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Die „Antibiografie“ als literarisches Programm
Je raconte son histoire mais, faute de savoir faire d’une autre façon et puisqu’il n’est pas possible de procéder d’une manière différente, je lui donne l’allure d’un conte semblable à ceux dont s’enchantent les enfants et dont, jamais, ils ne se lassent. Il était une fois… Tout cela se passait ailleurs et autrefois, très loin et il y a très longtemps. Pour de vrai et pour de faux, pour parler comme parlent les tout-petits. Pour de vrai ou pour de faux, nul ne saurait plus le dire désormais et, d’ailleurs, personne ne s’en soucie vraiment. Je raconte son histoire mais, bien sûr, faute de pouvoir procéder d’une autre manière et puisque l’on ne saurait faire d’une façon différente, j’y mets aussi un peu de la mienne. Je me faufile à l’intérieur de la fable. Lorsqu’elle parle d’un autre, elle parle pourtant de moi.
Ich erzähle seine Geschichte, aber da ich es nicht anders kann und es auch nicht anders möglich ist, gebe ich ihr den Charakter eines Märchens, wie es Kinder lieben und von denen sie nie genug bekommen können. Es war einmal … All das geschah anderswo und vor langer Zeit, weit weg und vor sehr langer Zeit. Wahr oder unwahr, um es mit den Worten der Kleinen zu sagen. Ob wahr oder unwahr, kann heute niemand mehr sagen, und außerdem interessiert es niemanden wirklich. Ich erzähle seine Geschichte, aber da ich es nicht anders kann und es auch nicht anders geht, füge ich natürlich auch ein wenig von meiner eigenen Geschichte hinzu. Ich schleiche mich in die Fabel hinein. Wenn sie von einem anderen spricht, spricht sie doch von mir.
In Philippe Forests Werk Shakespeare: Quelqu’un, tout le monde et puis personne (Flammarion, 2025) begegnet uns kein herkömmliches biografisches Vorhaben. Vielmehr handelt es sich um ein literaturwissenschaftliches und zugleich poetisches Projekt, das die notorische Unsicherheit der historischen Fakten nicht als Defizit begreift, sondern als produktive Voraussetzung. Forest nimmt die Abwesenheit verlässlicher biografischer Daten zum Anlass für eine weitreichende Meditation über das Wesen der Literatur, über Autorschaft, Identität und das Verhältnis von Leben und Werk. Shakespeare erscheint dabei nicht als historisch greifbares Individuum, sondern als Leerstelle, als Spiegel oder Resonanzraum, in dem sich sowohl die gesamte Menschheit als auch der Biograf selbst reflektieren.
Forest schreibt kein Buch über Shakespeare im traditionellen Sinn. Er schreibt vielmehr durch Shakespeare hindurch – und zugleich über sich selbst. Die Analyse seines Werkes als eigenständiges literarisches Projekt zeigt, wie eng sich hier poetische Imagination, literarische Theorie und persönliche Erfahrung verschränken.
Zentral für Forests Ansatz ist das Konzept der „Antibiografie“. Ausgehend von der Feststellung, dass wir über Shakespeare „alles und zugleich fast nichts“ wissen, formuliert Forest die These, dass das Leben dieses Autors nur als Fabel, als Erzählung und damit als literarisches Konstrukt zugänglich ist. Jede Anstrengung, aus den spärlichen Dokumenten ein kohärentes Lebensbild zu formen, produziert zwangsläufig Fiktion. Anstatt diesen Umstand zu kaschieren, macht Forest ihn zum eigentlichen Gegenstand seines Buches.
Shakespeare erscheint in dieser Perspektive als radikal identitätslos. Forest greift ein berühmtes Diktum von William Hazlitt auf, das später von Jorge Luis Borges variiert wurde: Shakespeare ähnelte jedem Menschen – mit der einzigen Besonderheit, dass er jedem Menschen ähnelte. Er war jemand, jeder und schließlich niemand. Diese Identitätslosigkeit ist für Forest kein Mangel, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Shakespeares Genie. Gerade weil Shakespeare kein festes, abgrenzbares Inneres besaß, konnte er sich in die unzähligen Stimmen, Leidenschaften und Konflikte seiner Figuren einschreiben. Sein Werk wird so zur Bühne einer radikalen Empathie, die nur aus der Leere heraus möglich ist.
