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November 1976
Am 15. November 1976 gewann der Parti québécois unter René Lévesque die Provinzwahlen in Québec. Es war der erste Machtantritt einer offen souveränistischen Partei und markierte den symbolisch wie politisch stärksten Erfolg der Unabhängigkeitsbewegung. Die Wahl bedeutete einen Bruch mit der bisherigen liberalen Dominanz, nährte die Hoffnung auf staatliche Eigenständigkeit und leitete tiefgreifende Reformen ein, nicht zuletzt die Sprachgesetzgebung („Charte de la langue française“, 1977). Carl Leblancs Roman Le printemps en novembre (2025, dt. „Der Frühling im November“) interessiert sich jedoch weniger für die institutionelle Geschichte als für ihre Nachwirkung im individuellen Gedächtnis. Étienne Vallières’ Besuch einer Dokumentarfilm-Premiere wirkt als Erinnerungsmaschine: Die Leinwand wird zum Medium der Rückkehr, in dem kollektive Euphorie und private Erfahrung ununterscheidbar ineinanderfließen. Der „einzige große Sieg“ erscheint rückblickend zugleich als Höhepunkt und als Verlustmoment, denn das Versprechen der Geschichte hat sich nicht dauerhaft eingelöst.
Die „Charte de la langue française“ bildet das zentrale Instrument der Sprachpolitik Québecs. Sie verankert Französisch als alleinige Amtssprache in Verwaltung, Justiz und Gesetzgebung und begreift Sprache ausdrücklich als Träger politischer Souveränität. Besonders einschneidend sind die Regelungen in Bildung, Arbeitswelt und öffentlichem Raum: Der Zugang zu englischsprachigen Schulen wird stark begrenzt, Unternehmen werden zur Verwendung des Französischen als Arbeitssprache verpflichtet, und Beschilderung sowie Werbung müssen dem Französischen Vorrang einräumen. Insgesamt verbindet die Charta rechtliche Normierung mit einem identitätspolitischen Projekt, das auf die Sicherung einer französischsprachigen Gesellschaft im anglophonen nordamerikanischen Umfeld zielt.
In der kanadisch-frankophonen Literatur erscheint dieser Prozess jedoch weniger als abgeschlossene Erfolgsgeschichte denn als fragile, konflikthafte Neuverortung. Bei Michel Tremblay etwa wird das Französische als Spannungsfeld zwischen joual 1 und Standardfranzösisch inszeniert: Die politische Aufwertung der Sprache verleiht symbolische Anerkennung, hebt soziale Hierarchien jedoch nicht automatisch auf. Jacques Godbout gestaltet die Situation reflexiv und ironisch, indem er das Französische als bewusstes, aber stets prekäres Identitätsprojekt zeigt, das vom Englischen umstellt bleibt und permanent performativ erneuert werden muss.
Réjean Ducharme radikalisiert diese Perspektive, indem er das Französische als anarchischen Widerstandsraum gegen jede institutionelle Ordnung zerlegt, während Dany Laferrière es aus der Erfahrung von Migration und Mehrsprachigkeit heraus reflektiert. Trotz formaler Dominanz bleibt Französisch hier von Akzenten, Körpern und biographischen Brüchen durchzogen. Gemeinsam ist diesen Romanen die Einsicht, dass die Sicherung des Französischen in Kanada kein abgeschlossener Akt ist, sondern ein fortdauernder narrativer Konflikt, den Literatur nicht als Triumph, sondern als Spur im Sprechen, Erinnern und Sich-Verorten der Subjekte sichtbar macht.
