Nürnberger Prozesse ohne Schlussstrich: Alfred de Montesquiou

Nürnberg als Raum des Übergangs

Im November 2025 kam der Film Nuremberg in die Kinos, mit Russell Crowe in der Rolle des Nazi-Kriegsverbrechers Hermann Göring. Das Drama fokussiert den psychologischen Schlagabtausch zwischen Göring und dem US-Militärpsychiater Douglas Kelley, gespielt von Rami Malek. Die Handlung basiert auf dem Sachbuch Der Nazi und der Psychiater von Jack El-Hai 1. Regie führte James Vanderbilt, man kann vermuten, der Film ist anlässlich des 80. Jahrestags der Nürnberger Prozesse in die Kinos gekommen. Während jedoch Vanderbilts Film die Geschichte auf ein klaustrophobisches Psycho-Duell zwischen Hermann Göring und dem Psychiater Douglas Kelley verengt, entfaltet de Montesquiou in seinem Roman Le crépuscule des hommes (2025) ein breites Panorama aus unzähligen Perspektiven. „Nuremberg“ setzt auf das klassische Hollywood-Prinzip der Personalisierung und Heroisierung des Konflikts, wohingegen der Roman die historische Komplexität durch das Gewimmel von Journalisten, Gästen und Randfiguren einfängt. Während der Film die Täterpsychologie ins Zentrum rückt, um das „Böse“ greifbar zu machen, interessiert sich de Montesquiou primär für die soziale Dynamik und die vielstimmige Kommunikation am Rande des Geschehens. Der Film nutzt die monumentale Gerichtskulisse als Bühne für zwei Oscar-Preisträger, während im Roman das Tribunal nur eines von vielen Elementen in einem Netz aus Beobachtungen und Alltagsnotizen ist. Somit steht das auf Hochglanz polierte „Kino der großen Männer“ einer literarischen Erzählweise gegenüber, die die Prozesse in Nürnberg als vielschichtiges, dezentrales Ereignis versteht.

Die Vorführung des Dokumentarfilms Nazi Concentration Camps markierte gleichwohl in de Montesquious Buch einen der psychologisch tiefgreifendsten Momente des Prozesses, als die Angeklagten durch Robert Jacksons „Hamlet-Strategie“ gezwungen wurden, ihren eigenen monströsen Taten Auge in Auge gegenüberzutreten. Während die entsetzlichen Bilder von Leichenbergen in Buchenwald und Dachau über die Leinwand flimmern, bleiben die Gesichter der Männer im Dock durch ein raffiniertes System kleiner, in den Zwischenwänden verborgener Neonröhren für die Beobachter hell erleuchtet, was jede noch so kleine Regung der Erschütterung preisgibt. Die physischen Reaktionen sind so vielfältig wie entlarvend: Während Hermann Göring seine bleichen Kiefer so fest zusammenpresst, dass sie beinahe zu bersten scheinen, verbirgt Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel seine Augen hinter einer zitternden Hand, unfähig, dem Grauen standzuhalten. Der Ideologe Julius Streicher zeigt ein verzerrtes Grinsen abjekter Angst, und Hans Frank, der ehemalige Generalgouverneur von Polen, bricht angesichts der filmischen Beweise für das Grauen in Tränen aus. In diesem Moment der absoluten Konfrontation scheint der Hochmut der einstigen Machthaber in einer Atmosphäre aus Entsetzen zu zerfallen, als sie begreifen, dass sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit unwiderlegbar mit ihrem „immensen Verbrechen“ verbunden werden.

James Vanderbilt, Nuremberg, 2025, Trailer.

Alfred de Montesquiou wählt für den Roman Le crépuscule des hommes, der den Prix Renaudot Essai [sic!] 2025 erhielt, einen historischen Ort, der bereits vor seiner literarischen Bearbeitung semantisch überdeterminiert ist. Nürnberg ist nicht nur Schauplatz der Nürnberger Prozesse, sondern zugleich Erinnerungsort nationalsozialistischer Selbstinszenierung, Trümmerlandschaft eines zerstörten Reiches und Geburtsstätte eines neuen, internationalen Völkerrechts. Der Roman setzt an dieser Schwelle an. Er erzählt nicht die Prozesse selbst – Urteile, Plädoyers, juristische Argumentationen treten auffällig in den Hintergrund –, sondern fokussiert die Peripherie des Tribunals: die Beobachter, Vermittler, Zeugen zweiter Ordnung. Damit verschiebt sich die Perspektive von der Frage der Schuldzuweisung hin zur Frage der Wahrnehmbarkeit, Erzählbarkeit und moralischen Einordnung des Geschehenen.

Sprache erscheint im Roman als prekäre, instabile Größe. Die Prozesse sind durchzogen von Übersetzungen, Dolmetschleistungen, juristischen Fachsprachen und journalistischen Kürzungslogiken. Kommunikation wird vermittelt, verzerrt, fragmentiert. Der Roman legt offen, dass selbst das Sprechen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit strukturell defizitär bleibt. Die journalistische Kommunikation – Telegramme, Berichte, Schlagzeilen – steht im Spannungsverhältnis zur individuellen Erschütterung der Figuren. Die Pflicht zur Übermittlung kollidiert mit dem Erleben des Unaussprechlichen.

Sans doute Nuremberg devait-elle payer. Sa portée symbolique la désignait comme une cible ; non comme berceau du IIe Reich, celui du Moyen Âge, mais comme celui du IIIe, concocté par Adolf Hitler et ses sbires. Didier se rappelle les images terrifiantes de ces foules électrisées, hurlant « Sieg Heil ! » à l’intention du Führer, debout sur sa tribune de marbre blanc, entouré de sculptures d’aigles et de bannières rouges frappées de swastikas flottant au vent. À l’époque, l’adolescent qu’il était n’avait pu s’empêcher d’y voir un certain lyrisme wagnérien. Puis l’inquiétude l’avait gagné, d’abord diffuse, comme le grondement d’un orage au loin. La tempête avait pourtant sévi de plus en plus fort ; Didier avait entendu les diatribes que vomissaient Julius Streicher, Rudolf Hess, Alfred Rosenberg, Hermann Göring et les autres. Dès 1935, c’est depuis les tribunes de Nuremberg que les nazis proclamèrent leurs lois antisémites, excluant les Juifs de la fonction publique, de l’école et de l’université. On aurait dû les contenir bien plus tôt, regrette Didier en regardant le champ de ruines qui l’entoure à présent. Une fois lancés, la haine et le mépris ne reviennent jamais dans leur lit, à la manière d’une rivière après le déluge.

