Sechzig Jahre später
Quand j’ai rencontré le personnage central de ce livre, héros époustouflant, bien réel, prisonnier de son passé guerrier, post-traumatisé flamboyant, porteur d’une blessure inguérissable, j’ai été happé par le souffle de son histoire où le refoulé se glisse dans les interstices les plus sombres de la mémoire. On ne revient jamais intact d’une guerre. Le conflit algérien en est un exemple chaque jour vérifié. Aujourd’hui comme hier.
Soixante ans après, cette tragédie pèse toujours sur les consciences, comme un mauvais esprit flottant au-dessus de nous, depuis les deux rives de la Méditerranée. Ce djinn maléfique et sournois n’en finit pas de ronger les cœurs les plus aguerris, de retarder la signature de la paix des âmes. Personne n’est épargné.
Als ich die Hauptfigur dieses Buches traf, einen atemberaubenden, sehr realen Helden, gefangen in seiner kriegerischen Vergangenheit, ein extravaganter Posttraumatiker mit einer unheilbaren Wunde, war ich gefesselt von seiner Geschichte, in der das Verdrängte in die dunkelsten Winkel des Gedächtnisses schlüpft. Man kommt nie unversehrt aus einem Krieg zurück. Der Algerienkrieg ist ein Beispiel dafür, das sich jeden Tag aufs Neue bestätigt. Heute wie gestern.
Sechzig Jahre später lastet diese Tragödie immer noch auf dem Gewissen, wie ein böser Geist, der über uns schwebt, von beiden Ufern des Mittelmeers aus. Dieser bösartige und hinterhältige Dschinn nagt unaufhörlich an den hartgesottensten Herzen und verzögert die Unterzeichnung des Friedens der Seelen. Niemand bleibt verschont.
Serge Raffys Roman L’odeur de la sardine (Fayard, 2025) ist ein hybrides Werk, das an der Schnittstelle von Kriminalroman, historiographischer Fiktion und politischer Allegorie steht. Raffy, der selbst lange als Journalist tätig war, nutzt die Gattung des Romans, um sich mit der französischen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, ohne dabei den Anspruch auf dokumentarische Genauigkeit oder gar „objektive” Wahrheit zu erheben. Raffy selbst bezeichnet sein Werk als „conte de faits“ – ein „Märchen aus Tatsachen“ – und betont damit eine Poetik, die Fakten und Fiktion miteinander verwebt, um eine tiefere historische und psychologische Wahrheit zu enthüllen, die die „dunkle Seite des Gaullismus“ und die bis heute vergrabenen Schmerzen aufzeigt. Das Vorwort deutet diese Vorgehensweise an, wenn sich der Autor ausdrücklich von der Idee des „roman vrai“ distanziert und stattdessen Aragon zitiert: mentir vrai – die Kunst, Wahrheit und Fiktion in einem Geflecht zu verweben, das nicht durch die Fakten gedeckt sein muss, sondern eine tiefere Wahrheit der Erinnerung und des Traumas freilegt.
L’odeur de la sardine ist im Kern ein Algerienroman, der die unheilbaren Wunden und die hartnäckigen Geister des französisch-algerischen Konflikts erforscht. Der Mord an Charles Bayard, einem ehemaligen Polizeichef, an den Quais der Seine in Paris, dient als dramatischer Auftakt und Katalysator, der die Ermittler in ein „Labyrinth aus falschen Spuren“ führt, das sich letztlich in den „Windungen der Erinnerung an den französisch-algerischen Konflikt“ verliert. Der Roman macht deutlich, dass der Algerienkrieg keine abgeschlossene Episode ist, sondern eine unaufhörliche Präsenz, die Generationen und Nationen noch immer heimsucht.
Die Figur Charles Bayard verkörpert das persönliche und nationale Trauma des Algerienkrieges. Er ist ein „Gefangener seiner kriegerischen Vergangenheit, ein leuchtender Posttraumatischer, Träger einer unheilbaren Wunde“. Seine Erinnerungen, die dem Journalisten Sébastien Rochas anvertraut werden, enthüllen grauenhafte Episoden: militärische Operationen in den Aurès, die „Tötung der guten Helden“ und die „große Sünde“ – die Tötung von Kamel Choukri, genannt Abdel. Der „widerliche Geruch der Sardine“, der Bayard zeitlebens verfolgt, wird zum durchdringenden Symbol für die ekelerregende und unentrinnbare Last der Kriegsschuld und des Traumas, das sich „wie ein böser Geist“ über die beiden Ufer des Mittelmeers legt und „an den widerstandsfähigsten Herzen nagt“. Bayards inszenierter Tod am Ende des Romans ist letztlich ein verzweifelter Akt der Sühne und Erlösung, ein Versuch, sich „endgültig von diesem widerlichen Geruch der Sardine zu befreien“.
Lutte au corps à corps. Il est dur comme de la pierre, comme les rochers du djebel d’où il a surgi. Il m’étrangle avec une force inouïe. Ma main cherche à desserrer l’étreinte. Je parviens à m’emparer de ma baïonnette, le fends de bas en haut. Je sens ses muscles se raidir puis se relâcher doucement. Ses yeux soudain hagards cherchent un point dans le ciel. Le sang jaillit sur mon visage. Dans un nuage de poussière, il me fixe soudain. Je remarque, comme dans un rêve, qu’il a les yeux verts. Il semble me demander ce que je fous là. Je l’étreins jusqu’à l’étouffer pour ne pas entendre le son de sa voix. Autour les balles fusent. Un ballet d’hélicoptères surgit soudain dans le ciel. Je ne vais pas mourir. Pas encore. Abdel, lui, meurt entre mes bras, dans un sourire étonné, presque serein. En expirant, Abdel lâche un épouvantable rot. Je ne peux me détacher de lui. Il a l’air de vouloir rester dans mes bras, comme un enfant accroché à l’épaule de sa mère. Son renvoi m’explose en plein visage. Il me transperce, comme une balle perdue, me paralyse. Tout mon corps est traversé de tremblements. J’ai mangé le même rata, il y a une poignée d’heures, que lui. La répugnante odeur de sardine envahit tout mon être.
