihres ersten Kusses. Diese Angst, die an den Film The Truman Show erinnert, wird im Roman gleich zweifach bestätigt. Zum einen verwendet ihre Mutter, eine Künstlerin (artiste-peintre), Louises spontane Äußerungen und Dialoge für Comics (bandes dessinées), die sie auf Social Media veröffentlicht, wodurch Louises Privatsphäre ständig ausgebeutet wird. Zum anderen wird Louise schmerzhaft bewusst, dass sie ein fiktionaler Charakter ist, der von der Autorin manipuliert wird. Sie beschreibt sich explizit als „eine Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“. Dieses Unbehagen manifestiert sich in ihrem Gefühl der „intolerablen Enteignung des Selbst“ (intolérable dépossession de soi). Die Realität erscheint ihr als ein „Stoff von schlechter Qualität“ (tissu de mauvaise qualité) oder ein von Racine strukturierter Plot, in dem nichts dem Zufall überlassen ist.
Die metafiktionale Ebene verbindet sich in der surrealen Hälfte des Romans mit der Moralistik des 17. Jahrhunderts. Nachdem eine Tragödie (möglicherweise der Tod ihrer Schwester Jeanne, den Louise innerlich gewünscht hatte) Louise „auf die andere Seite des Spiegels“ projiziert, findet sie sich in einem weitläufigen, traumhaften Schloss wieder. Dort trifft sie den Prince de Marsillac – ein direkter Verweis auf La Rochefoucauld, dessen Titel Marcillac war. 1 Der Prinz dient als Zyniker und Lehrer in „esoterischen Kursen“, der jede menschliche Interaktion unter dem Filter des „amour-propre“ (Selbstliebe) analysiert.
Marsillacs Lehren zersetzen Louises moderne soziale Konzepte: Freundschaft ist lediglich eine „Gesellschaft, eine gegenseitige Interessenspflege, ein Austausch von Diensten,“ bei dem der amour-propre immer versucht, etwas zu gewinnen. Komplimente sind primär Manifestationen von Neid, da jedes gelobte Objekt gleichzeitig begehrt wird und somit eine Bedrohung für die „negative Face“ des Komplimentierten darstellt. Die Moquerie ist schwerer zu ertragen als Beleidigungen, weil es lächerlich wirkt, sich über Spott aufzuregen, was die Demütigung nur verstärkt.
Marsillacs kalte Logik lehrt Louise, dass die Paranoia selbst eine vernünftige Lebensweise ist: „Man lebt sehr gut, wenn man paranoid ist“ („On vit très bien en étant paranoïaque“). Die narrative Virtuosität Charles‘ liegt darin, die hochmoderne Krise der Authentizität durch eine klassische, barocke Linse zu betrachten, in der Verstellung und Berechnung die Grundlage des sozialen Lebens bilden.
La Rochefoucaulds Grenzen des Vertrauens
La Rochefoucaulds Werk entstammt laut Fritz Schalk in Die französischen Moralisten (Sammlung Dieterich, 1938) dem Zustand der Desillusionierung und zeigt „kühle Illusionslosigkeit, lieblose Schärfe des Tadels, Skepsis“. Schalks Argumentation zum Misstrauen und zur Verstellung beruht darauf, dass der Moralist die „moralische Plattheit“ seiner Zeit überwinden wollte, indem er die gesellschaftlich zur Schau gestellte Tugend als illusionär entlarvte. Das zentrale Anliegen La Rochefoucaulds, wie Schalk es darlegt, ist die radikale Entlarvung der menschlichen Motivationen, da diese fast immer vom Eigennutz (amour-propre) angetrieben werden. Der Moralist suchte „was er in Wirklichkeit und in Wahrheit ist“ und schuf ein Porträt des menschlichen Herzens, das „allzu ähnlich sei und nicht genug schmeichle“. Schalk beschreibt, dass La Rochefoucaulds Blick auf die Welt Ausdruck einer „argwöhnischen und desillusionierenden Weltverneinung“ sei.
Die Maske und die Verstellung sind demnach konstituierende Elemente der höfischen Moralistik, die La Rochefoucauld systematisch entlarven wollte. Die „Lüge“ und die Verstellung sind tief in der Gesellschaft verwurzelt. La Rochefoucauld „spürte die Verstellung in allen Schlupfwinkeln auf, in allen Formen, in die sie sich versteckte“. Die „Demut“ („humilité“) ist laut einer Maxime oft „nur eine erheuchelte Unterwerfung“ und „ein Kunstgriff des Stolzes“, wobei sie „niemals besser verkappt und fähiger zu täuschen“ („mieux déguisé et plus capable de tromper“) ist, als wenn sie die Maske der Demut trägt. Tatsächlich ist die Welt, wie eine Reflexion konstatiert, aus „lauter Masken“ („le monde est composée de masques“) zusammengesetzt. Selbst die Frauen „schämen sich“ oft, ihre „versteckten Laster“ zu zeigen, und die Ehrbarkeit der Frauen bestehe „oft nur in der Kunst, ehrbar zu scheinen“. Die moralistische Psychologie, die Charles mit Schalks Texten beleuchtet, belegt, dass die höfische Gesellschaft ein Ort ist, an dem wir „gewohnt [sind], uns vor andern zu verstellen, dass wir uns am Ende vor uns selbst verstellen“.
