Zum Gedächtnis: Pierre Nora (1931–2025)

Am 2. Juni 2025 ist der bedeutende französische Historiker Pierre Nora im Alter von 93 Jahren in Paris gestorben. Als Herausgeber der monumentalen siebenteiligen Werkreihe Les Lieux de mémoire (1984–1993) prägte er entscheidend das Verständnis der nationalen Erinnerungskultur und trug maßgeblich zur Reflexion über die französische Identität bei. Geboren 1931 in Paris, entkam Pierre Nora als Kind der Verfolgung durch die Gestapo. Diese frühe Erfahrung prägte sein Denken über Geschichte, Gedächtnis und Nation tiefgreifend. Nach Studien in Literatur und Philosophie wandte er sich früh der Kolonialgeschichte zu: Sein erstes Buch, Les Français d’Algérie (1961), war eine prägnante Analyse der kolonialen Ambivalenz im Algerienkrieg.

Seine eigentliche Berufung fand Nora im Verlagswesen. Als langjähriger Lektor bei Gallimard betreute er einflussreiche Reihen wie die „Bibliothèque des sciences humaines“ und veröffentlichte Werke von Intellektuellen wie Foucault, Dumézil, Duby oder Le Roy Ladurie. Zeitgleich baute er sich eine eigene akademische Laufbahn auf, zunächst am Institut d’études politiques de Paris, später an der École des hautes études en sciences sociales. 1980 gründete er gemeinsam mit Marcel Gauchet die intellektuelle Debattenzeitschrift Le Débat, die über Jahrzehnte das französische Denken mitprägte. Nora verstand Geschichte stets als gegenwartsbezogene Disziplin – eine Haltung, die seine historische Arbeit ebenso wie seine verlegerische Tätigkeit bestimmte. Pierre Nora war seit 2001 Mitglied der Académie française. Sein Tod bedeutet einen tiefen Einschnitt für die französische Geisteswelt. Er hinterlässt ein reiches Werk – ein historisches wie editorisches Vermächtnis, das die französische Nation noch lange begleiten wird.

De tous les historiens de ma génération, j’ai sans doute été l’un des plus sensibles aux ambiguïtés qu’entraîne le fait qu’en français, le même mot, histoire, exprime la réalité historique du passé et l’opération intellectuelle destinée à rendre compte de cette insaisissable réalité vécue. Ce que les Allemands distinguent par Historie et Geschichte. D’où l’habitude qui a été prise de distinguer l’histoire de la discipline et des historiens par le mot « historiographie ». En ces temps de troubles et de relativisme de la vérité historique, l’histoire (au sens de Historie) était tout entière absorbée par la reconstitution historique (Geschichte). Tout mon travail sort de là : l’histoire elle-même devient historiographie. Ce mot, autrefois cantonné à l’histoire de l’histoire et des historiens, tend donc à prendre une signification beaucoup plus large.

Pierre Nora, Une étrange obstination, Gallimard, 2023.

Von allen Historikern meiner Generation war ich zweifellos einer derjenigen, die am meisten für die Zweideutigkeiten empfänglich waren, die sich daraus ergeben, dass im Französischen dasselbe Wort, histoire, sowohl die historische Realität der Vergangenheit als auch den intellektuellen Vorgang bezeichnet, der diese schwer fassbare gelebte Realität wiedergeben soll. Die Deutschen unterscheiden hier zwischen Historie und Geschichte. Daher hat sich die Gewohnheit eingebürgert, die Disziplin und die Tätigkeit der Historiker mit dem Begriff „Geschichtsschreibung“ zu bezeichnen. In diesen Zeiten der Unruhen und der Relativierung der historischen Wahrheit wurde die Geschichte (im Sinne von Historie) vollständig von der historischen Rekonstruktion (Geschichte) absorbiert. Daraus ergibt sich meine gesamte Arbeit: Die Geschichte selbst wird zur Geschichtsschreibung. Dieser Begriff, der früher auf die Geschichte der Geschichte und der Historiker beschränkt war, gewinnt somit eine viel umfassendere Bedeutung.