Nahkampf. Er ist hart wie Stein, wie die Felsen des Djebel, aus denen er hervorgegangen ist. Er würgt mich mit unglaublicher Kraft. Meine Hand versucht, seinen Griff zu lockern. Es gelingt mir, mein Bajonett zu ergreifen, ich schlitze ihn von unten nach oben auf. Ich spüre, wie sich seine Muskeln versteifen und dann langsam entspannen. Seine plötzlich verstörten Augen suchen einen Punkt am Himmel. Blut spritzt mir ins Gesicht. In einer Staubwolke starrt er mich plötzlich an. Wie in einem Traum bemerke ich, dass er grüne Augen hat. Er scheint mich zu fragen, was ich hier mache. Ich umklammere ihn, bis er erstickt, um seine Stimme nicht hören zu müssen. Um uns herum schießen Kugeln. Plötzlich taucht ein Ballett von Hubschraubern am Himmel auf. Ich werde nicht sterben. Noch nicht. Abdel stirbt in meinen Armen, mit einem überraschten, fast gelassenen Lächeln. Beim Ausatmen stößt Abdel einen schrecklichen Rülpser aus. Ich kann mich nicht von ihm lösen. Er scheint in meinen Armen bleiben zu wollen, wie ein Kind, das sich an die Schulter seiner Mutter klammert. Sein Aufstoßen trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Sie durchbohrt mich wie eine verirrte Kugel und lähmt mich. Mein ganzer Körper zittert. Vor wenigen Stunden habe ich dasselbe Essen gegessen wie er. Der widerliche Geruch von Sardinen durchdringt mein ganzes Wesen.
Dieser erschütternde Monolog ist das Herzstück von Bayards Trauma und seiner großen Schuld („grande faute“). Die detaillierte Beschreibung des Nahkampfs und der Tötung des jungen Fellagha Abdel (Kamel Choukri) offenbart die brutale Realität des Algerienkrieges und seine tiefgreifenden psychologischen Folgen für die Soldaten. Die „répugnante odeur de sardine“ erscheint hier zum ersten Mal als konkrete, ekelerregende Sinneswahrnehmung, die untrennbar mit dem Akt des Tötens und der moralischen Verunreinigung verbunden ist. Sie symbolisiert das unentrinnbare Trauma und die Schuld, die Bayard sein Leben lang verfolgen wird. Die Begegnung mit Abdels Augen und seinem letzten Atemzug macht die Entmenschlichung des Feindes unmöglich und hinterlässt eine tiefe Wunde in Bayard. Dieser Auszug verdeutlicht die personale Erzählweise des Traumas und zeigt, wie der Krieg die Grenzen zwischen Leben und Tod, Mensch und Tier (Ratten-Metapher in früheren Passagen) und Schuld und Unschuld verschwimmen lässt. Bayards posttraumatische Belastung ist hier greifbar und wird zum Motor seines späteren Handelns und seiner Suche nach Sühne.
Die Ausgangsszene des Romans ist emblematisch. Ein alter Mann, Charles Bayard, ehemaliger hoher Polizeibeamter, geht nachts mit seinem Hund am Ufer der Seine spazieren. Raffy beschreibt minutiös seine Gestalt, seine Haltung und den silbernen Pommeau des Stockes, den er in der Hand trägt. Es ist eine Szene voller Andeutungen: Bayards starres, beinah militärisches Auftreten verweist auf seine Vergangenheit, während der Spaziergang entlang des Flusses, im Schatten der Brücken und Skulpturen, ihn wie einen von Geistern der Geschichte verfolgten Mann erscheinen lässt. Plötzlich wird die Szene durch einen Schuss unterbrochen, der Bayard in den Nacken trifft und ihn tödlich niederstreckt. Der Mord wirkt wie eine Exekution: präzise und ohne Spuren zu hinterlassen.
Die polizeilichen Ermittlungen, die Julien Sarda und sein Team aufnehmen, entsprechen zunächst den Konventionen des Genres. Zeugen werden befragt, Handydaten ausgewertet und Spuren verfolgt. Doch schon bald kippt die Erzählung. Das Augenmerk verschiebt sich von der Suche nach dem Täter auf die Rekonstruktion von Bayards Vergangenheit. Der Tote selbst wird zur Hauptfigur – nicht als Opfer eines Verbrechens, sondern als Verkörperung eines verdrängten Kapitels der französischen Geschichte. Bayards Biografie führt zurück in den Algerienkrieg, in geheime Operationen, in die Ambivalenzen des Gaullismus und in die Schattenzonen zwischen Polizei, Geheimdiensten und Unterwelt. Damit wird die Struktur des Kriminalromans unterlaufen: An die Stelle der klaren Auflösung tritt das wuchernde Geflecht der Erinnerung, das keinen eindeutigen Täter und keine geschlossene Wahrheit zulässt.
Parallel zu Bayards traumatischen Erinnerungen thematisiert der Roman das transgenerationale Schweigen und die fragile Identität der Nachkommen. Jeanne Obadias Spurensuche nach ihrem Großvater Alain Obadia, einem pro-FLN-Kommunisten und Lehrer aus Blida, der im Krieg verschwand, beleuchtet die „chape de silence“ (Mantel des Schweigens), die über ihrer Familie und vielen Pieds-noirs-Gemeinschaften liegt. Die „leeren Gräber“ (tombes vides) – wie das symbolisch fehlende Grab Alain Obadias oder Abane Ramdanes – werden zu einer mächtigen Metapher für die ausgelöschten Erinnerungen und die unbestatteten Toten des Krieges, deren Geschichten verdrängt oder offiziell umgeschrieben wurden. Jeannes persönliche Suche nach ihrer Herkunft und der Wahrheit über ihren Großvater ist somit untrennbar mit der Aufarbeitung dieser kollektiven, verdrängten Geschichte verbunden, die bis in die Gegenwart hineinwirkt und Identitäten formt.