Fritz Schalk versteht La Rochefoucaulds Denken als eine konsequente Anthropologie der Masken, in der Misstrauen nicht bloß Stimmung, sondern methodisches Prinzip ist. Im Zentrum steht für ihn die Entdeckung der Eigenliebe als Grundmotiv allen Handelns – jenes verborgenen Triebs, der die Tugenden in bloße „verkappte Laster“ verwandelt und jede moralische Geste grundsätzlich verdächtig macht. Schalk betont, dass La Rochefoucauld hinter jeden moralischen Ausdruck zurückgeht, um den verborgenen Kern freizulegen, und dass dadurch ein Weltbild entsteht, in dem der Schein selbst zur primären sozialen Realität wird. Der Hof bildet für diese Beobachtungen den paradigmatischen Raum: ein Milieu, in dem das soziale Leben durch Verstellung, Miene, Haltung und rituellen Schein reguliert ist. Schalk verweist darauf, wie häufig La Rochefoucauld die Maskenhaftigkeit dieses Raums benennt – etwa wenn er feststellt, „die Welt bestehe aus lauter Masken“, oder wenn Demut, Redlichkeit, Aufrichtigkeit selbst als raffinierte Formen der Täuschung erscheinen. In dieser höfischen Ordnung ist Echtheit strukturell ausgeschlossen; sie erzwingt geradezu jene Kunst des Sich-Verbergens, die La Rochefoucauld mit unbestechlicher Schärfe analysiert.
Das Misstrauen, das daraus resultiert, hat bei Schalk jedoch keinen bloß moralischen Beiklang, sondern wird zum Erkenntnismittel. Die Moralisten wirken als Entlarver. In dieser psychologisch zugespitzten Perspektive verbindet sich eine richtende Schärfe des Urteils mit der Einsicht, dass Täuschung und Maskierung gesellschaftlich notwendig sind. Aus der desillusionierenden Analyse entsteht so etwas wie politische Weltklugheit: ein nüchterner Realismus, der die Notwendigkeit der Gesellschaft trotz ihrer Täuschungsmechanismen anerkennt. Schalk zeigt, wie La Rochefoucauld dadurch zugleich ein pessimistischer Diagnostiker und ein scharf beobachtender Analytiker wird – einer, für den die höfische Welt das große Experimentierfeld der Täuschungen ist und das Misstrauen das einzig angemessene Instrument, um hinter die glatte Oberfläche des sozialen Lebens zu schauen.
Die fiktionale Funktionalisierung der Moralistik von François VI., Duc de La Rochefoucauld (1613–1680), in Lise Charles’ Roman Paranoïa ist ein literarischer Schachzug: Charles benutzt die strengen und teils zynischen Aphorismen des 17. Jahrhunderts, um die Krise der Authentizität und die allgegenwärtige „zu schwere Selbstwahrnehmung“ (trop lourde conscience de soi) der Post-Wahrheit-Ära zu analysieren. Um die tiefere Bedeutung dieser Strategie in Paranoïa zu erfassen, muss man den historischen La Rochefoucauld, sein Werk und die literaturwissenschaftliche Deutung seines Prozesses des Maskenablegens verstehen.
François VI. Herzog von La Rochefoucauld entstammte einer alten und hochgestellten Familie. Sein Leben war geprägt von den Turbulenzen der Fronde (1648–1652), dem Aufstand des Adels gegen die Alleinherrschaft des Monarchen. Nach dem Scheitern seiner politischen und militärischen Ambitionen zog sich La Rochefoucauld zurück, gezeichnet von „Narben, Erfahrungen, Enttäuschungen und Erkenntnissen“. Aus diesem Zustand der desillusionierten Niederlage wandelte sich der „Täter und Dulder“ zu einem Moralisten der Betrachtung und philosophischen Erkenntnis.