Zweifellos musste Nürnberg dafür bezahlen. Seine symbolische Bedeutung machte es zu einem Ziel; nicht als Wiege des Zweiten Reiches, des Mittelalters, sondern als Wiege des Dritten Reiches, das Adolf Hitler und seine Handlanger erschaffen hatten. Didier erinnert sich an die erschreckenden Bilder dieser elektrisierten Menschenmassen, die „Sieg Heil!“ dem Führer zuriefen, der auf seiner Tribüne aus weißem Marmor stand, umgeben von Adler-Skulpturen und roten Fahnen mit Hakenkreuzen, die im Wind wehten. Damals konnte der Teenager, der er war, nicht umhin, darin eine gewisse Wagner’sche Lyrik zu sehen. Dann überkam ihn eine zunächst diffuse Unruhe, wie das Grollen eines fernen Gewitters. Der Sturm wurde jedoch immer heftiger; Didier hörte die Hetzreden von Julius Streicher, Rudolf Hess, Alfred Rosenberg, Hermann Göring und anderen. Bereits 1935 verkündeten die Nazis von den Tribünen in Nürnberg ihre antisemitischen Gesetze, die Juden aus dem öffentlichen Dienst, aus Schulen und Universitäten ausschlossen. Man hätte sie viel früher eindämmen müssen, bedauert Didier, als er die Trümmerlandschaft betrachtet, die ihn nun umgibt. Einmal entfesselt, kehren Hass und Verachtung nie wieder in ihr Bett zurück, so wie ein Fluss nach der Flut.

So wie München Geburtsort der NSDAP und Ort des Marsches auf die Feldherrnhalle 1923 und als solche „Hauptstadt der Bewegung“ war, so war Nürnberg „Stadt der Reichsparteitage“ ab 1933, also Zentrum der NS-Propaganda mit Paraden und Massenspektakeln. Nürnberg war im Nationalsozialismus Kultort, Reichssymbol, Propagandazentrum und juristischer Wendemoment. Es verkörperte die Inszenierung von Macht wie auch die gesetzliche Umsetzung der NS-Ideologie. Berlin war als Reichshauptstadt und als Standort des Reichskanzleramts das Machtzentrum. Der Roman versteht Nürnberg nicht als Ort einer abschließenden Abrechnung, sondern als Übergangsraum, in dem alte Ordnungssysteme kollabieren, ohne dass bereits neue tragfähig etabliert wären. Diese Schwebe wird programmatisch im Titel formuliert.

Etablierung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit

Das Judentum und die jüdische Identität nehmen in de Montesquious Roman eine zentrale Stellung ein, verkörpert durch vielschichtige Protagonisten, deren Schicksale die historische Dimension des Prozesses persönlich greifbar machen. Im Mittelpunkt steht Ernst Michel, ein Überlebender von Auschwitz und Buchenwald, der als Journalist seine Häftlingsnummer „10-49-95“ wie ein Brandmal menschlichen Grauens trägt und den inneren Drang verspürt, als Zeuge für sein Volk aufzutreten. Didier Lazard, ein französischer Korrespondent aus einer bekannten Bankiersfamilie, reflektiert seine eigene Verfolgung in Verstecken während der Besatzungszeit und verbindet die Zerstörung Nürnbergs direkt mit der ideologischen Schuld der Rassegesetze von 1935. Ergänzt wird diese Perspektive durch die Gerichtsreporterin Madeleine Jacob, die sich ihrer jüdischen Abstammung stets bewusst ist, sowie die Intellektuellen Ilja Ehrenburg und Joseph Kessel, die sich in ihrem Leid als jüdische Denker einsam fühlen und von den Millionen Geistern der Opfer heimgesucht werden.

Die systematische Vernichtung der Juden wird im Gerichtssaal durch erschütternde Zeugenaussagen und bürokratische Täterberichte thematisiert, die das Ausmaß der Shoah offenlegen. Besonders eindringlich ist der Bericht von Marie-Claude Vaillant-Couturier, die die grausamen Selektionen in Auschwitz beschreibt und von SS-Männern berichtet, die jüdische Säuglinge wie Kätzchen ertränkten oder Kinder lebendig in die Flammen warfen, weil das Gas fehlte. Dem gegenüber steht die emotionslose Effizienz von Rudolf Höss, dem Kommandanten von Auschwitz, der die Ermordung von Millionen Menschen, darunter allein 400.000 ungarische Juden, als bloße logistische Leistung darstellt. Diese Konfrontation mit der „Endlösung“ führt zur dringlichen Diskussion über neue juristische Konzepte wie den des „Génocide“ (des Völkermords), den Raphael Lemkin im Völkerrecht zu etablieren versucht.

Die Etablierung des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in den Nürnberger Prozessen wird im Roman als ein mühsamer Prozess zwischen juristischer Pionierarbeit, erschütternder Beweisaufnahme und politischer Desillusionierung dargestellt. Der Prozess markierte die Geburtsstunde eines supranationalen Rechts, das über nationaler Souveränität steht. Während der Rechtsgelehrte Hersch Lauterpacht maßgeblich an der Einbeziehung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in die Anklageschrift mitwirkte, kämpfte Raphael Lemkin leidenschaftlich für die Anerkennung des Begriffs „Genozid“ (Völkermord). Lemkin definierte damit ein beispielloses Verbrechen: den vorsätzlichen Versuch, ein ganzes Volk aufgrund seiner Identität physisch zu vernichten. Trotz der massiven Beweise zeigt der Roman das bittere Ende der juristischen Etablierung. Robert Jackson war am Ende des Prozesses tief desillusioniert, da die Richter den Begriff „Genozid“ in der Urteilsverkündung nicht ein einziges Mal verwendeten und seinen zentralen Anklagepunkt der „Verschwörung“ weitgehend fallen ließen.

Politische Spannungen und ideologische Kämpfe überschatten oft die Anerkennung des spezifisch jüdischen Leidens, insbesondere durch die sowjetische Delegation. Auf Befehl Moskaus versuchen die Sowjets, die religiöse Identität der Opfer zu verschleiern, indem sie diese lediglich nach ihrer Nationalität klassifizieren; dies führt dazu, dass Ernst Michel als Zeuge abgelehnt wird, da er offiziell als „Deutscher“ gilt. Inmitten dieser Kälte zeigt sich eine bittere Ironie im Gerichtssaal, wenn die NS-Größen ihre Verteidigung in einem Raum führen müssen, in dem viele Dolmetscher den deutlichen jiddischen Akzent ihrer einstigen Opfer tragen. Währenddessen behalten Angeklagte wie Rudolf Heß ihren Antisemitismus bis zuletzt bei, was sich in blasphemischen Ausbrüchen während einer Weihnachtsfeier in der Gefängniskapelle äußert.