Eindrücklich ist die Szene, in der Jeanne Obadia, eine junge Ingenieurin, von Bayard telefonisch kontaktiert wird. Jeanne hat begonnen, sich für die Geschichte ihres jüdisch-algerischen Großvaters zu interessieren, der Lehrer in Blida war. Über dieses Kapitel ihrer Vergangenheit hat die Familie geschwiegen, und Jeanne stößt auf eine Mauer des Schweigens. Da ruft Bayard sie an, ein Fremder, der angibt, ein ehemaliger Schüler ihres Großvaters zu sein. Die Szene ist von einer eigentümlichen Spannung geprägt. Einerseits besteht die Hoffnung Jeannes, endlich eine Spur zu finden, andererseits ist sie irritiert über den Ton des alten Mannes, der fast paranoid wirkt. Die Konfrontation ist eine Begegnung zwischen den Nachgeborenen, die auf der Suche nach Wahrheit sind, und den Alten, die auf ihrem Schweigen beharren oder nur bruchstückhafte, kryptische Geständnisse machen. Dass Bayard kurz darauf ermordet wird, gibt dieser Szene eine tragische Dimension. Jeanne bleibt mit ihren Fragen zurück und ihre Spurensuche wird noch drängender, zugleich aber auch aussichtsloser.
Rochas avait accumulé des dizaines de carnets de notes, des heures et des heures d’enregistrement de la vie de la victime. Curieusement, alors qu’il avait été l’auteur de plus d’une quinzaine d’ouvrages, romans, biographies, et même d’un recueil de poésie, il avoua qu’il n’avait jamais pu passer à l’acte. Il était en panne sèche, la plume aux abonnés absents. Il avait démarré de nombreux chapitres, qu’il avait régulièrement jetés à la poubelle. Comme si cette histoire le tétanisait. […] Il n’avait pas envie d’écrire un livre, il a envie de faire un voyage dans le temps, de voler au-dessus du djebel… Et pourtant, il est en mission. Il doit raconter, encore et encore.
Rochas hatte Dutzende von Notizbüchern und stundenlange Aufzeichnungen über das Leben des Opfers gesammelt. Seltsamerweise gab er zu, dass er, obwohl er mehr als fünfzehn Bücher, Romane, Biografien und sogar einen Gedichtband verfasst hatte, nie in der Lage gewesen war, seine Idee in die Tat umzusetzen. Er hatte eine Schreibblockade, seine Feder versagte. Er hatte zahlreiche Kapitel begonnen, die er regelmäßig in den Papierkorb warf. Als ob ihn diese Geschichte lähmte. […] Er hatte keine Lust, ein Buch zu schreiben, er wollte eine Zeitreise machen, über den Djebel fliegen … Und doch war er auf einer Mission. Er musste erzählen, immer und immer wieder.
Nicht weniger aufschlussreich sind die Sitzungen zwischen Bayard und dem Journalisten Sébastien Rochas. In langen Gesprächen versucht Rochas, Bayards Erinnerungen festzuhalten, um daraus ein Buch zu machen. Doch er kommt nicht voran. Raffy beschreibt, wie Rochas unzählige Notizbücher füllt, immer wieder von vorne beginnt, aber keinen kohärenten Text hervorbringt. Diese Schreibblockade ist mehr als ein individuelles Problem, sie ist ein poetologisches Dilemma. Rochas scheitert, weil Bayards Leben selbst von Brüchen, Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt ist, die sich nicht in eine lineare Erzählung übersetzen lassen. Die Erzählstruktur des Romans spiegelt die Komplexität der Algerien-Erinnerung wider. Die Kriminalermittlung um Kommissar Sarda fungiert als Detektivarbeit, die tief in die historischen, politischen und psychologischen Wunden Frankreichs eindringt. Die Gegenwart des Mordfalls ist untrennbar mit der Vergangenheit des Algerienkrieges verbunden, dessen Ereignisse durch Rückblenden, Zeugenaussagen und Archivmaterial mosaikartig, fragmentarisch und nicht-linear erzählt werden. Sébastien Rochas‘ „unmögliches Buch“ über Bayards Leben, das nie vollendet wird, symbolisiert die Schwierigkeit, eine kohärente Erzählung über solch traumatische Ereignisse zu verfassen, da Schweigen, Angst und politische Interessen das Erinnern blockieren. Der Algerienkrieg erscheint somit als ein „cold case“, ein ungelöster Fall, dessen Spuren vergraben, aber nicht ausgelöscht sind und dessen Wahrheit sich nur in Bruchstücken und Widersprüchen offenbart.
Die Schilderung des Pont Alexandre III, unter dem Bayard erschossen wird, ist ein weiteres Beispiel für Raffys symbolische Verdichtung. Der Erzähler verweilt auf den architektonischen Details, den Bronzestatuen und der Geschichte der Brücke, die einst für die Weltausstellung errichtet wurde. Bayard betrachtet die Brücke mit einem Gemisch aus Bewunderung und Spott und sieht in ihr die Verkörperung französischer Kompromisse und politischer Gesten. In dieser Passage wird die Brücke selbst zur Metapher für Bayards Leben: ein Bauwerk aus Paradoxien, ein Monument, das zugleich Pracht und Unterwerfung verkörpert. Dass Bayard an diesem Ort den Tod findet, ist keine zufällige Wahl, sondern eine symbolische Setzung, die seine Biografie mit der Geschichte Frankreichs verknüpft.