Sein Hauptwerk, die Maximes (erstmals 1665 veröffentlicht), verfolgte nicht das Ziel zu ergründen, „was der Mensch zu sein scheint, sondern was er in Wirklichkeit und in Wahrheit ist“. Die Maximen, von denen insgesamt 641 in verschiedenen Ausgaben überliefert sind, bedienen sich der Technik der Entlarvung, eines Verfahrens, das die Beobachtungen zur menschlichen Natur als eine Demaskierung dessen, was normalerweise als moralisches Leben betrachtet oder beansprucht wird, rahmt. Diese Methode steht in einer Tradition der „Hermeneutik des Argwohns“, die annimmt, dass das „gesamte Bewusstsein (…) ein ‚falsches‘ Bewusstsein“ sei. Diese radikale Zweifelshaltung wurde später mit Denkern wie Marx, Nietzsche und Freud in Verbindung gebracht, doch La Rochefoucauld entwickelte sie bereits im 17. Jahrhundert im Kontext der Jansenisten und des aufkommenden Machiavellismus.
In seiner Reflexion „De la confiance“ („Vom Vertrauen“) grenzt La Rochefoucauld die „confiance“ (Vertrauen) von der „sincérité“ (Aufrichtigkeit) ab, obwohl beide in Beziehung stehen. Aufrichtigkeit wird als eine „Öffnung des Herzens“ (ouverture de cœur) definiert, die uns so zeigt, wie wir sind (tels que nous sommes). Sie ist ein „Lieben der Wahrheit“ (amour de la vérité) und eine Abneigung, sich zu verstellen (répugnance à se déguiser), sowie der Wunsch, „sich von seinen Fehlern freizukaufen“ und sie zu verringern, indem man sie zugibt („se dédommager de ses défauts, et de les diminuer même par le mérite de les avouer“). Im Gegensatz dazu ist das Vertrauen enger gefasst und gewährt nicht so viel Freiheit. Die Regeln des Vertrauens sind strenger, da es „mehr Vorsicht und Zurückhaltung“ („plus de prudence et de retenue“) verlangt. Der Grund dafür ist, dass es beim Vertrauen nicht nur um das eigene Interesse geht, sondern die eigenen Interessen mit denen anderer vermischt sind („nos intérêts sont mêlés d’ordinaire avec les intérêts des autres“).
La Rochefoucauld Text betont die Notwendigkeit, dem Vertrauen Grenzen zu setzen („y mettre des bornes“) und es „ehrlich und treu“ („honnête et fidèle“) zu gestalten. La Rochefoucauld hält es für wichtig, dass Vertrauen „stets wahr und stets vorsichtig“ („toujours vraie et toujours prudente“) ist und weder Schwäche noch Eigeninteresse zeigt („qu’elle n’ait ni faiblesse ni intérêt“). Obwohl Vertrauen für die „Bindung der Gesellschaft und der Freundschaft“ (lien de la société et de l’amitié) notwendig ist, stellt La Rochefoucauld die Motivationen, warum Menschen Vertrauen schenken, infrage und führt sie auf den amour-propre (Selbstliebe) zurück: Vertrauen geschieht oft aus Eitelkeit (par vanité). Es dient dem Wunsch, „selbst reden zu wollen“ (par envie de parler). Es ist ein Mittel, „das Vertrauen anderer anzuziehen“ (d’attirer la confiance des autres) und „Geheimnisse auszutauschen“ (faire un échange de secrets). Vertrauen ist somit nicht rein, sondern ein „Tribut, den wir dem Verdienst des anderen zahlen“ (tribut que nous payons à son mérite) und ein „Pfand“ (gages), das dem Empfänger ein Recht auf uns verleiht und uns in eine „freiwillige Abhängigkeit“ (sorte de dépendance où nous nous assujettissons volontairement) bringt.
Diese kritische Analyse, die die Notwendigkeit des Misstrauens betont, spiegelt sich in Lise Charles‘ Roman Paranoïa wider, wo die Protagonistin Louise Milton in einer Welt lebt, in der „Aufrichtigkeit nur eine feine Täuschung [ist], um das Vertrauen anderer zu erwecken“ (fine dissimulation pour attirer la confiance des autres), und in der es als klüger gilt, Misstrauen zur allgemeinen Regel zu erheben, um nicht getäuscht zu werden.
Der Kern der Moralistik La Rochefoucaulds ist das Konzept des amour-propre (Selbstliebe). Er sah die Tugenden zumeist nur als „Laster in Verkleidung“ („vices deguisés“). Die literaturwissenschaftliche Debatte ringt um die Interpretation dieses radikalen Reduktionismus: Ist La Rochefoucauld ein augustinischer Moralist, der die Verderbtheit des gefallenen Menschen beschreibt, oder ein weltlicher (säkularer) Realist, der psychologische Beobachtungen im Sinne der wissenschaftlichen Revolution betreibt? Obwohl der Autor zeitweise in jansenistischen Kreisen verkehrte und seine Maximes aus einem solchen Milieu hervorgingen, war La Rochefoucauld bemüht, alle expliziten religiösen Verweise zu entfernen und ein „streng säkulares“ Studium von Handlung und Motivation zu entwickeln, vergleichbar Machiavellis politischem Realismus. Seine Maximes waren ein „System der Selbsterkenntnis, das sich als unmöglich erweist“.