Trotz des allgegenwärtigen Traumas deutet die Erzählung für die jüdischen Protagonisten Momente der Katharsis und Hoffnung an. Ernst Michel erlebt eine tiefe Erschütterung, als er im Gefängnis Hermann Göring persönlich gegenüberstehen soll; er ist unfähig, dem Mörder seiner Eltern die Hand zu reichen, und flieht vor der physischen Präsenz des Monsters. Dennoch findet seine Geschichte eine tröstliche Wendung: Durch die Berichterstattung über sein Schicksal erhält er ein Telegramm aus Tel Aviv und erfährt, dass seine kleine Schwester Lotte überlebt hat. Während Joseph Kessel von der bevorstehenden Geburt des Staates Israel als Phönix aus der Asche des Holocaust träumt, symbolisiert die Rettung der kleinen Waise Bella durch einen amerikanischen Soldaten den mühsamen Fortbestand jüdischen Lebens nach der Katastrophe.

Jaspers, Arendt und die Nürnberger Prozesse als Aufgabe

Der Titel Le crépuscule des hommes entfaltet seine semantische Tiefe erst im intertextuellen Rückgriff auf Richard Wagners Götterdämmerung. Während diese den Untergang einer mythischen Ordnung markiert, evoziert die „Menschendämmerung“ einen moralischen, politischen und geistigen Verfall, der nicht heroisch, sondern entzaubert erscheint. Der Roman bindet diese Metapher explizit an das Ende der nationalsozialistischen Führungsfiguren. Als die Asche der hingerichteten Hauptkriegsverbrecher in der Isar verschwindet, formuliert Ray D’Addario: „Tu vois, déclare Ray en désignant les cendres qui disparaissent, c’est déjà ici, en Bavière, qu’il y a eu le crépuscule des dieux, et celui des idoles. Maintenant, c’est le crépuscule des hommes…“ („Siehst du, erklärt Ray und zeigt auf die verschwindende Asche, hier in Bayern gab es bereits die Götterdämmerung und die der Idole. Jetzt ist es die Menschendämmerung …“) Diese Szene verbindet den Titel mit einer doppelten Bewegung: dem historischen Ende der nationalsozialistischen Machtelite und der Einsicht, dass mit diesem Ende keine moralische Klärung einhergeht. Die im Roman stetig hereinbrechende Nacht und das Verblassen von Farbe fungieren dabei als wiederkehrende Metaphern einer beschädigten Wahrnehmung.

Der Roman positioniert sich implizit im Denkraum, den Karl Jaspers und Hannah Arendt im unmittelbaren Nachkrieg eröffnet haben. Beide nahmen nicht persönlich an den Nürnberger Prozessen teil und erscheinen folgerichtig auch nicht als Figuren. Dennoch spiegeln sich ihre zentralen Fragestellungen in der narrativen Anlage des Textes. Alfred de Montesquiou legt keinen Tribunalroman vor, sondern eine literarische Untersuchung der Frage, was Recht, Zeugenschaft und Erzählen nach beispiellosen Verbrechen leisten können.

Karl Jaspers’ Schrift Die Schuldfrage (1946) betont, dass die in Nürnberg verhandelten Taten so ungeheuerlich und neuartig waren, dass sie tatsächlich eine rechtliche Neuordnung – die Kategorie der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – erforderten. Für Jaspers sind die Prozesse notwendig, aber nicht hinreichend. Gerade deswegen entwickelt er seine berühmte Unterscheidung der Schuldtypen: Das Recht kann Kriminelle bestrafen, aber die Nation muss sich selbst mit politischer und moralischer Schuld auseinandersetzen. Jaspers unterscheidet insgesamt zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld und betont, dass Nürnberg ausschließlich die kriminelle Schuld einer begrenzten Tätergruppe verhandeln könne. Gerade darin liegt für ihn die Notwendigkeit, aber auch die Grenze der Prozesse. Das Recht kann bestrafen, nicht jedoch die moralische Selbstprüfung ersetzen, die jedem Einzelnen obliegt. Für Jaspers liegt moralische Schuld (§ 3 in Die Schuldfrage, Heidelberg, 1946) in der individuellen Selbstprüfung, die niemandem abgenommen werden könne. Sie betrifft nicht das juristisch Kriminelle oder die politisch-kollektive Verantwortung, sondern das eigene Gewissen und die Fähigkeit zur Reue. Schuldig werde, wer wusste oder wissen konnte und dennoch schwieg, sich täuschen ließ, sich anpasste oder aus Angst gehorchte. Diese Schuld zeigt sich in vielen Gestalten: im Leben unter der Maske, in einem falschen Gewissen, das soldatische Tapferkeit mit blindem Gehorsam verwechselte, in der halbherzigen Billigung vermeintlicher Vorzüge des Nationalsozialismus, in der Selbsttäuschung, man könne ihn von innen heraus mäßigen, in der passiven Hinnahme, die mögliche Spielräume des Widerstands ungenutzt ließ, und im opportunistischen Mitläufertum. Moralische Schuld betrifft damit gerade die Sühnefähigen, die der Täuschung und Anpassung bewusst werden können, und sie lastet in unterschiedlichem Maß auf fast allen, die im nationalsozialistischen Deutschland lebten. Diese Perspektive spiegelt sich in Le crépuscule des hommes in der konsequenten Verlagerung des Blicks weg von den Angeklagten hin zu den Beobachtern. Journalisten, Fotografen und Übersetzer erscheinen als Figuren, die sich der eigenen Verstrickung bewusst werden, ohne sich auf juristische Kategorien berufen zu können. Der Roman macht sichtbar, was Jaspers theoretisch formuliert: dass die eigentliche Arbeit der Auseinandersetzung mit der Schuld nicht im Gerichtssaal endet.

Auch Hannah Arendt hat die Nürnberger Prozesse intensiv reflektiert, in einer Mischung aus Anerkennung und Skepsis, und sie zieht daraus zentrale Folgerungen für ihr politisches und rechtstheoretisches Denken. Arendt erkennt an, dass Nürnberg eine Zäsur im Völkerrecht darstellte. Die Prozesse führten neue Kategorien ein – Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So wurde erstmals versucht, Taten zu bestrafen, die nicht nur gegen einzelne Staaten oder Personen, sondern gegen die gesamte Menschheit gerichtet waren. Sie sieht darin den Beginn einer rechtlichen Kodifizierung, die dem neuartigen Charakter nationalsozialistischer Gewalt angemessen sein sollte. Besonders kritisierte sie, dass der Tatbestand des „Verbrechens gegen den Frieden“ den Angriffskrieg in den Vordergrund stellte, während die Vernichtungspolitik gegen Juden, Roma und andere Bevölkerungsgruppen zunächst juristisch weniger Gewicht hatte.