Die Figurenkonstellation spiegelt diese historischen und poetischen Themen wider. Bayard ist der alte Mann, der Täter und Opfer zugleich ist, gefangen in einer von Schuld geprägten Biografie. Jeanne ist die Suchende, die den Faden der Erinnerung wieder aufnehmen will. Rochas ist der Chronist, der zwischen Wahrheit und Erfindung schwankt. Karim Betlem ist der Polizist, der durch seine Herkunft zugleich Teil und Außenseiter der Institution ist. Julien Sarda, der erfahrene Ermittler, verkörpert den rationalen Kern der Polizei, stößt aber an die Grenzen seiner Methoden, sobald er auf die politische Dimension des Falls trifft. Diese Figuren sind nicht nur Charaktere in einer Geschichte, sondern vielmehr Typen, die unterschiedliche Positionen im Diskurs über Erinnerung, Schuld und Identität repräsentieren.
Der Romanschluss führt diese Stränge zusammen, ohne sie aufzulösen. Nachdem die Ermittlungen ins Leere gelaufen sind, bleibt der Mord an Bayard unaufgeklärt. Jeanne hat zwar Fragmente über ihren Großvater gefunden, aber keine umfassende Wahrheit. Rochas steht noch immer vor seinen Notizbüchern und ist immer noch nicht in der Lage, ein fertiges Buch vorzulegen. Und Karim Betlem bleibt in der Schwebe zwischen Loyalität gegenüber dem Staat und Solidarität mit den Opfern der Kolonialgeschichte. Raffy verzichtet bewusst auf eine klassische Auflösung. Der Schluss verweigert den Lesern die Genugtuung einer geklärten Wahrheit. Stattdessen verweist er auf das Fortbestehen der ungelösten Vergangenheit. Bayards Tod ist kein Ende, sondern ein Symptom: Die Geschichte des Algerienkriegs ist nicht abgeschlossen, sondern lebt in Gerüchen, Erinnerungen und Familiengeschichten weiter. Der offene Schluss ist literarisch konsequent, da er den Gestus der Fragmentierung und Ambivalenz, der sich durch den gesamten Roman zieht, noch einmal zuspitzt. Die literarische Form wird zum Medium der Erinnerung, die Figuren zu Projektionsflächen historischer Traumata und die Symbole zu Speichern kollektiver Erfahrungen. Der Mord an Bayard ist nicht das Rätsel, das es zu lösen gilt, sondern ein Zeichen dafür, dass die französische Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit noch lange nicht fertig ist. Der Roman stellt sich in die Tradition der postkolonialen Literatur, die nicht versöhnt, sondern die Wunden offenlegt.
Der Roman enthüllt explizit die dunkle Seite des Gaullismus („face sombre du gaullisme“). Es wird suggeriert, dass De Gaulles Entscheidung, den „guêpier algérien“ (algerisches Wespennest) zu verlassen, zwar als visionär dargestellt wird, jedoch mit pragmatischen und rücksichtslosen Methoden einherging. Dies zeigt sich in Bayards Erfahrungen als Fallschirmjäger in den „commandos de l’air“, die vom „homme du 18-Juin“ (De Gaulle) gegründet wurden und den Feind mit ähnlichen brutalen Methoden bekämpften. Später wird die Figur des Roger Frey, ein „baron gaulliste“ und „fidèle d’entre les fidèles du Général“, als „sans pitié, prêt à tout pour protéger son maître“ beschrieben. Dies verbindet den Gaullismus direkt mit der Anwendung skrupelloser Methoden zum Machterhalt und zur Durchsetzung politischer Ziele. Ein konkretes Beispiel ist die Operation „Bleuite“, eine „guerre d’intoxication“ (Krieg der Desinformation) gegen den FLN, die „une véritable hécatombe“ (ein wahres Gemetzel) unter den algerischen Unabhängigkeitsbefürwortern verursachte und auch von Bayard in seiner verdeckten Rolle als „Carlito“ genutzt wurde. Darüber hinaus wird die „curieuse amnistie“ (seltsame Amnestie), die De Gaulle nach Mai 1968 einigen OAS-Anführern wie Jean-Jacques Susini gewährte, als politisch opportunistisch dargestellt. Dies deutet auf eine zynische Abkehr von früheren Prinzipien hin, um neue politische Gegner (die extreme Linke und die Kommunisten) zu bekämpfen, wobei Historiker Susini verdächtigen, „services au pouvoir gaulliste“ (Dienste für die gaullistische Macht) geleistet zu haben. Die moralisch fragwürdigen verdeckten Operationen Bayards als „flic-proxénète au service du Général“ (Zuhälter-Polizist im Dienste des Generals) verdeutlichen zudem die moralischen Kompromisse, die im Namen des Gaullismus eingegangen wurden.