Die Wirkung dieser moralistischen Texte auf die zeitgenössische Fiktion und Gesellschaft war tiefgreifend. Sie stellte die Grundlagen des Adels in Frage, dessen Privilegien auf der Tugendhaftigkeit und der Treue seiner Mitglieder beruhten. Die Maximen fungierten als Nachruf auf den Adel als Ganzes, weil sie zeigten, dass die noblen Qualitäten nur Fassade für eigennützige Berechnung waren. Das Misstrauen und die Berechnung, die La Rochefoucauld in seinen Maximes darlegte, waren die rationale Antwort auf eine von Absolutismus und Manipulation geprägte Hofgesellschaft, in der „Misstrauen und Defiance zur allgemeinen Regel erhoben“ waren.
Lise Charles nutzt diese Texte gezielt, um ihre Protagonistin Louise Milton in der „Ära der Post-Wahrheit“ zu orientieren. Der Maxime-Autor erscheint in Form des Prince de Marsillac – eine bewusste Anspielung, da Marcillac einer der Titel des historischen La Rochefoucauld war.
Charles, deren Spezialität der Pastiche eines Romans aus dem 17. Jahrhundert ist, transponiert Marsillac in einen traumartigen oder albtraumhaften Schloss-Kosmos. Dieser formale Rahmen, der mit „Absencen von Übergängen, Ellipsen, Masken und Identitätswechseln“ arbeitet, ist die perfekte fiktionale Umgebung für die Moralistik. Denn in diesem surrealen Raum wird die von La Rochefoucauld beschriebene Berechnung zur physikalischen Konstante: „der Argwohn und die Defiance sind dort zur allgemeinen Regel erhoben“.
Marsillac liefert Louise die intellektuelle Struktur, die es ihr erlaubt, ihre mediale und existenzielle Paranoia als Rationalität zu begreifen. Louise fühlt sich als „Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“. La Rochefoucaulds Texte, die die allgegenwärtige „Maliziösität“ (malignité) der menschlichen Natur betonen, legitimieren Louises tiefes Misstrauen gegenüber allen sozialen Interaktionen.
Charles zeigt, dass La Rochefoucaulds Moralistik als diagnostisches Werkzeug in der modernen Gesellschaft funktioniert. Als Louise eifersüchtig auf ihre jüngere Schwester Jeanne ist, wird La Rochefoucauld von ihrer Mutter zitiert, um die natürliche und unkontrollierbare Natur der Eifersucht zu erklären: „Wenn man unglücklich ist, könnte man sich wenigstens über das Glück der anderen freuen, aber die Eifersucht nimmt uns sogar diesen Trost“. Die Maximen dienen nicht dazu, Louise zu trösten, sondern ihr eine zeitlose, zynische Wahrheit über die menschliche Natur zu vermitteln, die in einer von „medialer Ausbeutung“ und „fiktiver“ Existenz geprägten Welt stabiler ist als die vordergründigen Behauptungen der Gegenwart.
Die Fiktionalisierung La Rochefoucaulds bei Charles ist eine metanarrative Spiegelung: Sie nutzt die historische Poetik der Entlarvung, die im 17. Jahrhundert die aristokratische Tugend zersetzte, um im 21. Jahrhundert die „poröse Grenze des Realen und der Fiktion“ zu untersuchen. Marsillac, der historische Skeptiker, wird zum unentbehrlichen Führer der post-faktischen Heldin, indem er sie lehrt, dass Misstrauen nicht Wahnsinn, sondern die einzige Vernunft ist. Die zeitgenössische Angst vor der Überwachung wird durch die zeitlose Einsicht der Moralisten, dass „die Menschheit von Natur aus zur Täuschung neigt“, sublimiert und rationalisiert.
Die Gegenwartskultur: Diktat der Performance und ethischer Dogmatismus
Der Roman ist eine scharfe Satire der zeitgenössischen Gesellschaft und ihrer kulturellen Codes, die von Medialisierung und moralischer Hysterie geprägt sind.