Pierre Nora verkörpert in seiner intellektuellen Haltung und öffentlichen Rolle eine Form des bürgerlichen Konservatismus, die sich nicht über politische Ideologie oder nostalgischen Nationalismus definiert, sondern über die entschlossene Verteidigung einer aufgeklärten, republikanischen Kulturtradition. So stellt ihn im Nachruf des Figaro Jacques de Saint Victor dar. 1 Als Herausgeber der monumentalen Sammlung Les Lieux de Mémoire wurde er zu einem der profundesten Kenner der französischen Identität und war dadurch in einzigartiger Weise befähigt, deren Krise zu analysieren. Dabei war er keineswegs reaktionär oder rückwärtsgewandt im klassischen Sinne – im Gegenteil: Nora war ein moderner Konservativer, der sich laut Saint Victor durch intellektuelle Unabhängigkeit, Stilbewusstsein und Prinzipientreue auszeichnete: Seine Ablehnung modischer Strömungen – etwa der sogenannten „nouveaux philosophes“ oder marxistischer Geschichtsschreibung à la Hobsbawm – entspringt demnach keiner ideologischen Engstirnigkeit, sondern einem hohen Qualitätsanspruch und einem tiefen Misstrauen gegenüber Vereinfachungen. Diese Haltung machte ihn zu einem kritischen Wächter des geistigen Lebens, der sich nicht vom Zeitgeist treiben ließ. Zugleich war er als Verlagsleiter ausgesprochen eklektisch und offen für intellektuell anspruchsvolle Stimmen verschiedenster Herkunft, etwa Kantorowicz, Dumézil, Lefort oder Foucault.

Pascal Ory et Jean-François Sirinelli en avaient fait un sujet universitaire, en 1986, avec Les Intellectuels en France, de l’affaire Dreyfus à nos jours. Un déferlement d’ouvrages sur la question avait accompagné l’époque. Foucault avait lancé l’idée – par rapport à l’intellectuel sartrien, « celui qui se mêle de ce qui ne le regarde pas » – de l’« intellectuel spécifique », qui se refuse à prendre position ou à émettre des idées générales sur des domaines auxquels il n’est pas lié. Un spécialiste donc, qui tire le sens de l’activité où s’exerce sa compétence.

Pierre Nora, Une étrange obstination, Gallimard, 2023.

Pascal Ory und Jean-François Sirinelli hatten dies 1986 mit Les Intellectuels en France, de l’affaire Dreyfus à nos jours (Die Intellektuellen in Frankreich, von der Dreyfus-Affäre bis heute) zu einem akademischen Thema gemacht. Eine Flut von Veröffentlichungen zu diesem Thema begleitete diese Zeit. Foucault hatte – in Anlehnung an Sartres Definition des Intellektuellen als „jemand, der sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen“ – den Begriff des „spezifischen Intellektuellen“ geprägt, der es ablehnt, Stellung zu beziehen oder allgemeine Aussagen zu Bereichen zu treffen, mit denen er nicht vertraut ist. Ein Spezialist also, der den Sinn seiner Tätigkeit aus dem Bereich bezieht, in dem er seine Kompetenz ausübt.

Noras konservative Grundhaltung äußerte sich besonders in seiner Verteidigung der laizistischen republikanischen Werte und seiner Diagnose des kulturellen Verfalls: Die Schule war für ihn das entscheidende Terrain gesellschaftlicher Reproduktion, und die „culture humaniste“ – nicht etwa ein diffuser Begriff von Bildung – erschien ihm als Fundament geistiger Freiheit und kritischen Denkens. In einem Frankreich, das sich seiner Ansicht nach immer weiter zurückziehe und sich gleichzeitig großträumend selbst feiere, blieb Nora ein nüchterner Mahner. Persönlich verband er dabei die Haltung des großbürgerlichen Intellektuellen – Maurice Clavel nannte ihn den Prototyp des „grand bourgeois de gauche“ – mit einer aristokratisch-skeptischen Distanz zu politischen Moden. Mit seiner jüdisch-republikanischen Herkunft, seiner Ehe mit der Kunsthistorikerin Françoise Cachin und seiner Beziehung zu Anne Sinclair definierte er sich vor allem als „citoyen républicain laïque pur et dur“. In dieser Selbstverortung verdichten sich Noras bürgerlich-konservative Werte: Rationalität, Verpflichtung gegenüber der Republik, kulturelle Tiefe und das Bewusstsein, womöglich „der letzte der Mohikaner“ einer untergehenden geistigen Epoche zu sein. Sein Konservatismus war daher laut Saint Victor nicht restaurativ, sondern bewahrend im besten Sinne – nicht rückwärtsgewandt, sondern auf die Verteidigung dessen gerichtet, was eine freiheitliche, gebildete Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Jeunesse (2022) und Une étrange obstination (2023)

Je suis aujourd’hui l’un des derniers témoins d’une des époques intellectuelles françaises les plus effervescentes, comme je suis le dernier témoin d’un noyau familial d’un autre âge, mais intéressant et fécond. Cela me fait un devoir de consigner ce que j’ai vu.