Der Roman kritisiert die das schlechte französische Gewissen („mauvaise conscience française“) und die Unfähigkeit des Landes, „les comptes“ (die Rechnungen) des Algerienkrieges zu begleichen. Der Konflikt wird als „une guerre jamais finie entre Alger et Paris“ (ein niemals endender Krieg zwischen Algier und Paris) bezeichnet. Dies wird durch die „amnésie collective“ (kollektive Amnesie) und das Schweigen verdeutlicht, das viele Familien, wie die Obadias, über ihre algerische Vergangenheit legen. Die offizielle französische Erzählung von Frankreich als „porteuse de la civilisation, des valeurs républicaines à partager“ (Trägerin der Zivilisation und republikanischer Werte zum Teilen) wird durch die Realität der kolonialen Ungerechtigkeit, wie das „système du double collège“ (doppelte Wahlsystem) und die brutale Repression von Demonstrationen wie in Sétif 1945, fundamental in Frage gestellt. Die gleichzeitige Feier in Paris während der Massaker in Sétif markiert den „vrai début de la déchirure“ (den wahren Beginn der Zerreißprobe) und eine tiefe moralische Wunde in der nationalen Identität. Der Roman zeigt, dass der französische Staat, vertreten durch den Minister, aktiv versucht, der Erinnerungsfalle („piège mémoriel“) zu entgehen und den historischen Müll („les fonds de poubelle de l’Histoire“) nicht aufzuwühlen, um unangenehme Wahrheiten über die Vergangenheit zu unterdrücken. Raffys Roman selbst, indem er fast gewaltsam in die Erinnerung an eine historische Tragödie einzudringen versucht („s’introduire presque par effraction dans la mémoire d’une tragédie historique“), ist eine implizite Kritik am gesellschaftlichen Widerstand, sich dieser Vergangenheit zu stellen. Letztendlich wird Frankreich als in einem „labyrinthe“ aus Schuld, Schweigen und politischen Kompromissen („culpa, silence et compromis politiques“) gefangen dargestellt, da der Algerienkrieg als „cold case“ weiterhin die Nation heimsucht.
Insgesamt interpretiert L’odeur de la sardine den Algerienkrieg als ein fortwährendes nationales und individuelles Drama. Die Kombination aus Kriminal- und historischem Roman enthüllt, wie der Konflikt auch Jahrzehnte später noch die französische Gesellschaft prägt, das „schlechte französische Gewissen“ anspricht und tiefgreifende Spuren in den Familienbiografien hinterlässt. Der Roman schließt zwar scheinbar den Mordfall ab, lässt aber die tieferen historischen und emotionalen Fragen offen, was die nachhaltige Wirkung der Vergangenheit unterstreicht. Die melancholische Vision, alle Gräber zu segnen – „Die der Verräter und der Helden. Sogar die leeren“ – ist ein komplexer Appell an Versöhnung und die Akzeptanz einer Geschichte, die nie ganz vergessen oder erzählt werden kann, sondern als „L’odeur de la sardine“ weiterhin im nationalen Gedächtnis präsent bleibt.
Orestie
Serge Raffys Roman lässt sich auch als modernes Nachspiel zur „Orestie” lesen: Die Grundkonstellation – ein von Krieg und Ehre gezeichneter Mann kehrt heim oder begibt sich auf die zivilgesellschaftliche Bühne, dann folgt ein gewaltsamer Tod, das Nachbeben von Schuld und Rache sowie die Unfähigkeit, die Vergangenheit rein rechtlich oder moralisch zu neutralisieren – entspricht dem dramatischen Kern von Aischylos’ dreiteiliger Tragödie. Charles Bayard weist viele Züge des Agamemnon-Typs auf: Er ist ein ehemaliger Soldat, Träger eines militärischen Ruhms und eines widersprüchlichen heroischen Narrativs. Sein Ende – ein präzise gesetzter Schuss in die Nackenregion, die Leiche „face contre terre, les bras en croix“, der Hund, die nächtliche Szenerie – inszeniert den Mord beinahe rituell und macht aus ihm mehr als einen bloßen Kriminalakt, nämlich ein symbolisches, mythisches Geschehen.
Diese Grundkonstellation öffnet unmittelbare Parallelen zur Orestie: Agamemnon kehrt vom Krieg heim und wird im eigenen Haus ermordet; Bayard – Veteran mehrerer Feldzüge und vom Algerien-Trauma gezeichnet – endet in einer nächtlichen Szene, die ebenfalls stark heimkehrbezogen aufgeladen ist. Wie bei Aischylos ist nicht allein das Faktum des Mordes wichtig, sondern das Netzwerk aus Schuld, Sühne, Erinnerung und öffentlicher Verhandlung, das der Tat folgt. Raffy rafft dieses Nachspiel auf mehreren Ebenen: Private Verdrängung, familiäres Schweigen, kollektive Erinnerungspolitik und staatliche Institutionen (Polizei, Justiz, Medien) konkurrieren um den „Sinn” des Verbrechens. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der ein Untersuchungsrichter frisch ernannt wurde („un juge d’instruction venait d’être nommé“) und dadurch die Machtverhältnisse der Ermittlungen potenziell neu geordnet werden: Die Einführung eines richterlichen Verfahrens verbindet literarisch die antike Idee der Umwandlung privater Blutrache in öffentliche Rechtsprechung mit dem modernen Staat. Raffy zeigt, wie brüchig diese Umwandlung ist.
In der „Orestie“ fungieren die Erinnyen (die Rachegeister) als formales Prinzip, das die Erben verfolgt – sie manifestieren die Unaufhebbarkeit eines Blutschuldensembles, bis eine neue Form der Gerechtigkeit etabliert ist (Athenas Gericht/Areopag) und die Erinnyen zu den Eumeniden werden. In Raffys Roman übernimmt kein übernatürliches Wesen diese Rolle. Stattdessen arbeitet Raffy mit topischen Repräsentanten des Unabgegoltenen: Der Geruch, der sich in die Erinnerung einschreibt – die titelgebende „odeur de la sardine“ – wirkt wie ein Sinnbild der Erinys. Er kehrt wieder und wieder, ruft Traumata hervor und kontaminiert die Gegenwart sowie standesamtliche Rituale des Erinnerns, etwa Beerdigungen oder Rehabilitationsdebatten. Die Formulierung „l’odeur de la sardine flottait dans l’air, aux quatre coins du pays“ macht die Metapher zum kollektiven Phänomen. Es ist weniger das einzelne Gespenst als ein sich über das soziale Gewebe legender Fluch, ein Miasma, das Vergangenes nicht verrotten lässt. Auf diese Weise rekonstruiert Raffy die Erinys-Funktion auf moderne Weise: nicht als göttliche Erscheinung, sondern als sensorische, mediale und psychische Wiederkehr.