Arendt betonte, dass hinter Nürnberg die größere Frage stand, wie man mit Taten umgehen soll, die so radikal neuartig sind, dass sie bestehende Kategorien sprengen. Hier entwickelt sie später ihr Konzept der „Banalität des Bösen“ und die Überzeugung, dass traditionelle moralische und juristische Maßstäbe nicht genügen, wenn das Verbrechen selbst beispiellos ist. In Eichmann in Jerusalem zieht Arendt einen klaren Vergleich: Während Nürnberg die Hauptverantwortlichen in einem internationalen Rahmen aburteilte, konzentrierte sich Jerusalem auf die persönliche Verantwortung eines Einzelnen. Sie folgert, dass ein Prozess dann seine volle Bedeutung entfalten könne, wenn er nicht historische Gesamtabrechnung oder politische Demonstration sein wolle, sondern klar das individuelle Handeln eines Täters in den Mittelpunkt stelle. Arendt zieht daraus zwei Lehren: Erstens, dass das Recht weiterentwickelt werden muss, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit fassen zu können. Zweitens, dass über das Recht hinaus eine politische und moralische Neubestimmung nötig ist, weil solche Verbrechen nicht nur Normverstöße, sondern Angriffe auf die Grundlagen des Menschseins sind. Nürnberg ist für sie deshalb weniger Endpunkt als Anfang – ein notwendiger Versuch, der aber die Aufgabe von Politik und Denken nicht ersetzt.

Der Roman greift diese Problematik auf, indem er Nürnberg nicht als Abschluss, sondern als Übergang erzählt. Die Hinrichtungen, die Urteile, selbst die Asche der Täter markieren kein Ende, sondern eine offene Leerstelle. Le crépuscule des hommes inszeniert Nürnberg als Anfang eines Denkens, nicht als dessen Vollendung. Die Menschendämmerung verweist nicht auf einen neuen Morgen, sondern auf die Notwendigkeit, mit einer dauerhaft erschütterten moralischen Landschaft zu leben – eine Einsicht, die Jaspers’ Forderung nach innerer Selbstprüfung und Arendts Skepsis gegenüber abschließenden Erklärungen literarisch verdichtet.

Die epistemische Form des roman vrai

Alfred de Montesquiou ist ein renommierter französischer Reporter, Autor und Dokumentarfilmer, der sich insbesondere als Kriegsberichterstatter für Medien wie Paris Match und Associated Press einen Namen gemacht hat und 2012 mit dem Prix Albert Londres sowie 2025 mit dem Prix Renaudot Essai für das vorliegende Buch ausgezeichnet wurde. Inhaltlich widmet er sich historischen Zäsuren und Grenzerfahrungen. Parallel zu seinem 2025 erschienenen Roman realisierte er die ARTE-Dokumentation Auf den Spuren der Geschichte: Die Nürnberger Prozesse, die Archivmaterial mit Tagebüchern und Berichten damaliger Beobachter verknüpft. Sein besonderer Beitrag liegt hier darin, Nürnberg als mediales und menschliches Schlüsselereignis zu zeigen, das sowohl die internationale Strafjustiz als auch die Ethik der Kriegsberichterstattung nachhaltig geprägt hat.

De Montesquiou bezeichnet seinen Text als roman vrai und markiert so eine bewusste Zwischenposition zwischen historiografischer Faktizität und literarischer Gestaltung. Der Roman basiert auf umfangreichem Quellenmaterial, historischen Figuren und überprüfbaren Ereignissen, beansprucht aber zugleich die Freiheit der literarischen Verdichtung. Diese Gattungswahl ist nicht bloß formal, sondern epistemologisch motiviert. Die historische Wahrheit der Nürnberger Prozesse – so die implizite These des Romans – ist nicht allein durch Akten, Protokolle und juristische Kategorien erfassbar. Sie verlangt nach einer narrativen Form, die Affekte, Wahrnehmungen, Irritationen und moralische Überforderung sichtbar macht.

Gerade dort, wo das Faktische an seine Grenzen stößt, setzt die Literatur an. Der roman vrai wird hier Erkenntnisinstrument, das konfrontiert. Die literarische Imagination wird nicht zur Flucht aus der Geschichte, sondern zu einem Mittel, ihre Zumutungen auszuhalten.

Die literarische und filmische Auseinandersetzung mit den Nürnberger Prozessen bildet ein transnationales Erinnerungsfeld, in dem sich unterschiedliche historische Erfahrungen, moralische Fragestellungen und narrative Prioritäten spiegeln. Deutschsprachige Werke richten den Blick häufig weniger auf das Tribunal selbst als auf seine Nachwirkungen. Texte wie Niklas Franks Meine Familie und ihr Henker oder Seweryna Szmaglewskas Die Unschuldigen in Nürnberg verknüpfen die Prozesse mit biografischer Betroffenheit, Schuldverdrängung und dem schwierigen Übergang in die Nachkriegszeit. Auch filmische Arbeiten wie Rosen für den Staatsanwalt oder Der Fall Collini thematisieren Nürnberg vor allem als Folie einer unzureichenden juristischen und moralischen Aufarbeitung, die bis weit in die Bundesrepublik hineinwirkt. Im englischsprachigen Raum, insbesondere in den USA, dominiert hingegen eine stärker dramatisierende Perspektive. Romane und Filme wie Joseph E. Persicos Nuremberg: Infamy on Trial oder Das Urteil von Nürnberg inszenieren die Prozesse als moralischen Schauplatz universeller Fragen von Schuld, Verantwortung und Recht, oft mit einer deutlichen Fokussierung auf amerikanische Akteure und einer Tendenz zur Personalisierung und Heroisierung der juristischen Instanzen.

Vor diesem Hintergrund nimmt Alfred de Montesquious Le crépuscule des hommes innerhalb der französischen Auseinandersetzung eine eigenständige Position ein. Während französische Darstellungen der Nürnberger Prozesse häufig dokumentarisch geprägt sind – exemplarisch etwa Christian Delages Film Der Prozess von Nürnberg –, verbindet der Roman historische Genauigkeit mit einer literarischen Perspektive auf die medialen und menschlichen Zwischenräume des Tribunals. De Montesquiou erzählt Nürnberg nicht als Bühne des Rechts oder als moralisches Lehrstück, sondern als Erfahrungsraum journalistischer Beobachtung, emotionaler Erschöpfung und epistemischer Unsicherheit. Damit grenzt sich der Roman sowohl von der retrospektiv-kritischen deutschen Tradition als auch von der normativ-moralischen Dramatisierung angloamerikanischer Werke ab. Le crépuscule des hommes ergänzt das bestehende Korpus der Nürnberg-Darstellungen um eine Poetik der Dämmerung: eine Erzählweise, die das historische Ereignis nicht abschließt, sondern als offenen Übergang begreift, in dem Recht, Erinnerung und Erzählen selbst auf dem Prüfstand stehen.