Mediale Performance und Selbstkontrolle
Die Angst, die Louise vor ständiger Überwachung empfindet, ist ein extremes Beispiel für den heutigen Drang zum Reputationsmanagement. Ihr Mitschüler Maxime verfolgt eine akribisch geplante Social-Media-Strategie, um für künftige Arbeitgeber an Elite-Schulen (HEC oder ESSEC) „sauber“ (clean) zu wirken. Er postet nur unverdächtige Fotos (z. B. von Sportaktivitäten) und vermeidet alles „potenziell Kompromittierende“, aus Angst, Algorithmen könnten frühere Verfehlungen aufspüren und ihm in vier Jahren den Job kosten. Seine Paranoia ist nicht die der Überwachung, sondern die der Reputation.
Dieser Zwang zur Performance erstreckt sich auf die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen. Louise beobachtet, wie Mitschülerinnen technische oder inszenierte Fähigkeiten nutzen, um Gefühle zu erzeugen: Bérengère nutzt einen „tear blower“ (Mentholkristalle) oder erinnert sich an traumatische Ereignisse, um auf Befehl Tränen zu vergießen. Tess weint augenblicklich, wenn sie an den „Krieg in der Ukraine“ denkt, eine Phrase, die in ihrem Freundeskreis zur zynischen Chiffre wird. Louise selbst synchronisiert ihr Lachen in der Kantine mit dem der anderen, um nicht aufzufallen. Der Roman zeigt, dass wahre Empfindungen durch das Diktat der Authentizität unmöglich geworden sind.
Satire über Dogmatismus und Moraldebatten
Charles kritisiert die gegenwärtige Diskurskultur, indem sie ideologische Positionen als gloubi-boulga von Selbsthilfe-Mantras oder als „militantes Fertigdenken“ (prêt-à-penser militant) darstellt, die zu einer „Niederlage des Denkens“ führen.
Die MeToo-Debatte wird durch den Geschichtslehrer M. Pépin satirisiert, der reaktionäre Tiraden über die „libération de la parole“ und den „lynchage médiatique“ (mit Verweis auf Renaud Wahl) hält und dabei sichtbar genießt, die Empörung seiner Schüler zu provozieren.
Die Identitätspolitik wird am Beispiel von Raphaël, der sich als non-binär definiert, verhandelt. Raphaël nutzt linguistische Theorien (Ferdinand de Saussure) – das Wort „chien“ habe nichts mit der Realität des Hundes zu tun – um zu argumentieren, dass der ihm zugewiesene Name ihn nicht definiere. Sein Versuch, seine Identität zu erklären, trifft jedoch auf unverständiges Gelächter und die Wut von Louises Onkel Charlie. Charles verurteilt nicht Raphaëls Identität, sondern die dogmatischen Reaktionen. Charlie lehnt den Begriff „non-binär“ als „Vokabular für Idioten“ (vocabulaire à la con) und eine Form der aggressiven „adoleszenten Revolution“ ab, die nur dazu diene, diejenigen anzugreifen, die sich als binär definieren.
Auch Louises Freundin Manon stellt fest, dass selbst progressive Diskurse zu Starrheit führen. Sie wehrt sich gegen die gesellschaftliche „Zwang“ zur Elternschaft (injonction constante) und erklärt ihren „Nicht-Kinderwunsch“ (non-désir d’enfant) als eine Reaktion auf die beobachteten Misshandlungen, denen Mütter ausgesetzt sind. Im Roman wird jeder moralische oder emotionale Ausbruch sofort unter den Verdacht gestellt, eigennützigen oder dogmatischen Zielen zu dienen.
Öko-Angst und Realitätsflucht
Die Verwirrung der Gegenwart manifestiert sich auch in der Angst vor dem nahenden Ende der Welt, verkörpert durch Louises Vater. Er leidet an Öko-Angst (éco-anxiété) und chronischer saisonaler Depression, was sich in der obsessiven Verwendung eines Franglais im Stil von Jean-Claude Van Damme äußert. Die Angst vor dem Klimawandel ist so groß, dass die Familie ihr Haus in der Bretagne verkauft hat, um einer befürchteten Überschwemmung in hundert Jahren zu entgehen. Der Vater interpretiert den Pessimismus als ultimative Klarheit (lucidité) und nutzt die apokalyptische Vorhersage – die „Ende der Menschheit“ sei bald (humanity is going to its end) – als Ausrede, um sich dem Alltag zu entziehen.
Die Flucht vor dieser chaotischen, mediatisierten und moralisch überlasteten Realität wird in Louises Wunsch nach literarischer Ordnung gespiegelt: Sie zieht die „ruhige und leuchtende Sprache“ (langage tranquille et lumineux) des Pfadfinderhandbuchs Copain des bois (Ausgabe von 1994, die den Klimawandel als harmlos darstellt) den „verrückten Tiraden“ ihres Vaters vor.