Konsequent versteht Forest jede Shakespeare-Biografie auch als verdeckte Autobiografie ihres Autors. Auch sein eigenes Buch bildet hier keine Ausnahme. Forest durchzieht seine Annäherung an Shakespeare mit Erinnerungen an die Bibliotheken seiner Kindheit, an die „magischen Kreise“ der Bücher, in denen sich früh das Versprechen einer anderen, intensiveren Wirklichkeit abzeichnete. Die Lücken der historischen Überlieferung werden nicht mit Fakten, sondern mit der Wahrheit der Fiktion gefüllt. In deutlicher Anlehnung an Marcel Proust erscheint Literatur dabei als die „einzig wahre Lebensform“, als jener Raum, in dem Erfahrung überhaupt erst Gestalt annimmt.
Grundmotive eines Denkers der Existenz
In Forests Deutung tritt Shakespeare als ein politischer Dichter hervor, dessen Werk vor allem die Nichtigkeit der Macht und die Grausamkeit dessen illustriert, was unter Bezugnahme auf Jan Kott als der „große Mechanismus“ der Geschichte bezeichnet wird. In den Königsdramen erkennt Forest keine bloße Heldenchronik, sondern ein endloses Rad der Fortuna, auf dem Herrscher lediglich Schauspieler sind, die eine Rolle übernehmen, bis sie gewaltsam vom „leeren Thron“ gestoßen werden. Politische Unordnung ist dabei stets ein Spiegelbild kosmischer Instabilität: Wenn die Ordnung des Staates wankt, geraten auch die Elemente aus den Fugen. Forest betont, dass Shakespeares politische Vision zutiefst skeptisch bleibt, da sie die Geschichte als ein „Märchen, erzählt von einem Idioten“ begreift, in dem der Königsmord sowohl Ursache als auch Folge eines bleibenden Chaos ist, das jede menschliche Ambition am Ende in Schweigen auflöst.
Als Dichter der Liebe entwirft Shakespeare bei Forest ein Bild, das zwischen der „Sanftmut“ (gentillesse) des Genies und der dunklen Brutalität des Begehrens schwankt. Forest beschreibt die Liebe in Sgentillessehakespeares Werk nicht als idyllischen Zustand, sondern als einen „Krieg der Geschlechter“, in dem das Bett zum Schlachtfeld wird und die Leidenschaft oft in Misstrauen oder Eifersucht umschlägt. Während die Sonette in Forests Analyse einerseits als „süße“ Privatpoesie erscheinen, offenbaren sie gleichzeitig eine fast rohe Wahrheit über das Verlangen, das als eine „Verschwendung in Schande“ den Geist aufzehrt. Ein zentrales literarisches Motiv ist für Forest hierbei die Subversion der Identität: Durch Travestie und die Verwechslung der Geschlechterrollen in den Komödien wird die Liebe zu einem Raum der Maskerade, in dem das „Ich“ im Verlangen nach dem Anderen seine eigenen festen Grenzen verliert. So wird die Liebe bei Forest zu einer „dissonanten Harmonie“, die zwar die Nichtigkeit des Daseins für einen Moment verdeckt, aber letztlich ebenso flüchtig bleibt wie ein Traum.
Neben den Dimensionen von Politik und Liebe identifiziert Philippe Forest in Shakespeares Werk weitere fundamentale Kernthemen, die untrennbar mit seiner spezifischen Auffassung des Theaters verbunden sind. Diese Motive bilden gleichsam den metaphysischen Untergrund der Dramen und erklären, weshalb Shakespeare für Forest weniger als Autor von Geschichten denn als Denker der Existenz erscheint.
Ein zentrales Motiv ist das Paradox der Identität, das Forest als „Phantom der Identität“ beschreibt. In enger Anlehnung an Jorge Luis Borges und William Hazlitt entwickelt er die These, dass Shakespeare gerade deshalb „alles“ sein konnte – also eine nahezu unbegrenzte Vielfalt an Figuren, Stimmen und Perspektiven erschuf –, weil er selbst im Innersten „niemand“ war. Das Ich ist bei Shakespeare kein stabiler Kern, sondern ein Trugbild, ein Mirage, das sich im literarischen Raum fortwährend auflöst. Identität erscheint als Maske, die nur für die Dauer einer Szene Bestand hat und im nächsten Moment abgelegt oder zerstört wird. Das Theater wird so zum Ort, an dem die Illusion des Selbst sichtbar gemacht und zugleich unterminiert wird.