Episoden statt Tribunaldrama

Die Handlung von Le crépuscule des hommes entfaltet sich als episodische Abfolge datierter Szenen. Die Zeitstruktur folgt dem Kalender der Prozesse, doch die Dramaturgie orientiert sich an Wahrnehmungsintensitäten, nicht an juristischen Höhepunkten. Der Gerichtssaal erscheint immer wieder, bleibt jedoch Kulisse. Im Zentrum stehen Begegnungen, Gespräche, Beobachtungen im Pressequartier, in den Ruinen Nürnbergs, in Übergangsräumen zwischen Öffentlichkeit und Intimität. Diese Struktur erzeugt einen paradoxen Effekt: Je größer die historische Tragweite des Geschehens, desto stärker zerfällt seine literarische Darstellung in Fragmente. An die Stelle einer geschlossenen, sinnstiftenden Erzählung tritt eine Vielzahl unverbundener Eindrücke, deren Zusammenhang nicht explizit hergestellt wird. Diese bewusste Verweigerung einer totalisierenden Perspektive ist kein Mangel, sondern ein poetisches Programm. Der Roman macht hierdurch erfahrbar, dass die Nürnberger Prozesse als historisches Ereignis einer vollständigen narrativen Aneignung widerstehen. Die Fragmentierung spiegelt die Überforderung der Beobachter ebenso wie die epistemischen Grenzen des Erzählens selbst: Geschichte erscheint nicht als kohärente Abfolge von Ursachen und Wirkungen, sondern als Ansammlung von Momenten, deren Sinn sich nur bruchstückhaft und retrospektiv erschließt. In dieser erzählerischen Zurückhaltung liegt die eigentliche Aussage des Romans – die Einsicht, dass das Geschehene gerade dort am eindringlichsten wird, wo es sich einer abschließenden Darstellung entzieht.

Im Gerichtssaal selbst verdichtet der Roman diese Beobachtungen zu einer Reflexion über die Grenzen juristischer und medialer Vermittlung. Die Prozesse erscheinen vielen Beobachtern als langwierig und ermüdend, was zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen der historischen Bedeutung des Geschehens und seiner alltäglichen Wahrnehmung führt. Zugleich treten fundamentale Konflikte über Sinn und Zweck des Verfahrens zutage: zwischen dem Anspruch auf ein rechtsstaatliches „fair trial“ und dem Wunsch nach schneller Vergeltung, zwischen individueller Schuld und kollektiver Verantwortung, zwischen konkurrierenden juristischen Kategorien wie „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Diese Auseinandersetzungen sind untrennbar mit politischen Unterströmungen verbunden, die der Roman offenlegt – von internen Machtkämpfen innerhalb der amerikanischen Delegation bis zu den repressiven Kontrollmechanismen der sowjetischen Seite. Nürnberg erscheint so nicht als neutraler Ort objektiver Rechtsprechung, sondern als konfliktreicher Schauplatz, an dem Recht, Politik und mediale Beobachtung ineinander greifen und die Suche nach Wahrheit von strategischen Interessen überlagert wird.

Le raffut est assourdissant dans la grande salle de presse au premier étage du tribunal : les machines à écrire claquent comme des rafales, des bribes de phrases résonnent en toutes langues. L’interprète Margarete Borufka jette un coup d’œil autour d’elle, les journalistes se penchent sur leur copie, sourcils froncés, doigts tambourinant sur les touches en cadence. La jeune femme aperçoit son directeur, le charismatique Telford Taylor, en train de discuter avec Gordon Dean, chargé de la presse, tandis que des adjoints distribuent les déclarations liminaires des juges et du procureur pour l’audience qui va enfin s’ouvrir, ce matin à 10 heures. Pour l’instant, il fait encore nuit, mais les journalistes ont conservé les habitudes des années de guerre : ils se lèvent à l’horaire des commandos. « Hurry up and wait », « Dépêche-toi d’attendre » : c’est la devise officieuse de l’US Army. Margarete capte des conversations, des soupirs d’impatience. À l’extérieur, des chars américains montent la garde, les jeeps patrouillent, et des avions de combat se tiennent prêts à décoller. Les sentinelles du tribunal, surnommées snowflakes, « flocons de neige », par la presse à cause de leurs casques blancs, portent des Browning automatiques équipés de baïonnettes. La tension est palpable.

Der Lärm im großen Presseraum im ersten Stock des Gerichtsgebäudes ist ohrenbetäubend: Schreibmaschinen klappern wie Gewehrsalven, Satzfetzen hallen in allen Sprachen wider. Die Dolmetscherin Margarete Borufka blickt sich um, die Journalisten beugen sich über ihre Notizen, runzeln die Stirn und trommeln mit den Fingern im Takt auf die Tasten. Die junge Frau sieht ihren Direktor, den charismatischen Telford Taylor, der sich mit Gordon Dean, dem Pressesprecher, unterhält, während Assistenten die Eröffnungserklärungen der Richter und des Staatsanwalts für die Verhandlung verteilen, die endlich um zehn Uhr morgens beginnen wird. Im Moment ist es noch dunkel, aber die Journalisten haben sich die Gewohnheiten aus den Kriegsjahren bewahrt: Sie stehen zur Kommandozeit auf. „Hurry up and wait”, „Beeil dich und warte”: Das ist das inoffizielle Motto der US-Armee. Margarete hört Gespräche und ungeduldige Seufzer. Draußen stehen amerikanische Panzer Wache, Jeeps patrouillieren und Kampfflugzeuge stehen startbereit bereit. Die Wachen des Gerichts, die von der Presse wegen ihrer weißen Helme „Snowflakes“ („Schneeflocken“) genannt werden, tragen automatische Browning-Gewehre mit Bajonetten. Die Spannung ist greifbar.

