Von der Femme fatale zum Subjekt: Milady de Winter zwischen Dumas und Clermont-Tonnerre

Adélaïde de Clermont-Tonnerre unternimmt mit Je voulais vivre das provokante Projekt, eine der berühmtesten „Bösen“ der französischen Literatur wieder lebendig zu machen: Milady de Winter, die „Femme fatale“ aus Alexandre Dumas’ Les Trois Mousquetaires. Doch ihr Anliegen ist nicht reines Remake, sondern eine gezielte Revision: die Destabilisierung einer literarischen Verurteilung, die Dekonstruktion männlicher Zuschreibungen und die Neufassung von Opfer- und Täterkategorien. Clermont-Tonnerre liest Dumas kritisch – und schreibt seine Figur zu Ende, um zu zeigen, was Dumas ausließ, verschüttete oder projizierte. Diese Arbeit entwickelt Thesen zur Funktion der Figur in beiden Romanen und vergleicht kommunikative Formen, Erzählstränge, Geschlechterverhältnisse, narrative Verfahren, Figurenkonstellation, Metaphorik und Zeitstruktur; am Ende gilt es zu begründen, ob bzw. warum Je voulais vivre den Prix Renaudot 2025 verdient hat.

DIE DREI MUSKETIERE – MILADY, 2023 unter der Regie von Martin Bourboulon, Vincent Cassel in der Rolle des Athos, François Civil als D’Artagnan, Romain Duris als Aramis, Pio Marmaï als Porthos, Louis Garrel in der Gestalt Ludwigs XIII. und Eva Green als Milady de Winter.

Alexandre Dumas etabliert Lady de Winter in Les Trois Mousquetaires als böses Prinzip, indem er zentrale Episoden ihrer Handlung konsequent auf eine These hin gestaltet: Die Frau ist der Störfall männlicher Ordnung, eine dämonische Kraft, die Ehre, Pflicht und Kameradschaft der Helden bedroht. Besonders deutlich wird dies in der Verführung Feltons, die Dumas als reine Manipulation inszeniert: Eine fromme männliche Tugend fällt einer weiblichen Versuchung anheim, Buckingham wird ermordet, und das Böse erscheint als genuin weiblich initiiert. Die Sexualität der Frau ist hier nicht Ausdruck von Begehren oder Selbsterhalt, sondern metaphysische Gefahr, die sich gegen den männlichen Körper richtet und damit gegen den Staat. Diese Konstruktion aus aktiver Verführung und passiver männlicher Verderbnis dient der totalen Moralisierung ihres Handelns.

Je voulais vivre nimmt genau diese Episode auf, verschiebt jedoch die Blickachse radikal: Felton ist dort nicht mehr das schuldlos verfügbare Opfer teuflischer Verführung, sondern ein Mann, der durch religiösen Fanatismus und internalisierte Gewaltfantasien jederzeit selbst zum Täter werden kann. Die Erzählperspektive verlagert das Geschehen ins Innere Miladys: die Entscheidung, Felton zu instrumentalisieren, wird als Akt des Überlebens in einer Welt entworfen, in der alle Wege regulärer Schutzsuche Frauen verschlossen sind. Die Verführung verliert ihren moraltheologischen Anstrich und erscheint als Notwehr in einem asymmetrischen Geschlechterkrieg.

Ähnlich verfährt Clermont-Tonnerre mit dem Mord an Constance Bonacieux. Dumas kodiert diese Tat als Endpunkt weiblicher Verderbtheit: Die femme fatale zerstört die reine Frau, gerade weil sie rein ist; Bosheit entspringt dem Neid und pathologischer Konkurrenz. Auch hier zwingt die männliche Sicht auf das Geschehen Milady in das Schema eines absoluten Antityps zur tugendhaften Heldin. Je voulais vivre verzichtet jedoch auf diese moralische Binarität: Die Tötung wird aus einer Struktur heraus verständlich, in der die Körper der Frauen permanent von Männerfiguren zur Ressource erklärt werden – sei es im Namen der Liebe oder der Politik. Die antagonistische Konstruktion weiblicher Rollen in Dumas wird in Clermont-Tonnerres Relektüre als Produkt der Machtverhältnisse lesbar, die Frauen gegeneinander ausspielen, um die männliche Dominanz zu sichern. Gewalt ist hier nicht Ursprung, sondern Konsequenz.