Eng mit dieser Auflösung der Identität verknüpft ist, was Forest als Metaphysik des Nichts bezeichnet. Das Werk Shakespeares kreist immer wieder um die Erfahrung der Leere, um das Wort „Rien“, das zum Schlüsselbegriff seiner Deutung wird. Die Welt und alles, was sie hervorbringt – Macht, Liebe, Ruhm, selbst das Leben –, erscheint letztlich als Nichts. Doch diese Erkenntnis mündet bei Shakespeare nicht in einen kalten Nihilismus. Vielmehr entsteht aus der Konfrontation mit der Leere eine gesteigerte, „magnifizierte“ Poesie. Das Schweigen, das am Grund der Dinge lauert, wird nicht verdrängt, sondern poetisch umkreist. Gerade aus dem Bewusstsein der Nichtigkeit gewinnt die Sprache ihre Intensität.
In religiöser Hinsicht liest Forest Shakespeares Dichtung als Ausdruck eines radikalen, ja „superlativen Skeptizismus“. Die Stücke spiegeln die existentielle Bestürzung eines Menschen, der ahnt, dass der Himmel über ihm leer ist. Gott schweigt, seine Diener erweisen sich als unzuverlässig, und es gibt keine transzendente Instanz, die dem Leiden oder dem Chaos der Welt einen letzten Sinn verleihen könnte. Diese Leere des Himmels zwingt den Menschen auf sich selbst zurück – und auf das Theater als einzigen Ort, an dem Wahrheit, wenn auch nur als Illusion, erfahrbar wird.
Ein weiteres Grundmotiv ist die Flüchtigkeit der Zeit. Shakespeare beschreibt sie als einen „unhörbaren und geräuschlosen Fuß“, der alles vernichtet, was ihm begegnet. Die Zeit raubt dem Leben nach und nach all das, was es kostbar machte: Jugend, Liebe, Macht, Hoffnung. Forest liest diese Zeitlichkeit nicht bloß als melancholisches Thema, sondern als tragende Struktur der Dramen. Alles, was auf der Bühne erscheint, steht von Anfang an im Zeichen seines Verschwindens.
Das Theater als Wahrheit der Welt
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb das Theater für Shakespeare – und für Forests Deutung – weit mehr ist als ein Ort der Unterhaltung. Es ist die Wahrheit der Welt selbst. Gerade weil es offen mit Illusion, Verstellung und Maskerade arbeitet, kann es jene Wahrheit ausdrücken, die sich anders nicht zeigen lässt.
Forest greift hier die alte Formel „Totus mundus agit histrionem“ auf: Die ganze Welt spielt Theater. Wenn die Welt selbst eine Bühne ist, dann ist das Theater das einzige Medium, das diese Wahrheit ausspricht. Es enthüllt die Illusion nicht, indem es sie zerstört, sondern indem es sie verdoppelt. Auf der Bühne wird sichtbar, dass auch das sogenannte wirkliche Leben aus Rollen, Skripten und Auftritten besteht.
Diese Wahrheit äußert sich auch in Shakespeares radikalem Bruch mit den klassischen Regeln der Dramatik. Die aristotelischen Einheiten von Zeit, Ort und Handlung interessieren ihn kaum. Seine Stücke umspannen Jahrzehnte, springen zwischen Ländern und Kontinenten, mischen Tragisches mit Komischem, Erhabenes mit Derbem. Zeitgenossen empfanden diese Freiheit oft als barbarisch oder regellos. Für Forest jedoch ist gerade diese Formlosigkeit Ausdruck einer tiefen Welterkenntnis: Die Welt selbst folgt keinen reinen, harmonischen Gesetzen.
Symbolisch verdichtet sich diese Theaterauffassung im Bild des Globe Theatre als „hölzernes O“. Dieser scheinbar primitive, begrenzte Raum ist in der Lage, durch die bloße Kraft der Einbildungskraft ganze Reiche, Schlachtfelder oder sogar den Kosmos selbst hervorzubringen. Im Globe verschmelzen das Makrokosmische und das Mikrokosmische: Die kleinste Bühne wird zum Modell der Welt, die Welt selbst zu einer Bühne.