Der Roman ist polyphon angelegt. Fotografen, Journalisten, Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen, Militärangehörige bilden ein Ensemble, das nicht durch eine zentrale Heldenfigur zusammengehalten wird. Im Crépuscule des hommes verlagert sich der Schwerpunkt der Beobachtung bewusst „hors de la salle d’audience“ und richtet sich auf die sozialen, medialen und politischen Interaktionen der internationalen Beobachter. Das Schloss Faber-Castell fungiert dabei als zentraler Resonanzraum, in dem sich Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten begegnen. In der Atmosphäre eines permanenten Berichtsrausches entstehen informelle Hierarchien, die von beruflichem Prestige ebenso geprägt sind wie von nationalen Zuschreibungen. Bars, Hotelflure und gesellschaftliche Anlässe werden zu Orten des Austauschs, des Klatsches und der ironischen Distanzierung, in denen Alkohol, Humor und Stereotypisierung als Bewältigungsstrategien gegenüber der Monotonie und dem moralischen Gewicht der Prozesse fungieren. Zugleich zeigen sich die Fragilität dieser Gemeinschaft und die rasche Erosion scheinbarer Kameradschaft, sobald politische Spannungen – insbesondere zwischen westlichen Alliierten und der Sowjetunion – an Schärfe gewinnen. Freundschaften bleiben flüchtig, Vertrauen prekär, und selbst private Beziehungen geraten unter den Verdacht politischer Instrumentalisierung. Besonders Ray D’Addario fungiert als Scharnierfigur: Fotograf, Beobachter, technisch präziser Chronist und zugleich emotional zunehmend überforderter Zeuge. Sein Blick ist paradigmatisch für die Haltung des Romans. Die Kamera suggeriert Objektivität, doch der Text unterläuft diese Annahme immer wieder.

In Le Crépuscule des hommes versammeln sich zahlreiche weltberühmte Künstler und Intellektuelle als Berichterstatter in Nürnberg, darunter John Dos Passos, Joseph Kessel, Elsa Triolet, Martha Gellhorn und Ilja Ehrenburg. Während Joseph Kessel den Prozess mit dem scharfen Blick eines Dramatikers analysiert und die psychologische Konfrontation der Täter mit Filmen ihrer Verbrechen als meisterhafte „Hamlet-Strategie“ bewundert, sieht John Dos Passos darin die Geburtsstunde eines völlig neuen supranationalen Rechts, das künftige Gräueltaten verhindern könnte. Die berühmte Kriegsreporterin Martha Gellhorn hingegen, die durch die Befreiung des Lagers Dachau tief traumatisiert ist, betrachtet die Angeklagten mit einer Mischung aus Abscheu und Spott; in ihren Aufzeichnungen charakterisiert sie die NS-Größen metaphorisch als ein „Bestiarium“ aus hinfälligen Tieren wie Reihern, Würmern und Füchsen.

Andere Künstler wie Elsa Triolet begegnen dem Justizapparat mit großer Distanz und Zynismus, wobei sie die Atmosphäre im Gerichtssaal als banal empfinden und bezweifeln, ob das Verfahren die Welt tatsächlich von „Nazi-Mikroben“ befreien kann. Die argentinische Schriftstellerin Victoria Ocampo kritisiert den Prozess zudem scharf als eine rein männliche Angelegenheit und fordert eine weibliche Perspektive auf das Unrecht, da Frauen die Konsequenzen des „männlichen Kriegssports“ stets mitgetragen haben. Während Erika Mann ihre Präsenz nutzt, um die deutsche Bevölkerung für ihre angebliche Unwissenheit zu verachten und sie mit den moralischen Mahnungen ihres Vaters Thomas Mann zu konfrontieren, bleibt für den sowjetischen Autor Ilja Ehrenburg vor allem das Trauma von Auschwitz präsent, das er aufgrund der stalinistischen Zensur nur eingeschränkt dokumentieren darf. Letztlich schwanken die Eindrücke dieser Künstler zwischen der Hoffnung auf eine neue Weltordnung und der tiefen Desillusionierung angesichts der menschlichen Abgründe.

Raumdeutungen: Nürnberg und das Schloss Faber-Castell

Besondere Bedeutung kommt der Raumdarstellung zu. Nürnberg erscheint als nahezu vollständig zerstörte Stadt, als „entfärbte“ Topografie moralischer Verwüstung. In crépuscule des hommes erscheint Nürnberg als semantisch hochverdichteter Raum, in dem sich mehrere historische, politische und symbolische Bedeutungsschichten überlagern. Die Stadt fungiert zugleich als ehemaliger Ort nationalsozialistischer Selbstinszenierung, als zerstörte Nachkriegslandschaft und als Schauplatz der juristischen Abrechnung mit dem „Dritten Reich“. Diese Überdetermination wird im Roman nicht aufgelöst, sondern produktiv gemacht. Nürnberg ist weder bloß Kulisse der Prozesse noch neutraler Erinnerungsort, sondern ein Schwellenraum, in dem sich das Ende einer Ordnung vollzieht, ohne dass eine neue bereits sichtbar wäre. Die topografische Zerstörung der Stadt korrespondiert mit der moralischen Verwüstung, die der Roman weniger durch explizite Kommentare als durch Wahrnehmungsbilder – Grau, Dämmerung, Nacht – vermittelt. Nürnberg wird so zum Ort einer entleerten Symbolik: Die einstige Bühne der Macht ist nun Fragment, und gerade in dieser Fragmentierung wird die historische Zäsur erfahrbar.

Erzählerisch wird Nürnberg als Raum der Vermittlung und Beobachtung semantisiert, nicht als Zentrum des Handelns. Der Gerichtssaal bleibt präsent, doch entscheidend sind die Zwischenräume: Pressequartiere, provisorische Unterkünfte, Ruinen, Wege durch die Stadt. Diese Räume strukturieren eine Perspektive, die auf Wahrnehmung, Übersetzung und mediale Verarbeitung ausgerichtet ist. Nürnberg erscheint damit weniger als Ort der Urteilsfindung denn als Experimentierfeld der Nachgeschichte, in dem Recht, Journalismus und Literatur um Deutungshoheit ringen. Die Stadt wird zum Symbol dieser „Menschendämmerung“, in der das Ende der Täter nicht mit moralischer Klarheit einhergeht, sondern eine offene, verunsicherte Gegenwart hinterlässt. Gerade die erzählerische Zurückhaltung gegenüber eindeutigen Sinnzuweisungen verleiht Nürnberg im Roman seine nachhaltige semantische Spannung.

