Von der Fußnote zur Gegengeschichte: Olivier Rolin zu Victor Hugo

Entmythologisierung durch Präzision

Victor Hugos Les Misérables ist ein episches Plädoyer dafür, dass selbst das äußerste soziale Elend literarisch in Sinn, Moral und Hoffnung überführt werden kann. In Hugos Text erscheinen Emmanuel Barthélemy und Frédéric Cournet nur in einer kurzen, randständigen Passage, fast wie Schatten, die quer durch den monumentalen Roman huschen. Hugo nennt ihre Namen im Zusammenhang mit den Junikämpfen von 1848 und später dem Londoner Exil, um an ihnen die zerstörerische Logik einer „finsteren sozialen Konstruktion“ zu exemplifizieren. Sie wirken nicht als ausgearbeitete Figuren, sondern als Träger einer fatalen Kausalität: Revolution, Niederlage, Exil, gegenseitige Vernichtung, Galgen. Hugo integriert sie in seine Barrikadenmythologie als warnendes Gegenbild zu den idealisierten Kämpfern von 1832. Barthélemy wird zum fanatischen, düsteren Revolutionär, Cournet zum impulsiven Mann der Tat; ihre Geschichte erscheint bei Hugo abgeschlossen, sinnhaft gebunden und moralisch lesbar – ein kurzer Beweisgang innerhalb einer großen, teleologisch angelegten Erzählung.

Et là, au tout début de la cinquième partie, le torrent romanesque marque une pause. Une digression – ni la première ni la dernière, mais celle-là est particulière. « Les deux plus mémorables barricades que l’observateur des maladies sociales puisse mentionner n’appartiennent point à la période où est placée l’action de ce livre [c’est-à-dire 1832]. Ces deux barricades, symboles toutes les deux, sous deux aspects différents, d’une situation redoutable, sortirent de terre lors de la fatale insurrection de juin 1848, la plus grande guerre des rues qu’ait vue l’histoire. » […] ces hésitations – pour ne pas dire ces contorsions – expliquent la longue digression du début de la cinquième partie sur les deux barricades de juin 1848, « La Charybde du faubourg Saint-Antoine et la Scylla du faubourg du Temple ».

Und hier, ganz am Anfang des fünften Teils, macht der Romanfluss eine Pause. Ein Exkurs – weder der erste noch der letzte, aber dieser ist etwas Besonderes. „Die beiden denkwürdigsten Barrikaden, die der Beobachter sozialer Missstände erwähnen kann, gehören nicht zu der Zeit, in der die Handlung dieses Buches spielt [d. h. 1832]. Diese beiden Barrikaden, die beide in zweierlei Hinsicht Symbole einer bedrohlichen Situation sind, entstanden während des verhängnisvollen Aufstands vom Juni 1848, dem größten Straßenkrieg, den die Geschichte je gesehen hat. […] Diese Unentschlossenheit – um nicht zu sagen diese Verrenkungen – erklären die lange Abschweifung zu Beginn des fünften Teils über die beiden Barrikaden vom Juni 1848, „Die Charybdis des Faubourg Saint-Antoine und die Skylla des Faubourg du Temple”.

Olivier Rolin setzt genau an dieser Verkürzung an und macht aus Hugos Nebensatz ein ganzes Buch. Er löst Barthélemy und Cournet aus ihrer symbolischen Funktion und führt sie in die historische Zeit zurück, mit Körpern, Biografien, Irrtümern und Zufällen. Barthélemy wird bei ihm nicht der abstrakte Fanatiker, sondern ein von Gefangenschaft gezeichneter Mann, dessen Radikalität eine soziale und physische Geschichte hat; Cournet nicht der romantische Sturmführer, sondern ein widersprüchlicher Republikaner zwischen Loyalität, Schulden und improvisierter Großzügigkeit. Indem Rolin ihre Wege minutiös rekonstruiert, entzieht er ihnen jede hugolianische Erlösungs- oder Verdammungslogik. Sein Buch lässt sich insgesamt als Entmythologisierung durch Präzision lesen: Es zeigt, wie Literatur aus historischen Leben Sinn gewinnt – und was dabei ausgelöscht wird. Rolins Text widerspricht Hugo nicht offen, sondern verschiebt den Maßstab: von der symbolischen Ordnung des Romans zur unaufgelösten Härte der Geschichte, die kein moralisches Gleichgewicht kennt.