Synthese: Der paranoide Geist als rationale Antwort
Lise Charles’ Roman Paranoïa enthüllt die zeitgenössischen Kommunikationsformen als ein dichtes Geflecht aus Überwachung, Performance und Zynismus, das die fiktionale Struktur des Werkes maßgeblich prägt und letztlich zur „Indezidierbarkeit des Punktes der Wahrhaftigkeit“ (indécidabilité du point de vue de la véracité) führt. Im ersten Teil des Romans manifestiert sich dies primär als Kommunikationsdiktatur und Enteignung des Selbst. Die Ex-Kinderdarstellerin Louise Milton fürchtet permanent, heimlich gefilmt zu werden, eine Angst, die der The Truman Show ähnelt. Diese Paranoia ist begründet, da ihre Mutter ihre Äußerungen stiehlt, um daraus Comics für Social Media zu erstellen. Selbst Louises Dialoge finden ihren Weg in die Öffentlichkeit, transformiert in traurige Anekdoten und Hashtags. Die Protagonistin nimmt schmerzhaft wahr, dass sie zu einer „Romanheldin, verfolgt von einem Autor, der ihr Böses will“ geworden ist, und ihre Existenz auf eine bloße Wikipedia-Fiche reduziert wird. Diese ständige Mediatisierung führt zur „intolerablen Enteignung des Selbst“ (intolérable dépossession de soi) und zwingt Louise zur kommunikativen Selbstkontrolle: Sie entscheidet sich, bei Auftritten eine unpassend hohe Stimme anzunehmen, nur um nicht den Eindruck zu erwecken, sie stehe über der Situation.
Diese Krise der Authentizität wird durch eine Performanz-Ökonomie verschärft, in der Emotionen nur noch als kalkulierte oder technische Fähigkeiten kommuniziert werden. Louise trainiert, ihr Lachen zu synchronisieren, um nicht à contretemps (außer Takt) zu liegen, während Mitschülerinnen wie Bérengère Hilfsmittel wie „tear blowers“ (Mentholkristalle) oder essbare Fake-Rotze (fausse morve, morve comestible) nutzen, um Tränen und Krankheiten zu inszenieren. Die Darstellung von Gefühlen wird zur technischen Disziplin. Gleichzeitig zirkulieren ideologisch aufgeladene Diskurse: Die Tiraden des Geschichtslehrers M. Pépin über die libération de la parole und den lynchage médiatique werden als reaktionäres Genussmittel dargestellt, während sich politische Identitätsdebatten (z. B. über non-binäre Identität oder Identitätswörter wie beurette) in dogmatisches „Vokabular für Idioten“ (vocabulaire à la con) oder „militantes Fertigdenken“ (prêt-à-penser militant) verwandeln. Die Kommunikation in der Gegenwartskultur ist daher primär von Fassade, Misstrauen und dem Versuch geprägt, die eigene Face zu wahren oder zu diskreditieren.
Als Reaktion auf diese moderne Verwirrung greift der Roman auf klassische und meta-linguistische Kommunikationsformen zurück, was Lise Charles‘ literarische Spezialität ist. In der zweiten, surrealen Hälfte übernimmt der Prince de Marsillac (eine Anspielung auf La Rochefoucauld) die Rolle eines zynischen Lehrmeisters. Seine Kommunikation besteht aus formalen, moralistischen Maximen, die moderne Verhaltensweisen wie Freundschaft oder Komplimente als reine „Gesellschaft, ein gegenseitiges Management von Interessen“ und Ausdruck des amour-propre (Selbstliebe) deuten. Parallel dazu zerlegen die Kurse der „Modernitäten“ die Interaktion in akademische Begriffe wie „Actes Menaçants pour la Face“ (AMF). Diese Kommunikationstheorien bestätigen Louises Paranoia, indem sie soziale Interaktion als permanente Bedrohung darstellen, in der jeder Sprechzug die Gefahr des Gesichtsverlusts birgt. Selbst Komplimente sind demnach intrinsisch menaçend (intrinsèquement menaçante). Die explizite Diskussion „performativer Verben“ – ein Autor kann seinen Charakter töten, indem er es einfach ausspricht – macht die Kontrolle der Autorin über die Figur Louise direkt zum Gesprächsthema.