Bâtisse de conte de fées, ou plutôt de conte gothique, la silhouette pointue du château de Faber-Castell se détache sur un ciel bas et lourd, uniformément gris. C’est la demeure princière et hideuse de M. Faber, un magnat du crayon, que les journalistes ont reçue en partage, explique le fringant Gordon, aidant la journaliste à descendre sa valise du rack sur le toit. Ils se sont arrêtés dans la cour d’honneur ; Madeleine se dit que la silhouette médiévale aperçue de loin ne mérite même pas, vue de près, l’appellation « néogothique ». Une aile paraît de facture plutôt byzantine, avec cette allure pompeuse et kitsch du Sacré-Cœur, à Montmartre. Une autre se donne des airs Renaissance, tandis qu’un troisième pan de mur semble évoquer le style troubadour. La Française pénètre dans cette forteresse du mauvais goût, qui révèle ce qu’ont pu être l’opulence et la puissance de l’industrie allemande avant-guerre. Dès l’entrée, Madeleine doit se retenir de rire. Elle ne voudrait pas vexer les officiers américains ni le personnel germanique qui se tient au garde-à-vous pour les accueillir. Plutôt étroit, lardé de miroirs et de mosaïques, de fresques Art déco et de pilastres de marbre taillés dans un style orientaliste, le hall s’ouvre sur une colossale cage d’escalier.

Das märchenhafte, oder besser gesagt gotische Gebäude, die spitze Silhouette des Schlosses von Faber-Castell, hebt sich vom tiefhängenden, schweren, einheitlich grauen Himmel ab. Es ist die fürstliche und hässliche Residenz von Herrn Faber, einem Bleistiftmagnaten, die die Journalisten gemeinsam erhalten haben, erklärt der schneidige Gordon, während er der Journalistin hilft, ihren Koffer vom Dachgepäckträger herunterzunehmen. Sie halten im Ehrenhof an; Madeleine denkt sich, dass die mittelalterliche Silhouette, die sie aus der Ferne gesehen hat, aus der Nähe betrachtet nicht einmal die Bezeichnung „neugotisch” verdient. Ein Flügel wirkt eher byzantinisch, mit dem pompösen und kitschigen Stil der Sacré-Cœur in Montmartre. Ein anderer gibt sich renaissancehaft, während ein dritter Teil der Mauer an den Troubadour-Stil erinnert. Die Französin betritt diese Festung des schlechten Geschmacks, die offenbart, wie opulent und mächtig die deutsche Industrie vor dem Krieg gewesen sein muss. Gleich beim Betreten muss Madeleine sich das Lachen verkneifen. Sie möchte weder die amerikanischen Offiziere noch das deutsche Personal beleidigen, das stramm steht, um sie zu begrüßen. Die eher schmale, mit Spiegeln und Mosaiken, Art-déco-Fresken und orientalisch anmutenden Marmorpilastern verzierte Halle öffnet sich zu einem kolossalen Treppenhaus.

Das Schloss Faber-Castell erscheint als grotesk-opulenter Ort des Presselebens. Die Überladung mit Stilen, Ornamenten und vergangenem Reichtum kontrastiert scharf mit der provisorischen Nutzung als Schlaf- und Arbeitslager. In Crépuscule des hommes fungiert das Schloss als hochgradig semantisierter Raum, der weit über die Funktion einer bloßen Unterkunft für die internationale Presse hinausgeht. In seiner physischen Erscheinung verdichtet der Roman die ästhetischen und ideologischen Widersprüche des untergegangenen Deutschlands. Als „bâtisse de conte de fées, ou plutôt de conte gothique“ mit einer „silhouette pointue“ vor einem „ciel bas et lourd, uniformément gris“ erscheint das Schloss zugleich märchenhaft und monströs. Die eklektische Architektur – von Madeleine Jacob als „forteresse du mauvais goût“ bezeichnet – mit byzantinischen, Renaissance- und troubadourhaften Elementen sowie die überladenen Innenräume aus Mosaiken, Spiegeln, Art-déco-Fresken und orientalistischen Säulen stehen für eine hypertrophe Industriekultur, deren ästhetische Pracht bereits ins Groteske gekippt ist. Diese vergangene Opulenz kontrastiert scharf mit der gegenwärtigen Nutzung: Die vergoldeten Stuckaturen werden von klappernden Schreibmaschinen übertönt, Marmorbäder von Feldbetten verstellt. Das Schloss erscheint so als materielle Metapher eines ästhetisch und moralisch erschöpften Systems, dessen Repräsentationsformen nur noch als Hülle fortbestehen.

Zugleich wird das Schloss als „International Press Camp“ zum sozialen und politischen Mikrokosmos der Nachkriegsordnung. Unter beengten, oft prekären Bedingungen leben hier Journalisten aus aller Welt, in einem Raum permanenter Übersetzung, Konkurrenz und Beobachtung. Nationale, berufliche und geschlechtliche Hierarchien strukturieren den Alltag ebenso wie die latenten Spannungen zwischen den Alliierten, insbesondere in der räumlichen und sozialen Absonderung der sowjetischen Delegation. Der Ort ist geprägt von einem Wechsel aus Berichtsraserei, Leerlauf und zynischer Geselligkeit, in dem Alkohol, Klatsch und Ironie als Bewältigungsstrategien gegenüber der Monotonie und dem Grauen des Gerichtssaals fungieren. Gleichzeitig entstehen intime Beziehungen, Freundschaften und fragile Solidaritäten, die dem anonymen historischen Geschehen eine menschliche Dimension verleihen. In dieser Überlagerung von weltgeschichtlicher Aufgabe und alltäglicher Improvisation wird das Faber-Castell-Schloss zur zentralen Metapher des Romans: ein Ort, an dem die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit, die moralische Erschöpfung der Gegenwart und die provisorische Normalität der Nachkriegszeit unauflöslich ineinander greifen.

Metaphorik der Dämmerung und der Entfärbung

Die nationalsozialistischen Führer erscheinen nicht als tragische Titanen, sondern als entzauberte Menschen, deren Ende keinen Neuanfang garantiert. Die Dämmerung ist kein kathartischer Übergang, sondern ein Zustand moralischer Ungewissheit. Die Metaphorik der Dämmerung bildet in crépuscule des hommes ein zentrales semantisches Ordnungsprinzip, das historische, moralische und wahrnehmungsbezogene Ebenen miteinander verschränkt. Bereits der Titel evoziert mit dem Begriff des crépuscule einen Übergangszustand, der weder vollständige Dunkelheit noch erneutes Licht verspricht. Diese Schwebe wird im Roman konsequent ausbuchstabiert und kulminiert in der Schlussszene, in der Ray D’Addario die verstreute Asche der hingerichteten Hauptkriegsverbrecher betrachtet: „Tu vois, […] c’est déjà ici, en Bavière, qu’il y a eu le crépuscule des dieux, et celui des idoles. Maintenant, c’est le crépuscule des hommes…“ („Siehst du, […] hier in Bayern gab es bereits die Götterdämmerung und die der Idole. Jetzt ist es die Menschendämmerung …“). Die Anspielung auf die Wagnersche Götterdämmerung markiert bewusst eine Verschiebung: Nicht mehr mythische oder ideologisch überhöhte Figuren stehen im Zentrum, sondern Menschen, deren Macht sich im Moment ihres Endes als kontingent, banal und letztlich unerquicklich erweist. Die Dämmerung bezeichnet keinen heroischen Untergang, sondern die Entzauberung eines politischen Mythos, dessen Ende keine moralische Reinigung nach sich zieht.