Die Rache an d’Artagnan folgt bei Dumas ebenfalls dem gleichen Paradigma: Kränkung setzt Bosheit frei; die Frau, die sich verletzt fühlt, antwortet mit Exzess und muss gebannt werden. Dass d’Artagnan sie zuvor in einer Täuschung verführt und öffentlich bloßgestellt hat, wird im Heldennarrativ spielerisch verniedlicht oder als legitimer Trick des Liebhabers abgetan. Clermont-Tonnerre hingegen macht die Erniedrigung zur zentralen Ursache eines Traumas, das sich in Gewalt wendet. In dieser Umschrift wirkt Milady nicht unkontrolliert, sondern handelt, um den Rest von Würde zu bewahren, den ihr die Gesellschaft noch nicht geraubt hat. Der Täter-Opfer-Horizont kippt, ohne die Gewalt der Figur zu entschuldigen, und zeigt, dass männliche Heldentaten keineswegs frei von Verbrechen sind.

Besonders signifikant ist der Umgang mit dem Brandmal: Bei Dumas wird es als ontologisches Zeichen eines früheren Verbrechens lesbar gemacht, der Körper der Frau erscheint als besiegeltes Dokument ihrer Bosheit. Die Narbe legitimiert das spätere Todesurteil und entzieht sie rettungslos jeder Empathie. In Je voulais vivre erhält genau dieses Mal die gegenteilige Bedeutung: Die Narbe spricht nicht von ihrem Wesen, sondern von dem, was ihr angetan wurde – ein körpergewordenes Archiv männlicher Gewalt; der vorgängige Strafakt wird ausführlich erinnert und historisiert, sodass das Stigma nicht länger als metaphysisches Zeichen des Bösen gelten kann, sondern als politisch erzeugte Inschrift der Ohnmacht.

Der drastischste Umschreibungsakt betrifft schließlich das Tribunal von Armentières. Dumas stilisiert diese improvisierte Hinrichtung als moralische Notwendigkeit, ja als heroischen Rechtsakt, der die Geschichte von ihrer Verderberin heilt. Der Leser soll die Exekution als gerechte Vollstreckung erleben, in der männliche Tugend triumphiert. Clermont-Tonnerre stellt der Szene dagegen die Perspektive einer Frau gegenüber, die keine Sprache findet, weil ihr Aufbegehren schon als Schuld gilt. Das Tribunal entlarvt sich als Lynchen unter dem Deckmantel von Ehre; wo Dumas Katharsis inszeniert, schreibt Clermont-Tonnerre ein Kapitel über Femizid in einer von Männern erzählten Welt.

Damit kehren sämtliche Schlüsselereignisse, die Dumas zur Dämonisierung seiner Figur nutzt, in Je voulais vivre wieder – jedoch mit einem entscheidenden narratologischen und ethischen Transfer: Aus jeder Episode, die ursprünglich moralische Verderbtheit beweisen sollte, wird durch Kontextualisierung, Fokalisierung und Trauma-Narration ein Moment, das gesellschaftliche Gewalt sichtbar macht. Clermont-Tonnerre schreibt nicht gegen Dumas, sondern durch ihn hindurch; sie nimmt das literarische Material ernst, aber verschiebt die Macht über die Deutung in die Innenperspektive der Figur selbst. Wo Dumas das weibliche Böse als naturhaft stilisiert, führt Je voulais vivre das soziale und psychische Werden einer Frau vor, der ihre Agency erst abgesprochen und dadurch in destruktive Verteidigungsformen getrieben wurde. Die intertextuelle Umkodierung entdämonisiert nicht, sondern differenziert: Das Böse wird nicht ausgelöscht, aber erklärt – und gerade dadurch neu beurteilbar.

Zwei Miladies: Topos, Ikone, Kontroverse

Dumas’ Milady erscheint als archetypische Gegenspielerin: schön, charmant, intelligent und doch zutiefst dämonisch – bzw. dämonisiert. Sie ist Agentin des Kardinals, Verführerin, Giftmischerin, Verräterin; am Ende der klassische „notwendige“ Sündenbock in einer Männergruppe, die ihre Ehre wiederherstellt. Dumas konstruiert sie als Projektionsfläche männlicher Ängste und Brüche: Ehebruch, Verrat, sexuelle Manipulation. Die Erzählung evoziert ihr „Böses“ in dramatischen Tableaus (mit Prügel, Intrige, Prozess, Hinrichtung) und belässt wenig Raum für Selbstdeutung.