Die Figurenverhältnisse sind in Raffys Werk jedoch diffus und damit andersartig als die feste Triade Agamemnon–Klytaimnestra–Orest: Élisabeth Bayard, die Tochter, ist ambivalent. Einerseits betreibt sie die Inszenierung des Vaters (Filmprojekt, öffentlicher Auftritt), andererseits verhält sie sich distanziert. Sie weigert sich, die traditionellen Trauerkonventionen zu erfüllen (sie trägt kein Schwarz), und tritt als „Executive Woman“ mit manipulativen Zügen auf. Somit bleibt offen, ob sie die Rolle der Klytaimnestra (die Ehefrau-Täternatur) schattenhaft übernimmt oder ob Raffy die klassische Zuordnung unterläuft, um Kausalketten zu dekonstruieren. Das Buch selbst stellt die Frage, ob die Tochter dies „gewollt“ hat oder ob sie eher das öffentliche Narrativ orchestriert – eine Arbeit mit Schein und Theater, die an antike Verstellung erinnert, aber nicht in eine simple Täterrolle mündet. Raffy nutzt diese Ambivalenz, um die Konstruktion von Schuld zu problematisieren. Im Gegensatz zur Orestie, in der Orestes zur Vergeltung greift, liefert Raffy keine klaren Racheakte in Form eines familiären Blutrachezyklus. Die Verantwortung wird zerteilt und von Institutionen verhandelt. Vage, provokante Sätze der Tochter und ihr Projekt, aus dem Leben ihres Vaters einen Film zu machen, verweisen auf diese doppelte Medialisierung (Familie – Film – Öffentlichkeit).
Wenn man die Rolle des „Rächers” sucht, findet man in Raffy keine monolithische Orestes-Figur. Stattdessen fragmentiert sich die Orestes-Funktion auf mehrere Akteure: den Journalisten/Schreiber Rochas, der in Worten „tötet“ (sein Geständnis, Bayard mit der Feder ermordet zu haben, ist metaphorisch), die Wahrheitssucherin Jeanne Obadia, die wie eine Art Elektra/Ermittlerin fungiert, und die polizeiliche Maschine, die versucht, Recht und Ordnung herzustellen. Rochas’ Verhältnis zum toten Helden ist ambivalent: Er ist zugleich Biograf, Chronist und in der Sprache ein potenzieller Rächer (er „tötete” Bayard mit der Feder). Quasi hebt Raffy die klassische Unterscheidung von Handlung und Darstellung auf. Diese Verteilung der Rache- und Sühnefunktionen verweist auf eine kaleidoskopische Moderne, in der die antike Einheit der Familientragödie auf pluralistische Instanzen verteilt wird.
Formal lässt sich die Parallele zur Orestie auch am Umgang mit dem kollektiven „Chor” ablesen. Während der Chor in Aischylos‘ Werk kommentiert, erinnert und mahnt, ersetzt Raffy diese poetische Kollektivinstanz durch einen Chor der Medien, der Experten, der Polizeiberichte, der Zeugenaussagen und der journalistischen Deutungen. Die öffentlichen Reaktionen, die Medienexzesse und die institutionelle Politisierung der Tat erfüllen die Funktion des Chorischen – sie umkreisen die Tat, sprechen für die Stadt/Polis und erzeugen die öffentliche Bühne, auf der Erinnerung und Recht verhandelt werden. Zugleich schreibt Raffy die Stimmen jedoch plural: Tagebuchtexte (wie Bayards „Le doigt de Dieu“), Ermittlungsprotokolle, persönliche Erinnerungsmonologe und journalistische Kommentare. Diese polyphone Struktur wirkt wie ein moderner Chor, zerlegt diesen jedoch in sichtbare, zitierbare Fragmente.
Die Moral- und Rechtsfrage, die Aischylos mit dem Übergang von Blutrache zu Gericht (Areopag) thematisiert, ist in Raffys Roman nur partiell beantwortet: Die Institutionen greifen ein (Einberufung einer Sonderzelle, benannte Ermittler, später ein Richter), doch die narrativen Antworten bleiben aus. Das Gericht wird zwar suggeriert (der Richter, die Anklagen, der Transfer der Ermittlungen), doch eine einfache juridisch-symbolische Reinigung à la Athenas Gericht findet nicht statt. Raffy zeigt die Schwierigkeit, kollektive Traumata (Kolonialgewalt, Algerien) durch rein juristische Mechanismen zu „reinigen“. Die Justiz ist präsent und wird als moderne Replacement-Instanz inszeniert. Doch das „Miasma“ verweilt und die gesellschaftliche Reinigung bleibt ambivalent. Dies ist eine bewusste, politisch-poetische Entscheidung des Romans: Die Orestie-Metapher bleibt produktiv, da Raffy die antike Lösung (gerichtliche Versöhnung) für die moderne, kolonialgeschichtliche Katastrophe als unzureichend entlarvt.