Eng mit dieser Dämmerungsmetaphorik verbunden ist das wiederkehrende Motiv der Entfärbung, das sich durch den gesamten Roman zieht und die Krise der Wahrnehmung selbst thematisiert. Grau, Halbdunkel und schwindende Konturen prägen die Beschreibungen Nürnbergs ebenso wie die inneren Zustände der Figuren. Besonders eindrücklich wird dies nach der Begegnung mit Höß: „Quand il rouvre les yeux, le photographe a l’impression que tout est gris dans la pénombre de cette prison sur laquelle la nuit tombe déjà. Une nuit à décolorer le monde.“ („Als er die Augen wieder öffnet, hat der Fotograf den Eindruck, dass alles grau ist in der Dämmerung dieses Gefängnisses, über das die Nacht bereits hereinbricht. Eine Nacht, die die Welt entfärbt.“) Farbe fungiert hier nicht nur als atmosphärisches Detail, sondern als ethisch-epistemische Kategorie: Die Entfärbung verweist auf den Verlust klarer moralischer Kontraste, auf die Unmöglichkeit, Schuld, Verantwortung und Sinn eindeutig zu konturieren. Die Dämmerung wird so zum dauerhaften Zustand einer Nachgeschichte, in der das Ende der Täter nicht mit einem Neubeginn gleichzusetzen ist. Der Roman verweigert jede Form von Katharsis und inszeniert die Menschendämmerung als offene, beunruhigende Zeitform – einen Zustand, in dem Gewissheiten erlöschen, ohne dass neue tragfähige Orientierungen bereits sichtbar wären.

Schluss: Asche, Fluss und offene Geschichte

Le grand juriste va quitter Nuremberg à la fois piégé et lessivé par une machine judiciaire qui lui a échappé. Jackson est douloureusement déçu que les magistrats n’aient pas voulu reprendre une seule fois le terme de « génocide » dans leur condamnation. Il éprouve une rancœur réelle de voir que toute sa construction intellectuelle, depuis les premiers jours de l’enquête, est ridiculisée, puisque les juges ont balayé son chef d’accusation principal : le complot. Mais à ces blessures de l’esprit s’en ajoute une autre bien plus grave, bien plus visible. Les trois acquittements prononcés représentent pour lui un désaveu terrible. Madeleine Jacob le sait et compatit d’autant plus qu’elle éprouve la même désillusion. Von Papen, Schacht et Fritzsche, trois figures symboliques de la machine hitlérienne, ressortent libres, et Madeleine devine sur son visage que Jackson se le reprochera toute sa vie. Il croyait repartir en Amérique pour se présenter à la présidence, à la tête du Parti démocrate. Jackson a même voulu publier un communiqué pour protester contre la décision des juges, avant de mesurer combien le ridicule d’une telle dissension nuirait à l’image du tribunal tout entier.

Der große Jurist wird Nürnberg verlassen, gefangen und erschöpft von einer Justizmaschine, die ihm entglitten ist. Jackson ist schmerzlich enttäuscht, dass die Richter den Begriff „Völkermord” kein einziges Mal in ihrem Urteil aufgegriffen haben. Er empfindet echte Verbitterung darüber, dass sein gesamtes intellektuelles Konstrukt seit Beginn der Ermittlungen lächerlich gemacht wird, da die Richter seinen Hauptanklagepunkt, die Verschwörung, verworfen haben. Zu diesen seelischen Verletzungen kommt jedoch noch eine weitere, viel schwerwiegendere und sichtbarere hinzu. Die drei Freisprüche stellen für ihn eine schreckliche Missbilligung dar. Madeleine Jacob weiß das und fühlt umso mehr mit ihm, als sie die gleiche Enttäuschung empfindet. Von Papen, Schacht und Fritzsche, drei symbolische Figuren der Hitler-Maschinerie, kommen frei, und Madeleine sieht an seinem Gesicht, dass Jackson sich das sein Leben lang vorwerfen wird. Er hatte geglaubt, nach Amerika zurückzukehren, um sich als Präsidentschaftskandidat an der Spitze der Demokratischen Partei zu präsentieren. Jackson wollte sogar eine Erklärung veröffentlichen, um gegen die Entscheidung der Richter zu protestieren, bevor er erkannte, wie sehr eine solche Meinungsverschiedenheit dem Ansehen des gesamten Gerichts schaden würde.

Der Schluss von Le crépuscule des hommes verweigert jede Form von Erlösungsnarrativ. Die Hinrichtungen sind vollzogen, die Leichen verbrannt, die Asche verstreut. Doch an die Stelle des Schlusspunktes tritt ein Bild der Auflösung. Die Asche verschwindet im Fluss, spurlos, ohne Monument, ohne Pathos. Diese Auflösung ist doppeldeutig. Einerseits markiert sie das endgültige Ende der nationalsozialistischen Führungsfiguren. Andererseits entzieht sie sich jeder symbolischen Schließung. Die Asche hinterlässt keine Leerstelle, sondern eine beunruhigende Kontinuität. Der Fluss trägt sie fort, integriert sie in den Kreislauf der Natur, neutralisiert ihre Singularität.

Der Roman insistiert darauf, dass das Ende der Täter nicht das Ende der Geschichte bedeutet. Die „Menschendämmerung“ verweist nicht auf einen neuen Morgen, sondern auf eine verlängerte Übergangszeit, in der moralische Gewissheiten erschüttert bleiben. Die Beobachter bleiben zurück – mit ihren Bildern, Texten, Erinnerungen. Literatur wird hier zur letzten Instanz, die nicht richtet, sondern offenhält. In diesem Sinne ist Le crépuscule des hommes kein Roman über Nürnberg allein, sondern ein Roman über die Bedingungen des Erzählens nach der Katastrophe. Er entzieht sich der Versuchung des Abschlusses und überlässt die Deutung dem Leser – im Bewusstsein, dass jede Deutung fragmentarisch bleiben muss.

Anmerkungen
  1. Jack El-Hai, The Nazi and the Pyschiatrist: Hermann Göring, Dr. Douglas M. Kelley, and a Fatal Meeting of Minds at the End of WW II, Public Affairs, 2014>>>

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