Clermont-Tonnerre dagegen nimmt diese Projektionsfläche als Ausgangspunkt ihrer Romanarbeit: sie sucht die Person hinter dem Mythos, rekonstruiert Kindheit, Wunden, Motivationen – und leistet damit eine Umverteilung narrativer Souveränität zugunsten der Frau, nicht zuletzt in der Sprache des inneren Monologs und der ersten Person. Je voulais vivre postuliert: Milady ist nicht nur ein „Schatten“ auf männlicher Leinwand, sondern ein historisch wie psychologisch lesbares Subjekt; die Romanhandlung „fordert die Gerechtigkeit ein“, die die Literatur ihr verweigert hat. Der Roman kündigt dies schon programmatisch an: „Es ist an der Zeit, die Legende beiseite zu lassen, um die Frau kennenzulernen.“ 1

These 1

Dumas konstruiert Milady als Funktion in einem männlichen Epos (Konflikt-Generator, Spiegel männlicher Einheit); Clermont-Tonnerre dekonstruiert diese Funktion, rekonstruiert die Person und verwandelt die Figur in ein Instrument feministischer Revision.

Kommunikationsformen: richterlicher Diskurs vs. introspektive Stimme

In Les Trois Mousquetaires sind die Kommunikationsformen überwiegend dialogisch-szenisch: Politik, Duell, Intrige werden in direkter Rede und dramatischen Set-Pieces verhandelt; der Erzähler tritt als allwissender Chronist auf, der erzählt, kommentiert, pointiert – ein feuilletonistischer, theatralischer Modus. Milady wird durch die Reaktionen der Männer charakterisiert; ihre Rede gilt als Manipulationstaktik, ihr Inneres bleibt oft dekret-haft unsichtbar.

Je voulais vivre verlegt den Modus: Introspektion, Ich-Erzählen und multiperspektivische Rückblenden dominieren. Die Leser erleben Milady/Anne in innerer Stimme, in Erinnerungen, Aufzeichnungen, psychologisch nuancierten Szenen (Kindheit im Konvent, Missbrauchserfahrungen, das Brennen von Sansay). Dadurch verschiebt Clermont-Tonnerre die kommunikative Autorität: Nicht das männliche Gericht (das Dumas-Tableau), sondern die vom Roman legitimierte Selbstrede bestimmt die Wahrnehmung. Konsequent sind Dialoge in Clermont-Tonnerre oft Träger männlicher Anschuldigungen, die die Narration als solche in Frage stellen. Beispiele zeigen die Projektion männlicher Urteile auf die Frau bei der improvisierten Gerichtsverhandlung in Armentières – während der Roman später die Kehrseite erzählt.

These 2

Die Verschiebung von dialogisch-öffentlicher zu introspektiv-privater Kommunikation ist ein gezieltes hermeneutisches Verfahren, um dem vormals Dämonischen Menschlichkeit zu geben.

Erzählstränge und Zeitstruktur: Kausalität vs. Rekonstruktion

Dumas’ Roman arbeitet mit linearen, abenteuerlichen Erzählsträngen, die in relativ kompakter chronologischer Bewegung Großtafeln von Ereignissen vorführen (Missionen, Reisen, Prozesse, Hinrichtungen). Die Zeit ist episodisch, dramatisch kondensiert – Dumas ist Dramatiker des Spannungsbogens.

Clermont-Tonnerre dagegen zerlegt die Chronologie: Rückblenden, Bruchstücke, Traumsequenzen, Traumata und Nachträgliches schaffen ein Palimpsest. Miladys Biographie wird in nichtlinearer Montage freigelegt – ihre Kindheit, die Brandung von Sansay, die Fast-Hinrichtung, ihr Handeln als Antwort auf erlittene Gewalt. Wichtig ist: Die Rekonstruktion macht Kausalitäten sichtbar, die Dumas suggeriert, aber nicht ausbuchstabiert hat (z. B. sexuelle Ausbeutung, soziale Ohnmacht, ökonomische Notlagen). Diese temporale Verdichtung hat moralische Funktion: Sie relativiert „Schuld“ durch Kontextualisierung.