Desillusionierung und Triumph des Augenblicks
Carl Leblancs Werk kreist um die Verschränkung von Geschichte, Identität und individueller Existenz und bewegt sich häufig zwischen Fiktion, dokumentarischer Recherche und persönlicher Reflexion. Seine Bücher interessieren sich weniger für große historische Erzählungen als für deren Spuren im Leben einzelner Menschen und für die Frage, wie Erinnerung Sinn stiftet. In Artéfact (2012) verbindet Leblanc die Recherche um ein in Auschwitz entstandenes Objekt mit einer Reflexion über Menschlichkeit und Hoffnung im Angesicht der Vernichtung. Fruits (2013), ausgezeichnet mit dem Prix Jovette-Bernier, versammelt wahre Geschichten unwahrscheinlicher Zufälle und denkt über das Unvorhersehbare als strukturierende Kraft des Lebens nach. Le personnage secondaire (2006) rückt mit James Richard Cross eine scheinbar marginale Figur der Oktoberkrise ins Zentrum (eine sicherheitspolitische Eskalation in Québec im Herbst 1970, die den Höhepunkt des militanten québécoischen Separatismus markiert) und hinterfragt die Stellung des Individuums im historischen Geschehen. Rétroviseur (2022) schließlich handelt von Michel, dessen Leben rückwärts erzählt wird und sich dabei als persönlicher und familiärer Lernprozess vor dem Hintergrund des Übergangs vom alten, ländlich-katholischen Québec zur modernen Gesellschaft entfaltet. Im Zentrum steht die Beziehung zu seinem Vater Fabien, der für eine untergegangene nationale und kulturelle Ordnung steht, und die Einsicht, dass Herkunft, Familie und das Scheitern kollektiver Träume unausweichlich in der individuellen Biografie fortwirken.
Carl Leblancs jüngster Roman Le printemps en novembre ist eine Reflexion über die französische Autonomie und Identität in Kanada, die das Scheitern des québécoischen Unabhängigkeitstraums durch die Linse persönlicher Nostalgie und die Poetik der Erinnerung interpretiert. Der Roman, der hauptsächlich zwischen den Jahren 1976 (dem ersten Wahlsieg des Parti Québécois) und 2006 (einer Ära der politischen Desillusionierung) spielt, dient als metakritische Untersuchung des grand récit national Québecs und dessen Platz in der Geschichte der littérature québécoise. Die Geschichte Étienne Vallières‘ wird zum Sinnbild für die kollektive Erfahrung einer „Nation“, deren „grand moment“ – der Aufbruch zur Selbstbestimmung – in der Realität nach dem Referendum nur noch als Anekdote erscheint. Der Titel Le printemps en novembre steht für die unerwartete kollektive und persönliche Wiedergeburt und Hoffnung, indem er die existenzielle Frage aufwirft: „Qu’est-ce que la vie si le printemps n’est possible qu’en mars?“ („Was ist das Leben, wenn der Frühling nur im März möglich ist?“). Dieser titelgebende November verweist konkret auf den 15. November 1976, den Tag des ersten großen Wahlsiegs der québécoischen Unabhängigkeitsbewegung, der für den Protagonisten Étienne Vallières einen Moment der „Inbrunst“ und „Hoffnung“ darstellte, der die natürliche Ordnung der Dinge sprengte.
Für die französischsprachigen Québécois wird ihre Geschichte oft als eine „anecdote ou un conte“ („Bine Anekdote oder ein Märchen“) betrachtet, im Gegensatz zu den großen Erzählungen der amerikanischen, englischen oder chinesischen Völker. Die politische und kulturelle Identität der Québécois ist von einem permanenten Kampf um eine „continuité culturelle“geprägt. Die Mehrheitsgesellschaft (implizit die englischsprachigen Kanadier und Amerikaner) hingegen wird als dominant und selbstsicher beschrieben, als „adorateurs du statu quo capitaliste et impérial“ („Anbeter des kapitalistischen und imperialen Status quo“), die im „temps de la gestion“ („Zeit der Verwaltung“) leben.
Die Mentalität der anglophonen kanadischen Gesellschaft, die Étienne Vallières in seiner Gegenwart (2006) wahrnimmt, wird durch den „libéralisme triomphant“ („triumphierenden Liberalismus“) bestimmt, der das Individuum als Maß aller Dinge etabliert hat. Dieser Fokus auf das „Humain“ im universalen Sinne führt dazu, dass spezifische nationale Anliegen, wie das der Québécois, als „überholt“ oder irrelevant abgetan werden. Im Gegensatz dazu sehnen sich die Québécois nach einem „nous“, dem einzigen kollektiven Gesicht, das sie aus der Isolation rettet. Die Québécois von 1976 zeigten eine „passion collective“, die in der heutigen, „multikulturellen“ kanadischen Realität als altmodisch empfunden wird. Sie werden als ein Volk von „modérés et pragmatiques“ („Gemäßigten und Pragmatikern“) charakterisiert, die durch eine „Misstrauen gegenüber den Träumern“ („méfiant face aux ‚rêveurs'“) gekennzeichnet sind. Dennoch bewiesen sie 1976 eine temporäre „délinquance inoffensive“ („harmlose Straffälligkeit“), indem sie „Abenteurer“ wählten. Die kanadischen Föderalisten beanspruchen in der Auseinandersetzung um die nationale Identität hingegen das „monopole de la morale, la liberté, la générosité“ („Monopol der Moral, Freiheit, Großzügigkeit“).