Pierre Nora, Jeunesse, Gallimard, 2022.

Ich bin heute einer der letzten Zeitzeugen einer der geistig blühendsten Epochen Frankreichs, ebenso wie ich der letzte Zeuge einer Familienstruktur aus einer anderen Zeit bin, die jedoch interessant und fruchtbar war. Ich sehe es als meine Pflicht an, meine Erlebnisse festzuhalten.

In zwei Büchern aus den letzten Jahren legte Nora Memoiren vor, Jeunesse (2022) und Une étrange obstination (2023), um frei über sein Leben als Verleger und Historiker zu berichten und insbesondere seinen Werdegang nachzuzeichnen. Nora selbst gibt an, dass er lange gezögert hat, Memoiren zu schreiben, da ihm die Solennität und literarische Tradition dieses Genres für die „chaotische Vielfalt“ seiner Erinnerungen unpassend erschien. Er spricht von einem Gefühl der Unmöglichkeit, dem Ganzen einen Sinn oder eine Ordnung zu geben. In Une étrange obstination bekräftigt er jedoch den Wunsch, sein Leben als Verleger und Historiker zu rekapitulieren und seine verstreuten Schriften einzubeziehen. Die Prägungen im ersten Band und die Beschreibung seiner Lebensweise im zweiten deuten auf eine charakteristische Distanz und kritische Haltung hin: Er beschreibt sich als der „kleine Letzte“ seiner Familie, der mehr zuhörte und beobachtete, was zu einer Lebenseinstellung des „écart, décalage, priorité à l’oreille et à l’œil, l’observation plutôt que l’action, la distance critique“ (Abstand, Verschiebung, Priorität für Ohr und Auge, Beobachtung statt Aktion, kritische Distanz) führte.

Das Leben, das Pierre Nora darstellt, ist in erster Linie ein Leben im Zentrum des französischen intellektuellen und verlegerischen Geschehens der Nachkriegszeit bis in die jüngere Vergangenheit. Es ist ein Leben, geprägt von seiner intellektuellen Entwicklung: Von der Schulzeit (Khâgne) über prägende Begegnungen mit Professoren und Freunden bis hin zur Ausarbeitung eigener großer Themen wie der nationalen Idee und der Erinnerung. Geprägt dann von seiner Rolle als Verleger bei Gallimard: Der Aufbau bedeutender Reihen wie der „Bibliothèque des Idées“, der „Bibliothèque des Sciences humaines“ und insbesondere der „Bibliothèque des Histoires“. Er veröffentlichte und begleitete Werke von vielen der wichtigsten Denker und Historiker seiner Zeit. Schließlich war seine Wirkung bestimmt von seiner Arbeit als Historiker und Leiter der Zeitschrift Le Débat: Die Gründung und das über 40-jährige Bestehen der Zeitschrift Le Débat mit Marcel Gauchet und Krzysztof Pomian wird als zentrale intellektuelle Gemeinschaft beschrieben. Er betont die Rolle der Zeitschrift als Vermittler und Orchesterleiter im intellektuellen Leben, insbesondere im Bereich der Geschichtswissenschaft und der Erinnerung. Außerdem sind die Memoiren sehr aufschlussreich in der Darstellung seiner Beziehungen zu anderen Intellektuellen: Die Bücher sind durchzogen von Porträts und Anekdoten über seine komplexen und oft leidenschaftlichen Beziehungen zu Kollegen und Freunden wie François Furet, Pierre Vidal-Naquet, Jacques Le Goff, Georges Duby, Michel Foucault, Jacques Derrida, Léon Poliakov, Yosef Hayim Yerushalmi und vielen anderen. Diese Beziehungen werden u.a. als „frères ennemis“, „compagnonnage vital de chien et chat“, „succession de brouilles et de raccommodages“ beschrieben.

Aron-Nora

Mon père vivait, depuis l’arrivée de Hitler au pouvoir, dans la terreur de ce qui devrait un jour déferler sur la France et sur les Juifs en particulier. Il était de ceux qui, avec l’historien Louis Halphen et Robert Debré dont il était proche, avaient fait traduire Mein Kampf dans sa version originale, une traduction antérieure ayant supprimé tous les passages contre les Juifs.