« Tout a été dit. Tout a été consommé. Il fallait partir la tête haute. Se débarrasser une bonne fois pour toutes de cette sale odeur de sardine. Elle est toujours là. Dans les âmes et les esprits qui flottent au-dessus de la Méditerranée. Il est temps de tourner la page. Oublier les catafalques. Revenir à Blida le cœur léger. Ouvrir les vannes. Tendre les mains vers la lumière. Bénir toutes les tombes. Celles des traîtres et des héros. Même les vides. »
„Es ist alles gesagt worden. Es ist alles vollbracht worden. Man musste mit erhobenem Kopf gehen. Sich ein für alle Mal von diesem üblen Sardinengeruch befreien. Er ist immer noch da. In den Seelen und Köpfen, die über dem Mittelmeer schweben. Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die Katafalke vergessen. Mit leichtem Herzen nach Blida zurückkehren. Die Schleusen öffnen. Die Hände zum Licht ausstrecken. Alle Gräber segnen. Die der Verräter und die der Helden. Selbst die leeren.“
Wichtig ist hier noch der Aspekt des „Unbestatteten“. In Aischylos ist der nicht geordnete Tod (z. B. versteckte Gräber, ungereinigte Blutstätten) ein Auslöser der Erinnyen. In Raffys Werk tauchen „tombes vides“ und verschwundene Leichen bzw. verschwiegene Vergangenheiten immer wieder als Motiv auf: verschwundene Menschen, verlassene Gräber, verschüttete Archive. All dies betont, wie die Vergangenheit fortwirkt, auch wenn sie nicht mehr greifbar ist. Die Textstellen zur Suche nach Obadia, die Berichte über „tombes vides” und die archivalischen Leerstellen zeigen, wie Erinnerung systematisch verunmöglicht oder marginalisiert wurde – ein weiteres Echo des antiken Motivs der ungeordneten Toten.
Serge Raffys Roman L’odeur de la sardine thematisiert die Leere in der Erinnerungskultur als ein zentrales und tiefgreifendes Phänomen, das untrennbar mit den unverarbeiteten Traumata des Algerienkrieges verbunden ist. Besonders deutlich wird dies im Kapitel „Le mystère des tombes vides“ (Kapitel 7), das symbolisch für das Ausradieren von Erinnerung und den verdrängten oder ausgelöschten Teil der Geschichte steht. Dieses Kapitel beleuchtet, wie Kriegsopfer und politische Morde oft namenlos und unbestattet bleiben und ihre Geschichten bewusst dem Vergessen anheimgegeben werden. Die Abwesenheit von physischen Gräbern oder der konkrete Verlust von Gebeinen, wie der erwähnte Schädel des Goya, wird zur mächtigen Metapher für die ausgelöschten Spuren der Vergangenheit und die kollektive Weigerung, sich der Wahrheit zu stellen. Das Kapitel macht diese „Non-Orte der Erinnerung“ sichtbar, in denen das Vergessen „institutionell abgesichert“ wird.
Diese Leere manifestiert sich exemplarisch in der Geschichte von Alain Obadia, dem Großvater von Jeanne. Sein Verschwinden während des Algerienkrieges wird von seiner Familie mit einer „chape de silence“ (Mantel des Schweigens) belegt. Es gibt keine Fotos, keine Geschichten, nur Andeutungen. Dieses „gigantesque trou noir“ (gigantische schwarze Loch) in der Familiengeschichte der Obadias steht stellvertretend für das Schweigen vieler Pieds-noirs und jüdischer Familien aus Algerien, die nach 1962 nach Frankreich übersiedelten und ihre Vergangenheit verdrängten, um im neuen Land Fuß zu fassen. Jeannes Suche nach ihrem Großvater ist daher nicht nur eine persönliche, genealogische Recherche, sondern eine Konfrontation mit dieser kollektiven Amnesie, die zeigt, wie der Krieg nicht nur durch das Erzählte, sondern auch durch das konsequent Nicht-Erzählte präsent bleibt. Bayards späteres Geständnis an Jeanne, dass Obadia ein Opfer der „Bleuite“-Operation war und als „Indikator“ vom FLN als Verräter angesehen wurde, aber in Wirklichkeit nicht ermordet, sondern jahrzehntelang in psychiatrischer Behandlung war, unterstreicht die Komplexität und die bewusste Verzerrung der historischen Wahrheit. Sein „Grab“ in Blida war offiziell ein Ehrengrab, tatsächlich aber leer.
Der Roman deutet an, dass die Leere nicht nur individuelles oder familiäres Versagen ist, sondern auch eine Folge politischer Vertuschung und des „schlechten französischen Gewissens“. Die Ermittler um Sarda müssen wie Historiker arbeiten, um die „Archiv-Leichen“ und „ungeklärten Fälle“ des Algerienkriegs aufzudecken. Letztlich ist Bayards inszenierter Tod selbst eine extrem theatralische Geste, um diese Leere zu füllen und eine Konfrontation mit der Vergangenheit zu erzwingen – er will sich „endgültig von dieser sale odeur de sardine befreien“ und die „tombes vides“ segnen, „Celles des traîtres et des héros. Même les vides“. Damit betont Raffy, dass der Algerienkrieg als „ungelöster Fall“ und als tiefe Leerstelle in der Erinnerungskultur Frankreichs fortbesteht, deren Wahrheit in all ihrer Brutalität und Komplexität nie ganz ans Licht kommt.
Film noir
Raffy arbeitet stark filmisch – nicht nur durch explizit filmbezogene Figuren wie die Filmproduzentin Élisabeth, die Filmprojekte anregt, sondern vor allem durch seine Erzähltechnik: Bild-Kader, Schnitte, Point-of-View, Montage, Licht-Schatten-Kontraste und die Nutzung von „Offscreen“-Räumen. Der Mord an Bayard selbst ist sprachlich wie eine Filmsequenz konstruiert: die stille Kamerafahrt (die Silhouette, die sich „à pas de loup“ nähert), der gezielte Blick auf die Nackenpartie, das Einsetzen des Tons (eine einzelne Detonation), der Freeze-Frame-Effekt der Leiche face-down mit dem Hund, das Verschwinden der Figur in die Dunkelheit – all das sind filmische Setzungen, die man sich sehr konkret auf der Leinwand vorstellen kann. Raffy nutzt diese filmische Sensibilität, um Atmosphären zu erzeugen: Nachtaufnahmen, Brücken (Pont Alexandre-III, Bir-Hakeim), reflektiertes Wasser und Regengeräusche auf Blut sind klassische filmische Referenzpunkte.