Disziplinierungsmaschine Bagno

Mit dem Bagno bezeichnet man im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts die staatlichen Zwangsarbeitsanstalten für zu schweren Strafen verurteilte Männer, vor allem die großen Sträflingslager in den Hafenstädten wie Brest, Toulon oder Rochefort. Das Bagno war eine Disziplinierungsmaschine: Die Sträflinge waren dauerhaft angekettet, oft im sogenannten accouplement, bei dem zwei Männer ununterbrochen miteinander verbunden blieben, Tag und Nacht. Arbeit, Schlaf, Körperpflege und Bewegung vollzogen sich unter Gewalt, öffentlicher Demütigung und totaler Kontrolle. In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird das Bagno zum Symbol eines Strafsystems, das nicht bessert, sondern deformiert. Während Hugo das Bagno im Schicksal Jean Valjeans noch als überwundenes Trauma in ein Erlösungsnarrativ einbindet, zeigt Rolin am Beispiel Barthélemys das Gegenteil: das Bagno als Ort, an dem sich Hass, Stolz und politische Verhärtung dauerhaft in den Körper einschreiben.

Der Titel von Olivier Rolins jüngstem Buch, Jusqu’à ce que mort s’ensuive, ist bewusst nüchtern, beinahe administrativ formuliert. Die Wendung stammt aus dem juristischen und polizeilichen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts und bezeichnet eine Handlungskette, die fortgesetzt wird, bis der Tod eintritt – ohne Pathos, ohne moralische Wertung, ohne Transzendenz. Genau diese sprachliche Kälte ist programmatisch. Rolin übernimmt eine Formel, die menschliches Handeln auf seine äußerste Konsequenz reduziert, und macht sie zum Dach seines Buches. Der Titel verweigert jede Sinnverheißung: Er kündigt keinen Kampf, kein Ideal, keine Erlösung an, sondern lediglich eine Abfolge von Ereignissen, die zwangsläufig im Tod endet. Damit spiegelt er die Lebensläufe Cournets und Barthélemys als Prozesse der Eskalation, nicht als Schicksale mit innerer Logik oder höherem Ziel.

Zugleich lässt sich der Titel als implizite Absage an die große Sinnmaschine des Romans lesen – und damit als stiller Gegenentwurf zu Hugo. Les Misérables ist ein emphatischer, totalisierender Titel: Er erhebt eine soziale Kategorie zum moralischen Subjekt der Geschichte und verspricht, dass Elend erzählbar, verstehbar und letztlich bedeutungsvoll sei. Hugo benennt ein Kollektiv und schreibt ihm Würde zu; Rolin hingegen benennt einen Endpunkt und entzieht ihm jede Symbolik. Wo Hugo auf Dauer, Gemeinschaft und moralische Entwicklung zielt, insistiert Rolin auf Endlichkeit, Vereinzelung und Abbruch. Der Vergleich der Titel macht damit den zentralen Unterschied der beiden Projekte sichtbar: Hugo schreibt ein Epos der Hoffnung gegen das Elend, Rolin eine präzise Chronik, in der Handlungen fortgesetzt werden – bis der Tod folgt, und nicht darüber hinaus.