Die tiefgreifende Wirkung dieser Kommunikationsformen auf die Fiktion ist die Zersetzung der narrativen Glaubwürdigkeit und der Schaffung einer paranoiden Ästhetik. Die ständige „Partie de saute-mouton entre réalité et fiction“ (Hickelspiel zwischen Realität und Fiktion) macht Wahrheit unauffindbar, da selbst die Erzählerin zugibt, dass die Realität manchmal „schmollt und sich weigert, am Konzert teilzunehmen“. Louises Erkenntnis, dass sie in einem „perversen Roman“ gefangen ist, in dem sie zugleich Autorin und Heldin ist, ist die direkte Folge einer Kommunikationswelt, in der die Zeichen manipuliert, die Worte gestohlen und die Gefühle inszeniert werden. Letztlich impliziert der Roman, dass in der Ära der Post-Wahrheit (ère post-factuelle) der paranoide Geisteszustand zur einzig rationalen Antwort wird. Die Fiktion wird zu einer „Fabel“ (fable), die Maximen illustriert, und der Akt des Erzählens dient nicht der Offenbarung der Wahrheit, sondern der Demonstration der universellen „Maliziösität“ (malignité naturelle) der menschlichen Natur, da man selbst an den traurigsten Ereignissen einen „geheimen Genuss“ findet.
Paranoïa nutzt eine so präzise wie verspielte Erzählweise, um zu zeigen, dass in einer Gesellschaft, in der alles Fiktion ist und die Wahrnehmung zur Währung wird, die Paranoia zur notwendigen geistigen Haltung avanciert. Louises Zustand ist nicht nur eine psychische Störung, sondern eine logische Reaktion auf ein Umfeld, in dem ihr Leben ständig entwendet, verarbeitet und gegen sie verwendet wird (sei es durch die Mutter, die Produzenten oder die Mitschüler).
Der Roman schafft einen vertikalen Dialog zwischen der formalen, zynischen Weisheit der Barockzeit (Marsillac lehrt: Liebe ist eine Krankheit, Freundschaft ist Kalkül) und der horizontalen, chaotischen Verwirrung der Moderne. Die metafiktionale Einsicht, dass „die Fiktion niemals ein Betrug ist, weil sie immer ein Betrug ist“, erlaubt es Louise, am Ende die Rolle der Autorin zu übernehmen, indem sie den Marsillac-Plot absichtlich beendet. Doch selbst in dieser scheinbaren Kontrolle bleibt Louise in einem ewigen Loop gefangen, überzeugt, eine von einem bösartigen Schöpfer verfolgte Figur zu sein. Paranoïa ist eine Reflexion darüber, dass in der Ära der Post-Wahrheit die einzige Möglichkeit, das Unerträgliche der Selbstwahrnehmung zu bewältigen, darin besteht, sich selbst als Figur in einem Plot zu akzeptieren, dessen Regeln man, selbst wenn sie unvernünftig erscheinen, befolgen muss, um nicht im Chaos zu versinken.
Auswege?
Die höfische Gesellschaft Frankreichs im 17. Jahrhundert, insbesondere zur Zeit La Rochefoucaulds und der Fronde, kann als eine historische Entsprechung einer Misstrauensgemeinschaft im soziologischen Sinne Aladin El-Mafaalanis interpretiert werden, wenn auch ohne die modernen digitalen Infrastrukturen. El-Mafaalani beschreibt die Misstrauensgemeinschaft als ein Phänomen in hochkomplexen Gesellschaften, in denen der Einzelne die Zusammenhänge nicht mehr kontrollieren kann und das Vertrauen in Expertensysteme verliert. Um handlungsfähig zu bleiben, vertraut man anderen Misstrauenden, allein aufgrund des geteilten Misstrauens. Die höfische Gesellschaft entsprach einer solchen psychologisch und politisch hochkomplexen Struktur: Sie war ein atomisiertes Umfeld, in dem Argwohn zur allgemeinen Regel erhoben war. Der Aufstieg des Absolutismus und das Scheitern des Adels in der Fronde führten zu einer „Psychologie des Interesses“, bei der das Überleben die ständige Entlarvung der Motive anderer erforderte. Dieses universelle Misstrauen („défiance“) der Höflinge, das La Rochefoucauld in der Maxime „Notre défiance justifie la tromperie d’autrui“ festhielt, war eine subjektiv rationale Strategie, um in einem System der allgegenwärtigen Verstellung („dissimulation“) nicht getäuscht zu werden, und machte die höfische Gesellschaft zu einer Gemeinschaft des kalkulierten Argwohns.
La Rochefoucauld selbst bietet keinen moralischen oder religiösen Ausweg (im Sinne der Jansenisten oder der frommen Humanisten). Sein Ziel ist stattdessen eine „Anatomie aller Falten des Herzens“ (anatomie de tous les replis du cœur) und die Etablierung einer säkularen psychologischen Analyse des Handelns. Sein Ausweg aus dem allgemeinen Misstrauen und der Täuschung liegt in einer heroischen Aufrichtigkeit und intellektuellen Klarheit. Der moralistische Akt der Entlarvung ist für den Adel ein Weg, „den Mut zu haben, die Verderbtheit der Menschen auszusprechen und zu artikulieren“. Dies bedeutet, die Wahrheit über den amour-propre (Selbstliebe) zu akzeptieren, dessen Wirken unentrinnbar ist. Für das praktische Leben empfiehlt La Rochefoucauld die Vorsicht (prudence) und Zurückhaltung (retenue) des Honnête Homme, der die Grenzen seiner eigenen Verstellung und die der anderen kennt. Misstrauen wird nicht aufgelöst, sondern durch Selbsterkenntnis rationalisiert: „Wer sich selbst misstraut, dessen bester Teil ist Schweigen“.