Der Roman nutzt eine Erzählstruktur, die ständig zwischen der euphorischen Vergangenheit und der desillusionierten Gegenwart hin- und herspringt, wodurch die Zeiten verschmelzen („les temps se confondent“) und die zeitliche Diskontinuität der Geschichte spürbar wird. Der Hauptstrang in der Gegenwart (2006) folgt Étienne Vallières, einem zynischen Politikwissenschaftler, der in Montréal lebt. Die äußere Handlung ist minimal: Étienne nimmt an der Premiere eines Dokumentarfilms teil, der den historischen Wahlsieg der Parti Québécois am 15. November 1976 thematisiert. Dieser Abend in einem „complexe culturel“ dient als Rahmenhandlung und Katalysator für Étiennes innere Auseinandersetzung. Während er den Film sieht und sich in der Menge von „revolutionnaires tranquillisés“ („beruhigten Revolutionären“) bewegt, die die Vergangenheit „boire sur le bras de la nostalgie“ („auf Kosten der Nostalgie trinken“), wird er mit seinem eigenen „célibat irréversible“ („unumkehrbaren Zölibat“) und seinem kultivierten Zynismus konfrontiert. Diese Gegenwartshandlung kulminiert in der Konfrontation mit seiner verlorenen Liebe Julianne, die nun Anne Lemieux ist und die Ehefrau des ehemaligen PQ-Ministers Simon Lemieux.
Der Rückblendenstrang (1976), der die innere Wahrnehmung und Handlung nährt, erzählt von Étiennes sechzehnjährigem Selbst in der Gaspésie am Abend des 15. November. Dieser Strang konzentriert sich auf seine jugendliche Verliebtheit in Julianne Caissy und seine enthusiastische, politisierte Erweckung, die er mit der Hoffnung auf die Unabhängigkeit Québecs verbindet. Die politische Euphorie – Étienne ist überzeugt von der „juste cause des patriotes“ („gerechten Sache der Patrioten“) – wird jäh durch die persönliche Tragödie überlagert: Julianne ist am Wahltag ohne Vorwarnung abgereist, um nach Montréal zur „grande vie“ (zum „großen Leben“) und ihrer Freiheit zu finden. Die Handlungsstruktur des Romans ist damit durch eine ständige Verschmelzung der Zeiten und die Gegenüberstellung von kollektivem Triumph (1976) und persönlichem Verlust (1976/2006) gekennzeichnet.
Ein zentrales Objekt ist der Dokumentarfilm, dessen Premiere Étienne 2006 besucht. Dieser wirkt kathartisch, als Katalysator, der die Vergangenheit reaktiviert und sie der „barbarie de l’oubli“ („Barbarei des Vergessens“) entreißt. Die Filmästhetik verleiht dem Ereignis von 1976 eine überdimensionale Bedeutung: „sur un grand écran, tout prend de l’importance…“ („auf einer großen Leinwand nimmt alles an Bedeutung zu …“). Der Film transformiert die politische „anecdote“ in eine „puissante beauté de l’irréfutable“ („mächtige Schönheit des Unwiderlegbaren“), indem er die Archivbilder mit Xavier’s „musique“ unterlegt, die eine „émotion“ („Emotion“) autorisiert, die im „aujourd’hui terne“ („heutigen tristen Tag“) der Desillusionierung keinen Platz mehr hat. Die Dokumentation zelebriert, was Étienne als den „plus beau jour de ma vie“ („schönsten Tag meines Lebens“) bezeichnet, obwohl er diesen Moment erst im Nachhinein durch die Wiederbegegnung mit Julianne (Anne Lemieux) in der Gegenwart und in den Archiven des Films vollständig interpretieren kann.