Ein zentrales Verfahren, mit dem Shakespeare diese Einsicht vertieft, ist das Theater im Theater. In Stücken wie Hamlet oder Ein Sommernachtstraum lässt er Aufführungen innerhalb der Aufführung stattfinden, um die Realität als reinen Schein zu entlarven. Wenn ein Schauspiel innerhalb des Schauspiels Wahrheit hervorbringt, dann nur, weil es den Mechanismus der Illusion offenlegt. Realität erscheint nicht als Gegenpol zur Fiktion, sondern als eine weitere ihrer Erscheinungsformen.
Hinzu kommt die kollektive und flüchtige Natur des Theaters zu Shakespeares Zeit. Es war eine vergleichsweise neue Kunstform, ohne festen Kanon, ohne die Aura des abgeschlossenen Werks. Texte zirkulierten oft ohne Wissen des Autors, wurden von Schauspielern verändert, ergänzt oder umgeschrieben. Autorschaft war ein instabiler, geteilter Prozess. Für Forest ist gerade diese Prekarität ein Schlüssel zum Verständnis Shakespeares: Das Theater existiert nur im Moment seines Vollzugs und verschwindet unmittelbar danach.
In diesem Sinne versteht Forest Shakespeares Theater als eine Form des Exorzismus. Die Dämonen, die das menschliche Leben beherrschen – Ehrgeiz, Gewalt, Eifersucht, Wahnsinn –, werden auf die Bühne gerufen, um sie dort symbolisch zu bannen. Man weiß dabei, dass sie nicht endgültig vertrieben werden können. Doch für die Dauer der Aufführung werden sie sichtbar, benennbar und damit erträglich.
Man kann sich Shakespeares Theater, so ließe sich mit Forest sagen, wie ein Prisma vorstellen. Es fängt das diffuse, chaotische Licht der menschlichen Existenz ein und bricht es in unzählige Farben, Figuren und Stimmen. Am Ende jedoch erinnert es uns daran, dass dieses Licht aus der Dunkelheit stammt – und dass es in sie zurückkehrt, sobald der Vorhang fällt.
Intertextualität als Erkenntnismedium
Methodisch ist Forests Text von einer dichten Intertextualität geprägt. Andere Autoren fungieren nicht bloß als Referenzen oder Belege, sondern als eigentliche Gesprächspartner, durch die hindurch Shakespeare überhaupt erst sichtbar wird. Das Buch bildet dabei eine literarischen Echo-Raum, in dem sich Stimmen aus unterschiedlichen Jahrhunderten überlagern.
Besonders prägend ist der Einfluss Jorge Luis Borges’. Forest übernimmt von ihm nicht nur die Formel der Identitätslosigkeit, sondern auch die metaphysische Vorstellung des Autors als eines Träumers, der selbst geträumt wird. Shakespeare ist bei Borges – und in Forests Fortführung – eine Figur, die am Ende selbst Teil einer größeren Fiktion ist, deren Urheber unauffindbar bleibt. Autorschaft verliert so ihren souveränen Status und wird zu einem Effekt des Textes.
Auch James Joyce spielt eine zentrale Rolle: In Anlehnung an Ulysses und Joyces Shakespeare-Deutung liest Forest Shakespeares Werk als Verarbeitung privater Traumata, insbesondere des frühen Todes von Hamnet, Shakespeares Sohn. Joyce zufolge spricht Shakespeare im Hamlet nicht durch den trauernden Prinzen, sondern durch den Geist des Vaters – als wolle er, jenseits von Zeit und Tod, zu seinem verlorenen Kind sprechen. Forest greift diese These auf und integriert sie in seine eigene Vorstellung von Literatur als einem Ort verspäteter, unabschließbarer Trauerarbeit.
Stendhal liefert Forest ein weiteres Schlüsselbild: das der Fresken an einer Mauer, deren Verputz abgefallen ist. So wie man die fehlenden Teile eines Freskos imaginativ ergänzen muss, um das Ganze zu erahnen, so ist auch das Wissen über Shakespeares Leben fragmentarisch. Die Einbildungskraft wird hier nicht zur willkürlichen Ergänzung, sondern zur notwendigen Bedingung von Erkenntnis.