Je me souviens d’un jour où mon père avait ramené de l’hôpital Rothschild, où il était chef du service d’urologie, quelques vieux Juifs à payess (papillotes) et manteaux râpés, réfugiés d’Allemagne et d’Autriche, pour écouter leurs récits terrifiants.

Pierre Nora, Jeunesse, Gallimard, 2022.

Seit Hitlers Machtübernahme lebte mein Vater in Angst vor dem, was eines Tages über Frankreich und insbesondere über die Juden hereinbrechen würde. Er gehörte zu denen, die zusammen mit dem Historiker Louis Halphen und Robert Debré, dem er nahestand, Mein Kampf in der Originalfassung übersetzen ließen, da in einer früheren Übersetzung alle Passagen gegen die Juden entfernt worden waren.

Ich erinnere mich an einen Tag, als mein Vater aus dem Rothschild-Krankenhaus, wo er Leiter der Urologieabteilung war, einige alte Juden mit Schläfenlocken und abgetragenen Mänteln mitbrachte, Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, um ihren schrecklichen Geschichten zuzuhören.

Pierre Nora beschreibt, wie sein Vater Gaston Nora in ständiger Angst vor Hitlers Machtübernahme lebte und sich an der Übersetzung von Mein Kampf beteiligte, nachdem frühere Versionen antisemitische Passagen ausgelassen hatten. Er schildert eine schockierende Begegnung mit jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich im Haus seines Vaters, bei der ihm die Gleichgültigkeit und der Spott der französischen Bourgeoisie („ces schnorrers“) auffielen, die sich in Sicherheit wähnte. Der Schock des Holocaust („choc de l’Holocauste“) wird als prägend für seine Generation und die gemeinsame Zeitschrift Imprudence genannt. Seine langjährige Freundschaft mit Léon Poliakov, einem Pionier der Geschichtsschreibung über die Vernichtung und Mitbegründer des CDJC (Vorläufer des Mémorial de la Shoah), war wichtig für sein Verständnis dieses Themas. Nora erwähnt seinen Dissens mit Poliakov bezüglich der Veröffentlichung von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, die Poliakov als „ignoble“ bezeichnete, während Nora auf die Übersetzung und Veröffentlichung bei Gallimard bestand und selbst ein erklärendes Vorwort schrieb, da andere dies verweigerten.

L’idée qu’il se faisait de sa généalogie, du nom de la famille, et du judaïsme lui-même le prouve assez. La généalogie qu’il avait été obligé de faire établir en 1940 pour avoir l’autorisation d’exercer lui avait appris que nous descendions d’une famille Aron installée à Hellimer […]. Quand Napoléon, par décret, fait obligation aux Juifs de s’inscrire à l’état civil, Moïse Aron (1749-1813) demande l’autorisation de s’inscrire sous le nom de Nora pour lui-même et ses quatre enfants […]. Mon père a vécu persuadé que la démarche était destinée à franciser la lignée familiale. Hypothèse absurde, doublement absurde […]. C’est l’inverse. Dans le cas de Moïse Aron-Nora […], la permutation des lettres avait au contraire valeur de réenracinement religieux […]. Nora signifiant en hébreu « le redoutable », « le terrible », accolé comme attribut à l’essence divine. Avec ce nouveau patronyme, Aron-Nora opère un retour aux sources et aux origines bibliques, mais un retour compréhensible des Juifs seuls et non détectable par un regard extérieur.

Pierre Nora, Jeunesse, Gallimard, 2022.

Seine Vorstellung von seiner Abstammung, dem Familiennamen und dem Judentum selbst beweist dies hinreichend. Die Genealogie, die er 1940 erstellen lassen musste, um eine Zulassung zu erhalten, hatte ihm gezeigt, dass wir von einer Familie Aron abstammten, die sich in Hellimer niedergelassen hatte […]. Als Napoleon per Dekret die Juden zur Eintragung in das Standesregister verpflichtete, beantragte Moïse Aron (1749-1813) die Erlaubnis, sich und seine vier Kinder unter dem Namen Nora eintragen zu lassen […]. Mein Vater war überzeugt, dass dieser Schritt dazu dienen sollte, die Familie zu franzisieren. Eine absurde Hypothese, doppelt absurd […]. Das Gegenteil war der Fall. Im Fall von Moïse Aron-Nora […] hatte die Vertauschung der Buchstaben vielmehr den Wert einer religiösen Rückbesinnung […]. Nora bedeutet im Hebräischen „der Furchtbare“, „der Schreckliche“ und wird als Attribut für das Göttliche verwendet. Mit diesem neuen Familiennamen kehrt Aron-Nora zu seinen Wurzeln und biblischen Ursprüngen zurück, jedoch auf eine Weise, die nur für Juden verständlich und für Außenstehende nicht erkennbar ist.