Rolins Text entzieht sich bewusst einer eindeutigen Gattungszuweisung und gewinnt gerade aus dieser Schwebe seine literarische Präzision. Jusqu’à ce que mort s’ensuive ist weder historischer Roman im klassischen Sinn noch Biografie, weder Essay noch reine Dokumentarprosa, sondern lässt sich am treffendsten als dokumentarisch grundierter Erzählessay oder als historiographische Narration bezeichnen. Rolin arbeitet mit Archiven, Zeitungsartikeln, Gerichtsakten und Memoiren, doch er ordnet dieses Material nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach narrativer Spannung und poetischer Evidenz. Die Faktizität bleibt unangetastet, wird aber durch eine klar erkennbare Erzählinstanz rhythmisiert, kommentiert und perspektiviert. Entscheidend ist: Rolin schreibt Geschichte nicht, um sie zu erklären, sondern um sie lesbar zu machen – als Abfolge von Situationen, Körpern, Räumen und Entscheidungen. In diesem Sinn steht der Text in der Tradition einer französischen non-fiction littéraire, die Wahrheit nicht über Theorie, sondern über Form gewinnt.

Der Schluss des Buches ist entsprechend konsequent unspektakulär und gerade darin bedeutungsvoll. Mit Barthélemys Hinrichtung am Galgen endet die Erzählung ohne Trost, ohne ideologische Auflösung, ohne moralischen Mehrwert. Rolin verweigert jede symbolische Überhöhung dieses Endes: Der Tod ist nicht exemplarisch, nicht erlösend, nicht warnend – er ist schlicht das Ende einer biografischen Linie, die von Gewalt durchzogen war und in Gewalt mündet. Diese Nüchternheit markiert eine bewusste Gegenbewegung zur hugolianischen Teleologie. Während Hugo selbst im Scheitern noch Bedeutung generiert, insistiert Rolin auf der Endgültigkeit des Endes. Der Galgen schließt nichts ab außer ein Leben. So ist der Schluss weniger als Pointe denn als methodische Setzung zu lesen: Geschichte, so Rolin, schuldet uns keinen Sinn. Die Literatur kann sie erzählen, ordnen, sichtbar machen – aber sie darf sie nicht erlösen.

Hugo gegen Hugo lesen

Olivier Rolins Jusqu’à ce que mort s’ensuive ist nicht einfach eine historische Ausarbeitung eines literarischen Details, sondern ein Akt bewusster Gegengeschichtsschreibung. Ausgangspunkt ist die marginale, fast parenthetische Passage in Les Misérables, in der Victor Hugo – ansonsten ganz dem Juni 1832 verpflichtet – kurz die Junikämpfe von 1848 streift. Diese Passage ist bei Hugo strukturell randständig, semantisch jedoch hoch aufgeladen: Sie wirkt als dunkler Spiegel seiner eigenen Barrikadenmythologie.

Hugos Barrikadenmythologie in Les Misérables beruht auf einer doppelten Verschiebung: historisch und symbolisch. Zwar ist der Roman narrativ fest im Juni 1832 verankert, doch die kurze, fast parenthetische Digression zu den Junikämpfen von 1848 öffnet einen Abgrund innerhalb dieser Ordnung. Gerade weil diese Passage strukturell randständig bleibt, gewinnt sie semantische Sprengkraft. Hugo nennt die beiden Barrikaden von 1848 „effrayants chefs-d’œuvre“, erhebt sie also zu ästhetischen Monumenten – und markiert sie zugleich als Symptome einer „maladie sociale“. Die Barrikade ist bei ihm kein bloßes Kampfmittel, sondern ein lesbares Zeichen: Architektur wird zur sozialen Allegorie, das improvisierte Bauwerk zum Kristallisationspunkt historischer Schuld.

In dieser Mythologisierung steht die Barrikade als Übergangsform zwischen Geschichte und Epos. Hugo entzieht sie der reinen Faktizität, indem er sie mit Metaphern überlädt und in ein quasi kosmisches Bedeutungssystem einbindet. Charybdis als Anarchie, Skylla als totale Unterdrückung durch den Staat bzw. Charybdis (ein Justizsystem, das einmal erfasste Seelen nie wieder loslässt und sie in einem Strudel aus Bestrafung und Stigmatisierung vernichtet, vgl. Javert) und Skylla (das nackte Elend, der Hunger und die Hoffnungslosigkeit, die den Menschen in die Kriminalität treiben, wie Jean Valjean) – diese antiken Ungeheuer als tiefgreifendes Symbol für die sozialen und politischen Sackgassen des 19. Jahrhunderts – strukturieren die Wahrnehmung des Aufstands und verleihen ihm eine fatalistische Dimension: Wer sich zwischen ihnen bewegt, ist dem Untergang geweiht.