Schließlich bekennt sich Forest offen zur Mimesis und zum Plagiat. Schreiben über Shakespeare bedeutet für ihn, Shakespeares Worte, Motive und Gesten zu imitieren, ja sich ihrer anzueignen. Doch gerade darin sieht er eine tiefe Treue zum Gegenstand. Shakespeare selbst hat seine Stoffe aus zweiter Hand bezogen – von Plutarch, Ovid oder Holinshed. Originalität besteht nicht im Erfinden aus dem Nichts, sondern im immer neuen Umlauf von Formen und Stimmen.
Biografische Leerstellen als poetische Brennpunkte
Eine besondere Rolle spielen die sogenannten „verlorenen Jahre“ zwischen 1585 und 1592, über die keinerlei Dokumente existieren. Forest deutet diese Jahre nicht als bloße Forschungslücke, sondern als symbolisches „verborgenes Leben“, vergleichbar mit den schweigenden Jahren Jesu Christi. Gerade dieses Vakuum ermöglicht die Initiation des Künstlers; es markiert den Punkt, an dem das Leben in Literatur umschlägt.
Auch das berühmte Testament mit der Verfügung des „zweitbesten Bettes“ erfährt bei Forest eine neue Lesart. Gegen juristische oder psychologisierende Deutungen liest er diese Geste als Zeichen einer späten, melancholischen Rückwendung zum Privaten. Das Bett erscheint nicht als liebloses Überbleibsel, sondern als intimer Ort einer „zweiten Hochzeit“ im Alter, als leiser Nachhall eines gemeinsamen Lebens jenseits öffentlicher Rollen.
In den Histories wiederum erkennt Forest eine politische Philosophie der Nichtigkeit. Macht erweist sich als theatrale Illusion, Könige als Schauspieler auf Zeit. Das Rad der Fortuna dreht sich unaufhörlich, bis alle Stimmen im Grab verstummen. Geschichte erscheint hier – ganz im Sinne von Macbeth – als ein Märchen voller Lärm und Wut, das letztlich nichts bedeutet. Doch dieses „Nichts“ ist nicht leer, sondern voller existenzieller Einsicht.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Forest auch den Geschlechterrollen im elisabethanischen Theater. Da Frauenrollen von jungen Männern gespielt wurden, entsteht eine komplexe Vervielfältigung der Masken: Ein Mann spielt eine Frau, die sich als Mann verkleidet. Diese theatrale Verschachtelung unterstreicht Forests zentrale These, dass das Ich im literarischen Raum stets ein Anderer ist – oder eben niemand.
Das Geflecht der Sonette
In Philippe Forests Untersuchung Shakespeares nehmen die Sonette eine Sonderstellung ein, da sie – im Gegensatz zu den Theaterstücken – lange Zeit als der einzige Ort galten, an dem der Dichter sein „wahres Ich“ offenbart habe. Die 1609 veröffentlichten Sonette werden in der Literaturgeschichte oft als eine Art „biografischer Schlüssel“ gelesen.
Forest weist darauf hin, dass Shakespeare zu Lebzeiten vermutlich nur seinen Gedichten (wie Venus und Adonis) einen bleibenden Wert als gedruckte Werke beimass, während er die Theaterstücke eher als flüchtige Gebrauchstexte betrachtete. Die Sonette hingegen, die Forest als „sonnets sucrés“ (zuckersüße Sonette) bezeichnet, waren ursprünglich wohl nur für einen kleinen, privaten Leserkreis bestimmt. Sie wurden 1609 veröffentlicht, wahrscheinlich ohne das Wissen oder gegen den Willen des Autors. Zu Shakespeares Lebzeiten und im 17. Jahrhundert fanden sie kaum Beachtung; erst Nicholas Rowe erwähnte sie 1709 vage, und Edmond Malone nahm sie 1790 erstmals in eine Gesamtausgabe auf.