Nora beschreibt sich als „tief assimilierten und entjudaisierten Juden“, der dennoch jüdisch blieb „par une connaissance d’historien, par le poids de Vichy et de ce que Lanzmann n’avait pas encore nommé la Shoah, par le sentiment d’un héritage et par une évidente proximité existentielle“ (durch historisches Wissen, das Gewicht von Vichy und dessen, was Lanzmann noch nicht Shoah genannt hatte, das Gefühl eines Erbes und eine offensichtliche existenzielle Nähe). François Dosses Interpretation, dass sein Werk („Entre mémoire et histoire“) seine doppelte Identität (jüdisch und französisch) widerspiegle, die Nora selbst nicht bewusst war, wird von ihm als „troublant“ bezeichnet. Die Begegnung mit Yosef Hayim Yerushalmi und dessen Buch Zakhor war eine tiefe intellektuelle und persönliche Verbindung, da sie beide auf den „deux pentes d’un même toit“ (zwei Seiten desselben Daches) standen: Yerushalmi auf der jüdischen Seite, Nora auf der nationalen Seite, beide mit einer ähnlichen Sensibilität und Distanz zu ihrem jeweiligen geschichtlichen Gegenstand. Noras Vater verkörperte den typischen „franco-judaïsme“ seiner Zeit, der laut Nora „etwas zu weit“ ging. Die umstrittene These des Mediävisten Louis Halphen, dass das französische Judentum nicht durch Immigration, sondern durch Konversionen aus gallo-römischen Heiden entstanden sei, die den einen Gott kannten, wird im Zusammenhang mit dem frankozentrierten Judaismus seines Vaters erwähnt. Die Begegnung mit Alexandre Kojève kurz nach dem Studentenprotest 1968 und dessen abfällige Bemerkung über die Ereignisse („Hegel hätte gelacht… nichts ist passiert. Kein Tod, kein Blut, keine Geschichte.“) zeigt einen starken Kontrast zu Noras Wahrnehmung der Geschichte.

Existenzielle Beziehung zu Frankreich

Or, deux facteurs historiques de grande ampleur contribuaient en ces années-là – outre ceux que j’ai énumérés au chapitre sur le « tournant des années quatre-vingt » – à expulser le sentiment national de ce confort, de cette sécurité unitaire. La décolonisation, parce que l’impérialisme colonial avait intrinsèquement fait partie de la conquête idéologique de la République. La guerre d’Algérie avait achevé d’ébranler cette conscience « nationale-républicaine-coloniale ». Elle avait mené la France au bord de la guerre civile, elle avait opposé au moins deux idées contraires de la nation, la nation impériale et la nation hexagonale.

Cet ébranlement avait déjà suffi pour dissocier la Nation de la République et même de la « France ». Un autre phénomène y a puissamment contribué. Pour le comprendre, il faut admettre ou rappeler que le gaullisme et le communisme avaient constitué, de la Libération au tournant des années quatre-vingt, le couple idéologico-politique qui structurait la conscience nationale : deux idéologies qui, chacune, était un mélange de nation et de révolution ; les deux grands thèmes sur lesquels la France politique vivait depuis deux siècles. Deux idéologies qui ont connu, ensemble, leurs plus belles heures et se sont effacées en même temps. Leur disparition a largement contribué à désorienter l’histoire nationale.

Tel est le fond du tableau sur lequel nos trois instances autrefois confondues ont repris leur autonomie – République, Nation, France. Leur autonomie, leur indépendance, leur mystère.

Pierre Nora, Une étrange obstination, Gallimard, 2023.