Zugleich erlaubt diese Bildsprache Hugo, Distanz zu wahren. Die Barrikaden von 1848 werden nicht heroisiert wie jene von 1832, sondern als monströse Auswüchse einer entgleisten Geschichte betrachtet. Mythos dient hier nicht der Verklärung, sondern der Einhegung eines Ereignisses, das sich der moralischen Ordnung des Romans widersetzt. Gerade in dieser Ambivalenz zeigt sich die innere Spannung von Hugos Barrikadenmythologie. Die Digression zu 1848 wirkt wie ein Störsignal im epischen Fluss: Sie konfrontiert den Leser mit einer Revolution, die sich nicht mehr eindeutig moralisch codieren lässt. Während die Barrikade von 1832 zum Ort des opferbereiten Idealismus wird, erscheint jene von 1848 als düstere Verdichtung sozialer Gewalt, die selbst Hugo nur zögernd einzuordnen vermag. Die Mythologisierung ist hier ein Akt der Bewältigung: Indem Hugo das historisch Unbequeme in monumentale Bilder überführt, bannt er es literarisch – und verrät zugleich, wie brüchig sein eigenes revolutionäres Narrativ an dieser Stelle geworden ist.

Rolin nimmt diese Spannung ernst. Er behandelt Hugos „Abschweifung“ nicht als Digression, sondern als symptomatische Leerstelle: Dort, wo Hugos Roman seine moralische und symbolische Ordnung nicht mehr stabil halten kann, setzt Rolin mit archivalischer Hartnäckigkeit an. Seine Biografie der beiden Revolutionäre ist damit Korrektur durch Vergrößerung.

Monumentalisierung versus Materialität – zwei Poetiken der Revolution

Hugos berühmte Beschreibung der Barrikaden von 1848 ist paradox: Er nennt sie „chefs-d’œuvre“, also Meisterwerke – ein ästhetischer Begriff für Gebilde äußerster sozialer Zerrüttung. Die Barrikade wird bei ihm zum Architektursymbol des Ausnahmezustands, zur steinernen Allegorie einer kranken Gesellschaft. Rolin entzieht dieser Metapher den Boden, indem er sie historisch rückbindet. Die Differenz zwischen der chaotischen Barrikade von Saint-Antoine und der geometrisch präzisen Festung des Faubourg du Temple wird bei ihm nicht moralisch, sondern sozial gelesen: unterschiedliche Milieus, unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedliche Körper im Raum des Aufstands. Während Hugo Typen konstruiert, rekonstruiert Rolin Praktiken – Sammeln von Material, Organisation von Wachen, Disziplin oder deren Fehlen.

Entscheidend ist dabei die von Rolin freigelegte Unsicherheit der Quellen. Dass Cournet womöglich gar nicht an „seiner“ Barrikade stand, entlarvt Hugos Darstellung als poetische Verdichtung, die historische Kontingenz zugunsten dramatischer Symmetrie opfert. Der Roman schafft Gegenspieler, wo die Geschichte nur lose Verkettungen kennt.

Rolin erklärt sein Vorhaben mit bemerkenswerter Nüchternheit und zugleich mit programmatischer Klarheit. Ausgangspunkt ist für ihn kein historisches Erkenntnisinteresse im engeren Sinn, sondern ein literarischer Reiz: Einige wenige Zeilen bei Hugo, in denen das Schicksal zweier Revolutionäre mit fast beiläufiger Grausamkeit zusammengefasst wird, erscheinen ihm „étranges et romanesques“ genug, um eine ganze Erzählung zu tragen. Entscheidend ist dabei das Missverhältnis zwischen erzählerischer Kürze und existenzieller Dichte. Hugo erledigt Leben, Kämpfe, Exil, Mord und Hinrichtung in wenigen Sätzen – genau diese ‚brutale‘ Kompression provoziert Rolins Schreibimpuls.