Das Scheitern des politischen Projekts wird durch die lyrische Sprache des Films als Akt des Widerstands neu belebt. Die Poetik des Films, insbesondere die Verwendung von Zeitlupe („ralenti“) und ausgewähltem Archivmaterial, erlaubt es dem Publikum, sich in einer temporären Gemeinschaft der Nostalgie zusammenzufinden, um den „großen Schwung“ des Aufbruchs von 1976 noch einmal zu erleben. Der Kontrast zwischen der Euphorie der „Québécois, fous d’avenir“ („Québécois, verrückt nach Zukunft“) und der postnationalen Resignation der Gegenwart (2006) wird so zur zentralen dynamischen Kraft des Romans.
Der Übergang vom Nationalen zum Postnationalen
Die Identität 2006 von Québec ist von der Gewissheit des endgültigen Scheiterns der politischen Autonomie geprägt, nachdem die Referenden von 1980 und 1995 mit einem „Deux fois non. Deux fois rien.“ („Zwei Mal Nein. Zwei Mal Nichts.“) endeten. Étienne beschreibt die politische Gegenwart als „temps de la gestion“ („Zeit der Verwaltung“), eine Ära, in der der „triumphierende Liberalismus“ und die Vorherrschaft des Individuums die kollektiven Träume ersetzt haben. Der Unabhängigkeitswunsch wird auf den Prüfstand gestellt, als ein „forcing contre la sélection naturelle“ („Erzwingen gegen die natürliche Selektion“) in einem anglophone Kulturraum Amerika.
Étienne kämpft gegen die Vorstellung, dass Québec nichts weiter sei als ein „petit peuple“ („kleines Volk“), eine „tache française récalcitrante“ („widerspenstiger französischer Fleck“) inmitten des „grand tout“ („großen Ganzen“). Seine anfängliche Weigerung, die „berechtigte Traurigkeit des Angehörigen der nicht existierenden Nation“ („tristesse légitime du ressortissant de la nation inexistante“) zuzulassen, spiegelt das Trauma wider, das die littérature québécoise seit 1980 erfasste: den Verlust der mobilisierenden nationalistischen Triebfeder und den Beginn des „décentrement de la littérature“ („Dezentrierung der Literatur“), in der die nationale Identität in „eine Pluralität von Stimmen und Formen“ („une pluralité de voix et de formes“) zerfällt. Étiennes emotionaler Ausbruch, als er die Zuschauer als „rescapés d’un naufrage“ („Überlebende eines Schiffbruchs“) sieht, kulminiert in der zynischen Kapitulation vor der nationalen Mittelmäßigkeit: „Finalement, on est peut-être quelque chose comme un petit peuple!“ („Schließlich sind wir vielleicht doch so etwas wie ein kleines Volk!“).
Die persönliche Autonomie Juliannes, die als „flamboyantes Exemplar“ charakterisiert wird, dient als eine Art Ersatzrevolution für das verlorene politische Projekt. Ihr Verlassen der provinziellen Gaspésie ist ein Akt der Befreiung und des Wunsches nach einer Zukunft. Julianne wählte aktiv die Gestaltung der Zukunft, indem sie Simon Lemieux heiratete, den politischen Akteur, während Étienne im „café des idées“ verharrte. Julianne verkörperte die politische und emotionale Synthese, die Étienne verlor: „Dans l’avenir, il y avait le pays; dans la foule, cette jeune femme“ („In der Zukunft gab es das Land; in der Menge diese junge Frau“).
Plurale Identitäten Québecs
Simon Lemieux zitiert die kanadischen Föderalisten als „les fils de Durham“ („die Söhne Durhams“), eine direkte Anspielung auf den Bericht von 1839, der die Assimilation der Französisch-Kanadier empfahl. Die Wahl 1976 war der Beweis, dass das Volk, das Durham als „a people with no history and no literature“ („ein Volk ohne Geschichte und ohne Literatur“) abtat, noch lebte: „L’élection du Parti québécois avait été un souriant «Ah bon, vous êtes sûrs?»“ („Die Wahl der Parti Québécois war ein lächelndes ‚Ach so, seid ihr euch sicher?'“). Der Kampf um das Weiterbestehen als französisches Volk wird als „combat humaniste“ („humanistischer Kampf“) für die nationale Vielfalt verteidigt, selbst wenn diese „médiocre“ („mittelmäßig“) wäre.