Nun trugen in diesen Jahren – neben den Faktoren, die ich im Kapitel über die „Wende der achtziger Jahre“ aufgezählt habe – zwei weitreichende historische Faktoren dazu bei, das nationale Gefühl aus dieser Behaglichkeit, dieser einheitlichen Sicherheit zu verdrängen. Die Entkolonialisierung, weil der Kolonialimperialismus untrennbar mit der ideologischen Eroberung der Republik verbunden war. Der Algerienkrieg hatte dieses „national-republikanisch-koloniale“ Bewusstsein endgültig erschüttert. Er hatte Frankreich an den Rand eines Bürgerkriegs geführt und mindestens zwei gegensätzliche Vorstellungen von der Nation aufeinanderprallen lassen: die imperiale Nation und die hexagonale Nation.

Diese Erschütterung reichte bereits aus, um die Nation von der Republik und sogar von „Frankreich“ zu trennen. Ein weiteres Phänomen trug dazu maßgeblich bei. Um dies zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass der Gaullismus und der Kommunismus von der Befreiung bis zur Wende der 1980er Jahre das ideologisch-politische Duo bildeten, das das nationale Bewusstsein prägte: zwei Ideologien, die jeweils eine Mischung aus Nation und Revolution waren, den beiden großen Themen, von denen das politische Leben Frankreichs seit zwei Jahrhunderten geprägt war. Zwei Ideologien, die gemeinsam ihre Blütezeit erlebten und gleichzeitig verschwanden. Ihr Verschwinden trug wesentlich dazu bei, die nationale Geschichte zu desorientieren.

Das ist der Hintergrund, vor dem unsere drei ehemals verschmolzenen Instanzen ihre Autonomie wiedererlangt haben – Republik, Nation, Frankreich. Ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit, ihr Geheimnis.

Nora betont seine tiefe, unauflösliche Verbindung zu Frankreich („Je suis constitué français“). Er vermeidet nationalistische Bekundungen, da es für ihn keine Distanz zu Frankreich gibt; er sieht sich als Teil des Landes. Seine Arbeit an der französischen Geschichte war für ihn kein rein intellektuelles oder berufliches Interesse, sondern ein „rapport existentiel“ (existenzielle Beziehung), die sich wahrscheinlich während der Besatzungszeit in der Adoleszenz herausbildete, als er von einer bürgerlichen Kindheit in eine Welt der Gewalt, Spaltung, Ausgrenzung und Tragödie geriet. Er deutet an, dass sich in diesem „laboratoire inconscient“ (unbewussten Labor) eine Mischung aus Französischsein und Jüdischkeit verband, die seine „étrange obstination“ (seltsame Beharrlichkeit) und seine Bindung an Frankreich nährte. Seine Arbeit an Les Français d’Algérie führte zu einem lebenslangen Interesse an der nationalen Idee. Die Lieux de mémoire sind ein Werk, das die Spur eines Historikers trägt, der Teil des „peuple de la mémoire“ ist und sich mit Frankreich auseinandersetzt. Er nutzte die Khâgne-Erfahrung, um die französische Universitätskultur zu analysieren, was eine Form der „distance empathique“ (empathische Distanz) darstellte, die die Gegenwart durch die Vergangenheit erklärte. Er sah die französische Nation nicht als Inhalt, sondern als Rahmen („contenant“) aller modernen sozialen Gemeinschaften, dessen Besonderheit, einschließlich seiner universellen Berufung, es zu erfassen galt. Beispiele wie die Analyse des Code Civil als „wahre Verfassung Frankreichs“ oder der fiktive „Soldat Chauvin“ als spontaner nationaler Mythos illustrieren diese mémorielle Lektüre der nationalen Geschichte.

Gedächtnis und Geschichte

Le concentré de l’âge de la mémoire, sa pointe avancée, le sommet de l’iceberg, si je puis dire, s’est traduit, par définition, dans le phénomène commémoratif. Il a pris à cette époque une ampleur inédite.

J’ai longuement décrit en conclusion des Lieux de mémoire la métamorphose de la commémoration nationale, sa subversion interne et son remplacement par un système éclaté, fait de langages disparates, et qui s’exprime moins dans l’hommage officiel et la consécration publique, rare et sacrée, que dans des représentations à grand spectacle, comme celle du Puy du Fou, la plus révélatrice de l’esprit du temps et du nouveau rapport au passé en train de s’instaurer. Le modèle civique et historique se trouvant, surtout, concurrencé par la montée en puissance du local et du culturel, par la mise en valeur d’un pèlerinage touristique, par les anniversaires marqués de l’inévitable exposition et du fatal colloque.

Pierre Nora, Une étrange obstination, Gallimard, 2023.