Die Noir-Ästhetik ist in mehreren Elementen präsent: die Stadt bei Nacht, die fatalistische Haltung, der einsame, moralisch ambivalente Protagonist (Bayard als „salaud magnifique“), die professionelle Kälte des Tötens („Clinique. Une seule balle“), die kriminelle Unterwelt (Bordelle, mafiose Netzwerke) und die ambivalente Sinnlichkeit (Prostituierte, Brücken, Bars). Raffy zitiert das Vokabular und die Topographie des klassischen Film Noir: die nächtliche Seite von Paris, Brücken als Übergangsräume zwischen öffentlichem und privatem Bereich, versteckte Winkel („angle mort” der Kameras) und die technisch präzise Durchführung des Verbrechens. Die Tatsache, dass der Täter bewusst im „angle mort de la caméra de surveillance“ agiert, zeigt sowohl ein Bewusstsein für die Kamerabilder als auch eine Verbeugung vor dem filmisch-kriminellen Präzisionsmythos. Die Passagen über die Kamerabilder, die Aufnahmen der Identité Judiciaire und die systematische Arbeit der Ermittler erinnern an eine filmische Antizipation von Einstellung, Montage und Reprise.
Jean-Pierre Melville ist eine Referenz, sein Kino (Le Samouraï, Le Cercle Rouge, L’Armée des ombres usw.) hat das Bild des berufsmäßigen, stoischen Einzelgängers geprägt, der in ritualisierter Form handelt. Melville inszeniert das Verbrechen oft als kühle, stilisierte Abfolge von Handlungen, bei denen Präzision, Code und Einsamkeit dominieren. Auch Raffys Schilderung des Schusses (präzise, klinisch), des wartenden Täters, der das „Drehbuch“ des Verbrechens genau kennt, sowie der narzisstische Blick auf Ehre und Pflichterfüllung („Comme un bon soldat …“) lassen eine bewusste Nähe zu Melvilles „Ästhetik des Verbrechens“ erkennen. Melville-Bezüge liegen auch darin, wie Raffy die Figur des professionellen Ex-Soldaten mit dem Code des Einzelnen verknüpft: Die Handlung ist formalisiert, ritualisiert und hat eine kühle Perfektion, die an Melvilles Inszenierungsprinzipien erinnert. In Raffys Text gibt es mehrere kurze, stark komponierte Nachtsequenzen, die wie Bildkompositionen im Kino funktionieren.
Konkrete formale Analoga zwischen Romantext und Filmtechnik lassen sich benennen: kurze Szenenwechsel (Schnittmontage) zwischen Gegenwart und Erinnerung, Nachtbeschreibungen, die wie Like-Shots aufgebaut sind, Close-ups von Objekten (das silberne Pommeau, die Canne), die die Handlung vorantreiben, choreografierte Beobachtungsszenen (Überwachungsbilder, Ausschnittsvergrößerungen), der Einsatz von „Off“-Geräuschen (Detonation, Regen, das Grieseln des Wassers) als akustische Schnitte – all das liest sich wie eine Regieanweisung für einen Kriminalfilm. Raffy nutzt das Medium Roman, um filmische Effekte zu erreichen: Die Innenperspektive wird häufig durch kurze, pointierte psychologische Einstellungen (Close Interior Shots) realisiert, während Außenbeschreibungen in sequenziellen Bildfolgen erzählt werden (Tracking Shot der Silhouette, Cut zur Detonation, Cut zum Leichnam). Dass eine Figur im Roman selbst Filmprojekte plant, macht die Intermedialität explizit. Die Erzählung reflektiert ihren eigenen Anspruch, das Leben des Helden zu „verfilmen“, und hinterfragt die Ethik einer solchen Umwandlung von Wahrheit in Fiktion.
Besonders signifikant ist Raffys ironischer Umgang mit dem Blick-Apparat: Kameras sind gleichzeitig Kontroll- und Blindeninstrumente, Medien sind sowohl Erinnerungsspeicher als auch Manipulationsinstrumente. Die Täterplanung, die bewusst „Blindstellen der Kamera“ ausnutzt, schreibt die filmische Logik ins Verbrechen ein. Zugleich ist genau diese Kamera die Instanz, die Bildern Beweiskraft verleiht – wieder eine Parallele zur „Orestie“, in der Blick und Zeugenschaft (Zeugen, Boten, Gesänge) das Narrativ konstruieren. Raffy zeigt damit, dass die moderne Gesellschaft zwar technisch in der Lage ist, vieles zu sehen, dass aber gerade deshalb auch neue Formen des Verbergens und der Chiffrierung entstehen.
Raffy verbindet in L’odeur de la sardine die mythische Tiefe der „Orestie“ mit einer modernen, filmisch geprägten Erzählweise verbindet. Die „Orestie” liefert das dramaturgische Grundschema (Heimkehr/Tod/Rache/Verhandlung), welches Raffy in ein Zeitalter der Medien, der polizeilichen Institutionsmacht und der unauflösbaren kolonialen Schatten transponiert. Film-Referenzen – Noir-Topoi, die Moral professioneller Killer (Melville) und der staatshistorische Blick (Tavernier) – strukturieren die Erzählung ästhetisch und geben ihr die Dichte von Nachtaufnahmen, die Präzision einer Kameraführung sowie die Montage einer Erinnerung, die sich nicht glätten lässt. Ästhetisch und inhaltlich kreuzen sich bei Raffy antike Tragik (Unabgeschlossenheit, Blutschuld, ritualisierte Reinigung, die aber nicht stattfindet) und filmische Moderne (Bilder, Schnitte, Medien-Chöre). Das Ergebnis ist eine Erzählung, die weder eine einfache juristische Lösung anbietet noch ein mythisches Versöhnungsschema abarbeiten will. Vielmehr veranschaulicht sie die strukturelle Schwierigkeit, kollektive Traumata mit den Mitteln eines Rechtsstaats oder einer Erzählung aufzuarbeiten.