Der Pariser Intellektuelle, der fragt „Quand donc allez-vous déboulonner Miron?“ („Wann werdet ihr Miron entthronen?“), ruft die Debatte über den québécoischen „poète national“ auf. Miron, der Land und Liebe vereinte („parlait de pays comme on parle d’amour physique, et inversement“ – „sprach über das Land, wie man über körperliche Liebe spricht, und umgekehrt“), steht für die politisierte Literatur. Die Forderung nach seiner „Entthronung“ ist die „violence sentencieuse“ der metropolitanen Ästhetik, die die Literatur nur als Selbstzweck anerkennt, nicht als Instrument der nationalen Befreiung.
Étienne reflektiert die Isolation Québecs, die es zwingt, sich ständig selbst zu definieren, was Lise Gauvin als „la surconscience linguistique“ („das sprachliche Überbewusstsein“) der frankophonen Literatur Nordamerikas bezeichnet. Étiennes Vergleiche mit den Romanches und Lappen sind ein Ausdruck dieser komplexen Position, wobei er auch auf die postkoloniale Solidarität verweist, indem er den martiniquischen Dichter Aimé Césaire zitiert, dessen Cahier d’un retour au pays natal („Heimkehr in mein Geburtsland“) die Mobilisierung eines kleinen Volkes feiert. Dies erinnert an die Notwendigkeit der literarischen „réseau et d’échanges“ („Netzwerke und Austausch“) zwischen den littératures minoritaires wie denen in Acadie und Franco-Ontario, die ebenfalls eigene literarische Narrative aufbauen mussten, um ihre Existenz gegenüber Québec zu behaupten.
Im Kontext der politischen Desillusionierung und der Kritik am Separatismus werden auch die Ureinwohner (peuples autochtones) genannt. Es wird ironisiert, dass nur die „délinquance inoffensive“ („harmlose Straffälligkeit“) dieser Völker – neben Studenten und Sportfans – Charme habe, im Gegensatz zur potenziell schädlichen Unabhängigkeitsbewegung René Lévesques.
Der Roman erwähnt „immigrants sans pays“ („Einwanderer ohne Land“) in Montréal. Zudem wird die „narbe“ (cicatrice) der „déclaration du chef indépendantiste“ („Erklärung des separatistischen Führers“) nach dem zweiten Referendum (1995) erwähnt, die das Votum der Anglophonen und der ethnischen Gemeinschaften („communautés ethniques“) ins Visier nahm, wodurch sich diese Gruppen als „exclus“ („ausgeschlossen“) aus dem „Wir“ des québécoischen Nationalismus fühlten. In der Gegenwart des Jahres 2006 werden etwa „revendeurs pakistanais d’appareils électroniques“ („pakistanische Händler von Elektronikgeräten“) und „restaurateurs italiens“ („italienische Gastronomen“) als Teil der multikulturellen Realität Montréals genannt. Schließlich wird auch ein „clochard“ („Penner“) als „sans-abri échoués du Nunavut“ („gestrandeter Obdachloser aus Nunavut“) erwähnt, der im großstädtischen Montréal umherirrt. Diese Verweise zeigen, dass Leblanc die Identitätsfrage Québecs nicht isoliert, sondern in ein Spektrum globaler und nationaler Minderheiten- und Existenzkämpfe einbettet, oft um die relative Unwichtigkeit oder die existenzielle Notwendigkeit des québécoischen Projekts zu betonen.
Leblanc verortet die Hoffnung auf Autonomie in der „grande vie“ Montréals, weit entfernt von der Halbinsel Gaspésie. Diese Konzentration auf Montréal als Zentrum des Aufbruchs und des champ littéraire unterstreicht die neue territoriale Verankerung der Identität, die in den 1960er-Jahren zur Stärkung des Begriffs littérature québécoise führte.