Die Verdichtung des Gedächtniszeitalters, seine Speerspitze, die Spitze des Eisbergs, sozusagen, spiegelte sich naturgemäß im Phänomen des Gedenkens wider. Es nahm zu dieser Zeit ein noch nie dagewesenes Ausmaß an.

Ich habe in der Schlussfolgerung der Lieux de mémoire die Metamorphose des nationalen Gedenkens, seine interne Subversion und seinen Ersatz durch ein zersplittertes System aus disparaten Sprachen ausführlich beschrieben. Dieses System äußert sich weniger im offiziellen Tribut und der öffentlichen, seltenen und heiligen Weihe, sondern in großen Spektakeldarstellungen, wie der von Puy du Fou, die am aufschlussreichsten für den Zeitgeist und das sich neu etablierende Verhältnis zur Vergangenheit ist. Das bürgerliche und historische Modell wird vor allem durch den Aufstieg des Lokalen und Kulturellen, durch die Aufwertung einer touristischen Wallfahrt, durch die Jubiläen, die von der unvermeidlichen Ausstellung und dem fatalen Kolloquium geprägt sind, konkurrenziert.

Das Konzept der „Lieux de mémoire“ ist zentral für Noras Identität als Historiker und Verleger. Die Idee entstand aus seiner Lehrtätigkeit an den Hautes Études über die nationale Idee, bei der er sich entschied, Orte im weitesten Sinne des Wortes zu untersuchen, an denen sich das Zugehörigkeitsgefühl verkörperte (Feste, Symbole, Denkmäler, aber auch der Larousse-Dictionnaire, Straßennamen, Père-Lachaise, Schullatein, Tour de France). Für ihn wurden nationale Symbole wie die Marseillaise oder die Tricolore erst dann zu „lieux de mémoire“, wenn ihre unmittelbare Präsenz im kollektiven Gedächtnis schwächer wurde und sie „in die Geschichte fielen“. Das Projekt der „Lieux de mémoire“ zeichnete sich durch eine Indifferenz gegenüber Chronologie und großen Ereignissen aus und betrachtete die Republik als Kultur, nicht als Regime. Die Nation wurde als historischer Gegenstand betrachtet, der schwer zu fassen ist, eine „représentation qui n’a pas cessé de changer au cours du temps, mais qui demeure stable dans la forme de société“ (eine Repräsentation, die sich im Laufe der Zeit ständig änderte, aber in der Form der Gesellschaft stabil bleibt). Nora erklärt, dass der Ausdruck „lieux de mémoire“ von Frances Yates‘ Buch L’Art de la mémoire (das Techniken des Erinnerns anhand von „loci memoriae“ beschreibt) oder genauer gesagt von Quintilian stammt. Die „Lieux de mémoire“ werden als Frucht der „Revolution der Erinnerung“ und der Geburt des modernen „Patrimoine“ (Kulturerbe) gesehen. Die Kommemorationspraxis nahm zu dieser Zeit ein beispielloses Ausmaß an, wobei sich die nationale Gedenkfeier wandelte und durch ein fragmentiertes System abgelöst wurde, das weniger auf offizielle Hommage als auf Spektakel setzt. Die Unterscheidung zwischen „devoir de mémoire“ (Erinnerungspflicht), die primär mit der Shoah verbunden ist und einen moralischen Sinn hat, und dem „devoir de conservation“ (Pflicht zur Bewahrung), die er mit der „Lieux de mémoire“-Dynamik verbindet, ist wichtig; letztere sei nicht an eine Schuld gegenüber der Vergangenheit gebunden, sondern an deren Verlust, was zu einem „présent historique, lourd d’un gonflement de la fonction de mémoire, de l’hypertrophie des archives“ (einer historischen Gegenwart, belastet durch ein Anschwellen der Erinnerungsfunktion, durch die Hypertrophie der Archive) führt. François Hartogs Arbeit über „régime d’historicité“ und „présentisme“, angeregt durch Noras „présent historique“, wird als Weiterentwicklung dieser Überlegungen dargestellt.