Forest beschreibt die Sonette als ein lyrisches Geflecht zwischen drei Figuren: dem Dichter selbst, einem schönen jungen Adligen („ange blond“) und der berüchtigten „Dark Lady“. Der junge Mann wird vom Dichter gedrängt, zu heiraten und Kinder zu zeugen, um seine Schönheit der Nachwelt zu erhalten. Die Identität des Widmungsempfängers „W.H.“ bleibt eines der größten Rätsel der Weltliteratur. Forest nennt als mögliche Kandidaten Henry Wriothesley, den Earl of Southampton, oder William Herbert, den Earl of Pembroke. Zwischen diesen drei Charakteren entfaltet sich laut Forest ein beinahe romanhaftes Drama von Begehren, Eifersucht und Treuebruch.
Ein zentrales Motiv ist die Fähigkeit der Poesie, die Schönheit unsterblich zu machen. Forest zitiert hierzu die berühmten Zeilen, dass der Geliebte so lange lebt, wie Menschen atmen und Augen sehen können. Gleichzeitig thematisiert Shakespeare das sexuelle Begehren in einer oft unverblümten, fast rohen Weise. Forest hebt hervor, dass der Dichter das Verlangen („lust“) als eine Verschwendung von Lebensgeistern („expense of Spirit“) in einer „Wüste der Schande“ beschreibt, wobei er meisterhaft mit den doppeldeutigen Bedeutungen von Wörtern wie „Spirit“ (Geist/Sperma) oder „hell“ (Hölle/weibliches Geschlecht) spielt.
Forest warnt davor, das „Ich“ der Sonette naiv mit der historischen Person Shakespeare gleichzusetzen. Für ihn ist die Poesie Shakespeares ebenso Theater wie seine Dramen: Das lyrische Ich ist eine Maske, eine Rolle, die der Autor einnimmt. Selbst wenn der Dichter behauptet, „wahrheitsgetreu“ über die Liebe zu schreiben, bleibt er ein Spieler mit der Sprache. Forest sieht in den Sonetten daher weniger ein „intimes Tagebuch“ (wie es die Romantiker sahen), sondern eher eine Reflexion über die Vielzahl der Identitäten.
In der modernen Forschung werden die Sonette oft als Pionierwerk für LGBTQ+-Themen gefeiert, da sie die leidenschaftliche Zuneigung zu einem Mann artikulieren. Forest merkt jedoch an, dass Begriffe wie „Homosexualität“ für die Renaissance anachronistisch sind. Er deutet die Sonette eher als einen Raum, in dem Geschlechterrollen verwischt werden – so wird der junge Mann als „Master-Mistress“ (Herr-Herrin) des Begehrens angeredet. Forest bezweifelt jedoch, dass es zwischen dem Schauspieler Shakespeare und einem Lord tatsächlich zu körperlicher Intimität kam, da die sozialen Klassenbarrieren der damaligen Zeit wohl schwerer wogen als moralische Bedenken.
Forest betrachtet die Sonette als ein Spiegelkabinett aus Versen: Man blickt hinein und glaubt, in der Tiefe das Gesicht des Autors zu erkennen, nur um festzustellen, dass man lediglich eine weitere kunstvoll konstruierte Maske betrachtet, die uns etwas über die universelle Natur des menschlichen Begehrens, aber fast nichts über die privaten Fakten des Mannes aus Stratford verrät.
Die Auflösung im Nichts: Schluss und Epilog
S’il y a malgré tout un dernier mot à l’œuvre de Shakespeare, sans doute faut-il le trouver dans les paroles d’adieu que Prospero prononce et qui expriment l’inquiétude de son âme. Mais, bien sûr, il ne s’agit pas vraiment d’un dernier mot duquel on puisse tirer quelque édifiante valeur que ce soit puisqu’il ne possède aucune signification positive. Il témoigne seulement de l’effarement de l’esprit et du cœur devant ce « rien » qui, lui-même, ne dit de la vie que sa vérité vide et qui en appelle à une parole de pardon, cette parole de pardon en laquelle, au fond, consiste toute littérature. […] Le poète est comparable au magicien. Comme lui, il use de ses enchantements afin de régler certainement une antique querelle avec le monde. Il tire depuis les coulisses les ficelles au bout desquelles s’agitent à sa guise des marionnettes, il met en scène selon sa fantaisie le spectacle qu’il donne, il mène l’histoire jusqu’au dénouement qu’il a voulu pour elle.