Die sprachliche Selbstwahrnehmung ist ein zentrales Element des québécoischen Identitätskampfes. In der Gaspésie 1976 bedeutet Französisch sprechen, wie Étienne feststellt, „ne pas parler anglais“ („nicht Englisch sprechen“). Der Protagonist reflektiert die kulturelle Marginalität Québecs, indem er sich mit anderen „kleinen Völkern“ wie den Rätoromanen oder Lappen vergleicht, deren Geschichte zur bloßen „Annekdote“ degradiert wird. Sein Zynismus ist die prophylaktische Reaktion auf die politische Desillusionierung; er hat den „faszinierten Teenager von 1976″ in sich exekutiert. Die akademische Sprache dient ihm als Waffe, um die „großen und donnernden imperialen Entfaltungen“ („grandes et tonitruantes envolées impériales“) abzuwerten, aber auch um seine eigene „tristesse légitime du ressortissant de la nation inexistante“ („berechtigte Traurigkeit des Angehörigen der nicht existierenden Nation“) zu verbergen.
Die literarische Neukontextualisierung als Akt der Resistance
Die französische Literatur Québecs hat wie angedeutet seit den 1970er Jahren eine zentrale identitäre Funktion übernommen, indem sie sich von der früheren pan-kanadischen „littérature canadienne-française“ abgrenzte und sich explizit auf ein territorial verankertes, nationales Projekt bezog, obwohl dieses in der Folge einer „postnationalen“ Ära unterlag. Der Begriff „la littérature québécoise“ etablierte ab Mitte der 1960er Jahre die Literatur als den Diskurs der Nation und als ein wesentliches Element der Unabhängigkeitsbewegung („Révolution tranquille“), die eine politische, kulturelle und soziale Autonomie anstrebte. Die Literaturgeschichte selbst wurde zum Schauplatz des Aufstiegs einer autonomen Literatur, die sich von Frankreich als kulturellem Zentrum lossagte und deren Institutionalisierung – von Verlagen bis hin zu Lehrplänen – darauf abzielte, eigene Kriterien der Legitimation und Weihe zu schaffen.
Nach den gescheiterten Souveränitätsreferenden und den Folgen des Postmodernismus in den 1980er Jahren erfuhr diese identitäre Funktion jedoch eine Dezentrierung und Pluralisierung, welche die Vorstellung einer homogenen, nationalen Erzählung untergrub. Trotz dieser Fragmentierung und der „Minorisation“ im Zeitalter der Globalisierung behielt die Literatur ihre Rolle als kultureller Anker. Die moderne Literatur Québecs, wie sie in Lehrplänen und Anthologien dargestellt wird, dient heute der Entwicklung eines geteilten kulturellen Bewusstseins und der Befähigung der Bürger zur kritischen Reflexion über ihre kulturelle Umwelt. Im Gegensatz zu den Literaturen der frankophonen Minderheiten außerhalb Québecs, die sich eher auf die breitere Frankophonie beziehen, konzentriert sich die Literatur Québecs weiterhin stark auf die eigene Spezifität als historisch und kulturell eigenständige Einheit.
Der Roman unternimmt den Versuch, die „barbarie de l’oubli“ („Barbarei des Vergessens“) zu bekämpfen. Durch die filmische Darstellung der Archivbilder, die Étienne „la puissante beauté de l’irréfutable“ („die mächtige Schönheit des Unwiderlegbaren“) nennen lässt, wird die Erinnerung an den nationalen Aufbruch zu einem „maquis d’une résistance“ („Widerstandsnest“). Die Intertextualität erstreckt sich auf die Sprache und Rhetorik, indem Leblanc Zitate von Alexandre Dumas („On croit toujours aisément ce que l’on espère“ — „Man glaubt immer leicht, was man erhofft“) und Aimé Césaire („Et nous sommes debout maintenant, mon pays et moi, les cheveux dans le vent, ma main petite maintenant dans son poing énorme…“ — „Und wir stehen jetzt aufrecht, mein Land und ich, die Haare im Wind, meine kleine Hand jetzt in seiner riesigen Faust…“) einfügt. Césaires Text, Cahier d’un retour au pays natal, verortet den québécoischen Nationalismus als Teil des globalen Dekolonisierungskampfes und verwandelt die „Anekdote“ in einen „combat humaniste“ („humanistischen Kampf“). Étiennes Rückkehr zur Emotion, die im Ausruf kulminiert: „Finalement, on est peut-être quelque chose comme un petit peuple!“ („Schließlich sind wir vielleicht so etwas wie ein kleines Volk!“), wird zum Ausdruck der ambivalenten Kontinuität – der kulturelle und emotionale Widerstand überdauert das politische Scheitern und dient als Akt der Selbstbestimmung.