Nora und Deutschland

Nora vergleicht die italienische Ausgabe (Luoghi della memoria), die er als Verlust des Sinnes der ursprünglichen Konzeption kritisiert, mit der deutschen Ausgabe (Deutsche Erinnerungsorte). Er hebt den „ganz anderen Wert“ der deutschen Ausgabe hervor, die unter der Leitung von Étienne François und Hagen Schulze entstand. Diesen Wert führt er auf die „binationale kulturelle Identität“ von Étienne François und den ständigen Dialog mit ihm zurück. Nora identifiziert die spezifischen Schwierigkeiten des deutschen Projekts, insbesondere die Frage zu Hitlers Rolle: ob sie in der direkten Linie der deutschen Geschichte steht oder eine Unterbrechung darstellt. Er stellt fest, dass Deutschland „ein Land ist, das von der Erinnerung bearbeitet wird“ („un pays travaillé par la mémoire“), in dem die Einsätze der Erinnerung und die Debatten um die jüngste Vergangenheit (Diktaturen, Kriege, Verfolgungen, Massaker eines „Jahrhunderts aus Eisen, Feuer und Blut“) ebenso intensiv wie wiederkehrend, ebenso leidenschaftlich wie obsessiv sind („aussi intenses que récurrents, aussi passionnels qu’obsessionnels“). Er versteht, dass er mit dem Konzept der „Lieux de mémoire“ lediglich den französischen Niederschlag einer „Welle von weltweiter Bedeutung“ („vague mondiale“) untersucht hat, deren antizipative Intuition er hatte und die sich durch frühe Publikationen wie À l’Est, la mémoire retrouvée bestätigte. Nora stellt fest, dass Noras Konzept der „Lieux de mémoire“ in Deutschland aufgenommen und auf die spezifischen Herausforderungen der deutschen Geschichte angewendet wurde. Die Tatsache, dass die Herausgeber der deutschen Ausgabe die besonderen Schwierigkeiten der deutschen Erinnerung thematisieren, zeigt, dass Noras Arbeit einen Rahmen bot, der in Deutschland als relevant für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit empfunden wurde, insbesondere angesichts der Komplexität und Obsessivität des deutschen Verhältnisses zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die deutsche „Erinnerungskulturforschung“ kann somit als eine eigenständige, aber von Noras Konzept inspirierte und damit in Dialog tretende Entwicklung verstanden werden, die dessen universelles Potenzial für die Analyse nationaler Gedächtnisräume bestätigte, während sie die Einzigartigkeit der deutschen historischen Erfahrung hervorhob.

Distanz und Beteiligung

Dans une société qui se comprend de moins en moins elle-même et se consacre moins à la réflexion qu’à la communication, il est impératif que subsistent les lieux consacrés à la communication de la réflexion.

Pierre Nora, Une étrange obstination, Gallimard, 2023.

In einer Gesellschaft, die sich selbst immer weniger versteht und sich weniger der Reflexion als der Kommunikation widmet, ist es unerlässlich, dass Orte erhalten bleiben, die der Kommunikation von Reflexionen gewidmet sind.

Die beiden Bücher Jeunesse und Une étrange obstination zeigen das Leben eines zentralen Akteurs des französischen Geisteslebens, dessen persönlicher und beruflicher Werdegang untrennbar mit der Entwicklung der Geschichtswissenschaft, des Verlagswesens und des Nachdenkens über nationale Identität und kollektive Erinnerung verbunden ist. Die besondere Mischung aus intellektueller Distanz und existenzieller Beteiligung ist ein wiederkehrendes Motiv. Die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft im Kontext der französischen Geschichte, die Rolle des Verlags Gallimard und der Zeitschrift Le Débat als „Laboratorien“ neuen Denkens, und die Entstehung des wegweisenden Konzepts der „Lieux de mémoire“ als Reaktion auf einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis zum Gestern sind relevante Punkte zum Verständnis von Nora. Die Rezeption seines Werkes in Ländern wie Deutschland, trotz der dortigen spezifischen historischen Lasten, unterstreicht die Bedeutung und Tragweite seiner intellektuellen Arbeit.

Die beiden autobiographischen Schriften bieten nicht nur Einblicke in Pierre Noras persönliches Leben und seine Beziehungen, sondern vor allem ein dichtes Panorama der intellektuellen Landschaften, die er entscheidend mitgestaltet hat, insbesondere im Hinblick auf das Verständnis von Geschichte und Gedächtnis in der modernen Welt. Sie zeigen einen Historiker, der sein eigenes Leben und seine Zeit als Teil eines größeren historischen Prozesses betrachtete und die Werkzeuge entwickelte, um diesen Prozess zu analysieren.

Anmerkungen
  1. Jacques de Saint Victor, „Pierre Nora, académicien et historien de l’âme française, est mort“, Le Figaro, 2. Juni 2025.>>>

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