El-Mafaalani sieht Misstrauen nicht primär als individuellen Fehler, sondern als Folge struktureller Komplexität, Verrechtlichung und sich häufender Krisen. Sein Anliegen ist es, Wege zu finden, um die durch Misstrauen gefährdete gesellschaftliche Stabilität und liberale Demokratie zu bewahren. Kurzfristige Lösungsansätze wie einfache Kommunikationsstrategien gelten als kontraproduktiv. Der Ausweg liegt in einem neuen Umgang mit Unsicherheiten und Komplexität sowie der Stärkung positiver Zukunftserwartungen. Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen dem funktionalen und dem normativen Misstrauen. Funktionales Misstrauen (das Institutionen und Machtverhältnisse kritisch hinterfragt) ist konstruktiv und eine „Ressource gesellschaftlicher Selbstregulierung“, die Legitimationsprobleme sichtbar macht. Das Ziel muss sein, dieses funktionale Misstrauen zu bewahren und das normative, destruktive Misstrauen (das zur kollektiven Identität wird) zu isolieren. Praktisch kann dies durch „sicher geglaubte Erwartungen“ und die Sichtbarmachung von interner Kontrolle (z. B. Faktenchecks in Medien) geschehen, um das bestehende Vertrauen zu stabilisieren.
Lise Charles‘ Roman Paranoïa illustriert literarisch den Ausweg aus der psychischen Lähmung der Misstrauensgesellschaft. Die Protagonistin Louise Milton akzeptiert ihre Paranoia als einzig rationale Reaktion auf ihre mediatisierte und enteignete Existenz. Der Ausweg aus der „zu schweren Selbstwahrnehmung“ und dem Gefühl, in einem „perversen Roman“ gefangen zu sein, wird durch die künstlerische/metafiktionale Distanzierung gefunden. Louise kanalisiert ihre Verzweiflung und ihren Misstrauensgedanken über das System des Marsillac/La Rochefoucauld, dessen zynische Logik der amour-propre ihr eine stabile philosophische Deutungshilfe bietet, die dem chaotischen modernen mal-être überlegen ist. Das Misstrauen wird in der Fiktion zur Erzähltechnik und zur Waffe. Der ultimative Ausweg ist Louises Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, indem sie die Perspektive der Autorin einnimmt und die Realität selbst fixiert und ordnet, selbst wenn sie die Wahrheit des amour-propre und die ständige Gefahr der Täuschung akzeptieren muss. Die literarische Form (Maximen, Reflexionen) wird zum Schutzraum, der neue „Handlungsfähigkeit“ im Angesicht der Krise der Authentizität ermöglicht.
Obwohl die drei Perspektiven – La Rochefoucauld (Höfische Gesellschaft), El-Mafaalani (Moderne Gesellschaft) und Charles (Fiktion) – in unterschiedlichen Epochen und Darstellungsformen angesiedelt sind, konvergieren ihre Auswege in einem Punkt: Die Auflösung des Misstrauens durch naives Vertrauen ist unmöglich. Stattdessen bieten sie Strategien der rationalen Orientierung und des Misstrauensmanagements an. La Rochefoucauld propagiert die aristokratische Haltung der schonungslosen Selbsterkenntnis („sincérité“) und der vorsichtigen Zurückhaltung, um Täuschung zu vermeiden. El-Mafaalani fokussiert auf die soziologische Stabilisierung, indem er zwischen konstruktivem (funktionalem) und destruktivem (normativem) Misstrauen unterscheidet und auf die Erneuerung der positiven Zukunftserwartungen als gesellschaftlichen Kompass setzt. Lise Charles bietet einen literarischen Ausweg, bei dem die Paranoia durch die metanarrative Selbstermächtigung überwunden wird, indem die Figur die Wahrheit des Misstrauens akzeptiert und sich selbst als Autorin des eigenen Schicksals (oder zumindest der eigenen Erzählung) autorisiert. Alle drei erkennen die menschliche Verletzlichkeit an, aber nur durch die Etablierung einer Methode der Distanzierung und des Wissens über die Mechanismen der Täuschung.
- Anmerkungen
- Vor dem Tod seines Vaters 1650 trug er den Titel eines Fürsten, d.h. „prince de Marcillac“, ab da erbte er den Herzogstitel.>>>