Abwesenheit als Zeichen
Juliannes Abreise am Tag des Triumphs – eine Flucht in die Autonomie – ist eine symbolische „fausse note dans le chœur du consentement général et de l’esprit provincial“ („falsche Note im Chor der allgemeinen Zustimmung und des provinziellen Geistes“), der das „viser peu, parler bas, se contenter“ („wenig anstreben, leise sprechen, sich begnügen“) verlangt. Juliannes Schicksal als „femme échappée“ („entflohene Frau“) und ihre Entscheidung für den aktiven politischen Akteur Simon Lemieux, dessen Name sie annimmt (Anne Lemieux), symbolisiert die Verschmelzung von Nationalismus und Liebe, eine Thematik, die im québécoischen literarischen Nationalismus präsent ist. Ihr Sohn René Étienne Lemieux trägt die Vornamen des politischen Gründers (Lévesque) und des verlorenen Liebhabers (Étienne), wodurch die Kontinuität und Komplexität der québécoischen Geschichte personifiziert wird: Julianne fand die „deux bonnes raisons“ („zwei guten Gründe“) zum Bleiben (Simon und René), während Étienne nur die „peine“ („Kummer“) und die „honte“ („Schande“) der ungelebten Liebe und der verlorenen Nation blieben.
Die Lektüre zeigt, dass Leblancs Werk nicht nur eine Bilanz des politischen Scheiterns zieht, sondern durch die Poetik der zeitlichen Verschmelzung und die Zurschaustellung der kollektiven Nostalgie im Kino die moralische Notwendigkeit der Autonomie („vouloir persister“) als individuellen, humanistischen Kampf bekräftigt, selbst wenn das nationale Projekt nur noch ein „petit peuple“ in der Peripherie ist. Der Roman veranschaulicht, dass die Literaturgeschichte Québecs, wie die Identität selbst, ein ständiger Prozess des Werdens ist, der sich gegen die „liquidation d’un bric-à-brac septentrional“ („Liquidation eines nördlichen Kramladens“) zur Wehr setzt und die emotionale Wahrheit des Aufbruchs über die politischen Fakten stellt.
Carl Leblancs Roman Le printemps en novembre leistet im Kontext der identitären Québec-Literatur eine melancholische, post-nationale Bilanz des québécoischen Nationalismus, indem seine Poetik der zeitlichen Disruption die gescheiterte kollektive Souveränität mit der persönlichen Desillusionierung des Protagonisten Étienne Vallières verschränkt. Mittels des Dokumentarfilms als kathartischem Medium reaktiviert der Roman den historischen „großen Moment“ vom 15. November 1976 und verleiht den Archivbildern die „mächtige Schönheit des Unwiderlegbaren“, um die „Barbarei des Vergessens“ zu bekämpfen. Die Gesamtinterpretation zeigt, dass Étiennes Schmerz über den Verlust Juliannes, die sich für das „große Leben“ und die Position an der Seite des Ministers Simon Lemieux entschied, die politische „Unmöglichkeit“ des québécoischen Projekts sowie sein eigenes Zögern und „Nichtstun“ anklagt. Die Narration erlaubt es so, die „Beharrlichkeit bestimmter roher Emotionen“ anzuerkennen und die nationale Identität in der Post-Referendums-Ära ambivalent, aber notwendig neu zu bewerten, kulminierend in Étiennes zynischem, aber ehrlichem Bekenntnis, man sei „peut-être quelque chose comme un petit peuple!“
Anmerkungen- Joual bezeichnet eine umgangssprachliche, überwiegend mündliche Varietät des Québec-Französischen, die vor allem in der Arbeiter- und Unterschicht Montréals seit dem 20. Jahrhundert verbreitet ist. Der Begriff leitet sich von der lautlichen Realisierung von cheval als joual ab und verweist bereits etymologisch auf charakteristische phonologische Abweichungen vom Standardfranzösischen.>>>