Rolin versteht sein Buch explizit als Rekonstruktion: Er wolle diese Geschichte „du début jusqu’à la fin“ nachzeichnen, räumlich wie zeitlich, von Paris nach London, von der Barrikade zum Galgen. Damit grenzt er sich implizit von Hugos Verfahren ab. Wo Hugo symbolisiert, verkürzt und typisiert, setzt Rolin auf Chronologie, Materialität und dokumentarische Genauigkeit. Sein Projekt ergänzt nicht eigentlich den Roman, es leistet eine Rückführung der literarischen Figur in die historische Zeit, mit all ihren Brüchen, Zufällen und ideologischen Sackgassen.

Zugleich macht Rolin keinen Hehl daraus, dass Hugo selbst Teil dieser Geschichte bleibt. Das Buch richtet sich nicht nur auf Cournet und Barthélemy, sondern auch auf den Schriftsteller, der sie in Besitz genommen hat. Rolin liest Hugos Text als einen Akt nachträglicher Sinngebung – und fragt, was dabei verloren geht. Sein Vorhaben ist daher doppelt: die vergessenen Revolutionäre aus dem Schatten der Literatur zu holen und zugleich sichtbar zu machen, wie Literatur Geschichte formt, verkürzt und moralisch ordnet. In diesem Sinn ist Jusqu’à ce que mort s’ensuive eine kontrollierte Reibung am großen Text Hugos.

Emmanuel Barthélemy oder die Negativfigur Jean Valjeans

In der Perspektive Rolins erscheint Jean Valjean als moralische Konstruktion, als das von Hugo entworfene Gegenmodell zu jenen historischen Existenzen, die an derselben sozialen Maschine zerbrechen. Valjean verkörpert bei Hugo die Möglichkeit der Transfiguration: Der Körper des Sträflings wird durch Arbeit, Geduld und Barmherzigkeit in einen Träger ethischer Größe verwandelt. Rolin liest diese Figur implizit als literarische Antwort auf das Bagno – als Versuch, dem Zwangssystem eine Sinnteleologie abzuringen. Wo das Strafregime entmenschlicht, restituiert der Roman Würde; wo die Geschichte vernichtet, rettet die Erzählung. Valjean ist damit weniger realistische Figur als poetische Hypothese: dass das Elend, richtig gelesen, in Humanität umschlagen könne.

Gerade vor dem Hintergrund von Barthélemy wird diese Hypothese bei Rolin fragwürdig. Barthélemy ist gleichsam ein negativer Jean Valjean: ebenfalls ehemaliger Zwangsarbeiter, ebenfalls gezeichnet vom Bagno, aber ohne den rettenden Umschlag in Moral oder Versöhnung. Rolin macht sichtbar, was Hugo verdrängt: dass das System der Strafe nicht notwendigerweise Läuterung hervorbringt, sondern ebenso Hass, Fanatismus und zerstörerischen Stolz. In diesem Licht erscheint Jean Valjean als Ausnahmefigur, vielleicht sogar als notwendige Fiktion, die es Hugo erlaubt, an eine sinnvolle Dialektik von Schuld und Erlösung zu glauben. Rolin widerspricht dieser Dialektik nicht frontal, aber er unterläuft sie, indem er zeigt, wie hoch der literarische Preis dieser Hoffnung ist: Valjeans Erlösung existiert nur, weil andere – historisch reale – Figuren ohne Erlösung enden.

Barthélemy ist bei Hugo bereits eine bedrohliche Figur, doch Rolin radikalisiert diese Bedrohung, indem er sie erklärt, ohne sie zu entschuldigen. Der Aufenthalt im Bagno von Brest bildet das ideologische und affektive Zentrum dieser Existenz. Anders als bei Jean Valjean führt das Zwangssystem hier nicht zur moralischen Läuterung, sondern zur Verhärtung.

Rolin schreibt damit implizit gegen Hugos Erlösungsnarrativ an. Während Les Misérables von der Möglichkeit moralischer Transzendenz selbst im Elend ausgeht, zeigt Rolin einen Menschen, dessen Erfahrungen jede Idee von Versöhnung zerstören. Barthélemy ist kein „verirrter Held“, sondern das Produkt einer Gesellschaft, die Gewalt systematisch einübt und anschließend moralisch verurteilt.