Wenn es dennoch ein letztes Wort zu Shakespeares Werk gibt, dann findet man es zweifellos in den Abschiedsworten Prosperos, die die Unruhe seiner Seele zum Ausdruck bringen. Aber natürlich handelt es sich dabei nicht wirklich um ein letztes Wort, aus dem man irgendeinen erbaulichen Wert ziehen könnte, da es keinerlei positive Bedeutung hat. Sie zeugen lediglich von der Bestürzung des Geistes und des Herzens angesichts dieses „Nichts”, das selbst nur die leere Wahrheit des Lebens aussagt und zu einem Wort der Vergebung aufruft, jenem Wort der Vergebung, worin letztlich jede Literatur besteht. […] Der Dichter ist mit einem Zauberer vergleichbar. Wie dieser nutzt er seine Zauberkräfte, um einen alten Streit mit der Welt beizulegen. Hinter den Kulissen zieht er an den Fäden, an denen sich die Marionetten nach seinem Willen bewegen, inszeniert das Schauspiel nach seiner Fantasie und führt die Geschichte zu dem von ihm gewünschten Ende.
Der Schluss von Forests Buch ist als Rückkehr in die Stille zu lesen, als Bewegung hin zum „Rien“, zum Nichts. Forest verknüpft das Ende von Shakespeares künstlerischer Laufbahn mit dem Ende seines eigenen Schreibens und mit der Endlichkeit menschlicher Existenz überhaupt.
Shakespeare erscheint hier in der Gestalt Prosperos aus Der Sturm. Das Zerbrechen des Zauberstabs symbolisiert den Verzicht auf die literarische Macht, die Anerkennung der eigenen Illusionskunst. Literatur erkennt ihre eigene Fragilität: „Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen langen Schlaf.“
Das Nichts wird so zur letzten Wahrheit des Theaters wie der Welt. Forest beschreibt das Dasein als einen Festzug, der keine Spuren hinterlässt. Was bleibt, ist das Schweigen – doch dieses Schweigen ist von Gnade erfüllt. Literatur erscheint am Ende als ein „Sprechen im Dunkeln“, als Wiegenlied, das uns in den Schlaf oder in den Tod begleitet.
Das abschließende Borges-Zitat, in dem Gott Shakespeare eröffnet, dass auch er niemand sei und die Welt nur geträumt habe, besiegelt diese Auflösung. Autor, Gott und Leser verschmelzen in einer gemeinsamen Erfahrung der Nichtigkeit.
So lässt sich Forests Shakespeare-Deutung als ein Plädoyer für eine Literatur der Sanftmut, der gentillesse, lesen. In der Anerkennung der eigenen Bedeutungslosigkeit liegt für Forest keine Verzweiflung, sondern eine Form von Befreiung. Literatur verzichtet auf letzte Antworten und entlässt den Leser in eine produktive Einsamkeit.
Philippe Forest stellt klar, dass er niemals direkt für das Theater geschrieben hat. Er beschreibt seine Verbindung zur Dramatik stattdessen als eine „platonische Leidenschaft“ und begreift jedes seiner Bücher metaphorisch als eine Art „Bühne aus Papier“, auf der eine erzählende Stimme den Leser durch die Dunkelheit begleitet. In seinem Schaffen verwebt er zwar theatrale Motive, wie etwa in seinem Roman Pi Ying Xi: Théâtre d’ombres, versteht sich jedoch seinem Selbstverständnis nach ausschließlich als Verfasser von Romanen und Essays.
Forest offenbart sich selbst in diesem Werk als ein Künstler, der die Literatur nicht als Archiv gesicherter Fakten, sondern als einen Raum der existenziellen Spiegelung begreift, in dem das eigene Ich hinter dem Werk des Anderen verschwindet und zugleich darin erst greifbar wird. Indem er Shakespeares Identitätslosigkeit als Modell für sein eigenes Schaffen übernimmt, zeigt er sich als ein Autor, der die Wahrheit in der Fiktion und im „schöpferischen Contresens“ sucht, wobei er Shakespeares Worte offen „mimt“ und „plagiiert“, um die Kontinuität des literarischen Traums über Jahrhunderte hinweg zu betonen. Forest definiert seine Rolle dabei weniger als die eines allwissenden Biografen, sondern vielmehr als die eines melancholischen „Touristen“ in der Welt der Zeichen, dessen Kunst letztlich in einer Geste der Sanftmut und dem demütigen Rückzug in das Schweigen mündet.