Besonders aufschlussreich ist Rolins insistierende Körperlichkeit: die Ketten, das „Accouplement“, der erzwungene Gleichschritt. Revolution erscheint hier nicht als Idee, sondern als somatisch eingeschriebene Erfahrung. Barthélemys Atheismus ist folgerichtig: Wer im Körper gedemütigt wurde, misstraut jeder jenseitigen Vertröstung.

Frédéric Cournet oder der Rest des Romantischen

Cournet bleibt bei Rolin ambivalent. Er ist Überbleibsel einer romantischen Revolutionsethik, die auf Tatkraft, Loyalität und persönliche Großzügigkeit setzt. Seine Biografie – Schulden, Disziplinarstrafen, improvisiertes Leben – widerspricht der hugolianischen Heroisierung, ohne sie vollständig zu zerstören.

Hier liegt eine subtile Pointe Rolins: Cournet ist kein falscher Held, sondern ein anachronistischer. Seine politische Moral basiert auf persönlicher Ehre, nicht auf ideologischer Reinheit. Dass er 1851 Hugo schützt, verleiht der literarischen Überlieferung eine fast schuldbeladene Dimension: Der Schriftsteller verdankt dem Revolutionär sein Leben – und rettet ihn später durch Literatur vor dem Vergessen. Damit kehrt sich das Abhängigkeitsverhältnis um. Geschichte wird nicht mehr vom Roman geadelt, sondern der Roman erscheint als nachträgliche Gegengabe.

Zerfall aller heroischer Zuschreibungen

Im Londoner Exil zerfallen alle heroischen Zuschreibungen. Rolin beschreibt die Stadt als monströsen Verdauungsapparat, der Ideale verschluckt und Menschen gegeneinander aufhetzt. Hier wird Revolution zur inneren Feindschaft, zur Paranoia der Gesinnung.

Das Duell von Englefield Green ist der logische Endpunkt dieser Entwicklung. Es ist kein politischer Akt, sondern ein Ritual ohne Transzendenz. Dass Barthélemys Pistole zunächst versagt, wirkt wie ein letzter Aufschub der Geschichte selbst. Cournets tödliche Großzügigkeit – das Anbieten der eigenen Waffe – erscheint im Rückblick als tragischer Rest einer Ethik, die in der neuen Zeit keinen Ort mehr hat.

Hugos knappe Zusammenfassung – Duell, Tod, Hinrichtung – besitzt die kalte Eleganz einer antiken Tragödie. Rolin hingegen verweigert jede Form von Sinnstiftung. Barthélemys Ende am Galgen ist nicht kathartisch, sondern leer, einsam, unerquicklich. Keine Idee wird bestätigt, keine Schuld gesühnt. Hier trennt sich endgültig der Weg beider Autoren: Hugo sucht im Elend noch Bedeutung, Rolin zeigt Bedeutung als nachträgliche Konstruktion.

Rolins Buch funktioniert wie eine historiographische Nahaufnahme dessen, was Hugo aus epischer Distanz betrachtet. Wo Hugo Typen schafft, zeigt Rolin Prozesse; wo Hugo mythologisiert, insistiert Rolin auf Materialität, Zufall und Scheitern.

Die Metapher der Freskenrestaurierung lässt sich noch zuspitzen: Rolin legt nicht nur Details frei, sondern macht sichtbar, wo der Putz selbst bröckelt. Seine Lektüre von Hugo ist respektvoll, aber unerbittlich. Sie erinnert daran, dass große Literatur nicht dadurch entsteht, dass sie Geschichte verschönert, sondern dadurch, dass sie immer wieder neu von ihr befragt wird.

So wird aus einer Randnotiz ein Erkenntnisraum – und aus zwei gescheiterten Revolutionären ein Prüfstein für das Verhältnis von Literatur, Gewalt und historischer Wahrheit.


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