These 3

Die nichtlineare Zeitstruktur in Je voulais vivre wirkt als rehabilitatives Verfahren: sie macht Ursachen sichtbar, die im Dumas-Plot als bloße Charakterfehler erscheinen.

Geschlechterverhältnis: Repräsentation, Macht, Körperpolitik

Bei Dumas liest sich Milady als Negativfolie männlicher Ehre: die Bedrohung für männlliche Gemeinschaft, die Entwertung männlicher Treue, die erotische Falle. Gewalt und Gericht dienen der Wiederherstellung männlicher Ordnung; die Hinrichtung ist kollektive Katharsis.

Clermont-Tonnerre stellt dem eine Analyse männlicher Gewalt gegenüber: Vergewaltigung, Ausbeutung, Besitzanspruch; der Körper der Frau wird zur umkämpften Zone. Milady handelt nicht aus reiner Lust am Bösen, sondern aus einem Zwang zur Selbstbehauptung in einer Welt, die Frauen systematisch entrechtet hat – von Kindesmissbrauch bis Zwang zur Heirat, von sozialer Marginalisierung bis politischem Instrumentalisieren. Die Szene des Brandes von Sansay, das Rachemotiv, die Inszenierung von Vergeltung: all das wird als logische Antwort auf männliche Zerstörung gelesen.

Methodisch ist dies kein apologetisches Weißwaschen: Clermont-Tonnerre lässt Milady ihre Gewalt benennen und thematisiert die psychologische Korrosion des Rachetriebs. Der Roman öffnet einen schwierigen Raum: Wo endet Selbstschutz, wo beginnt Amoralität? Indem er diese Grenze sichtbar macht, verschiebt er die Verantwortung zurück zur Gesellschaft.

These 4

Clermont-Tonnerres Neufassung ist kein bloßer Umkehrschluss („sie war Opfer, also unschuldig“), sondern ein komplexer Versuch, die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse zu historisieren und so die moralische Bewertung zu nuancieren.

Narrative Verfahren: Fokalisierung, Ironie, Metalepse

Dumas arbeitet mit einer auktorialen Distanz, die zugleich erzählerische Ironie erlaubt; der Erzähler kommentiert, schließt Lücken, inszeniert ‚Tableaux‘. Die Markierung von Milady erfolgt durch die Blicke der Männer.

Clermont-Tonnerre nutzt häufig direkte Fokalisierung auf Anne/Milady: Innensicht, Stream-of-consciousness-Nähe, Tagebuchmotive, manchmal auch ironische Distanz gegenüber dem Dumas-Mythos (Explizitmachen, das zeigt, wie Dumas „ein X weggelassen“ hat). Diese metanarrative Haltung wird explizit: der Text referiert auf Dumas, kritisiert dessen Auslassungen, nennt ihn sogar als Referenzpunkt, liest und korrigiert ihn. Damit entsteht eine literarische Metalepse: der spätere Roman spricht in die Bedeutung des früheren hinein und beansprucht, dass literarische Wahrheit nicht abgeschlossen sein kann.

These 5

Durch Fokalisierung und metanarrative Selbstbefragung leistet Je voulais vivre eine ästhetische Aufgabe: es setzt literarische Autorität neu – nicht durch Zurückweisung des Kanons, sondern durch produktive Dialogisierung mit ihm.

Figurenkonstellation: Männerbünde, solidarische Spaltungen, Maternalität

In Dumas gruppieren sich Männer um Freundschaft, Ehre, kollektive Loyalität: Athos, Porthos, Aramis, d’Artagnan – ihre Einheit legitimiert Handlung und Urteil. Milady steht dagegen als disruptives Element.

Clermont-Tonnerre löst diese monolithische Männlichkeit auf: die Männer sind ambivalent, fehlerbehaftet, oft instrumentell. Auch Dumas’ Helden werden in Je voulais vivre noch einmal gelesen – als Verantwortliche für Gewalterfahrungen und kollektive Blindheit. Die Figur des Sohnes, die Mutterrolle der Protagonistin und ihr Begehren nach Fürsorge werden stärker betont; Milady ist zugleich Täterin und Mutter, was moralische Kategorien verwischt und die Figurenkonstellation komplexer macht. Die ehemaligen „Helden“ erscheinen hier als Mitproduzenten des Übels.

These 6

Clermont-Tonnerre rekonstruiert soziale Netze, nicht nur antagonistische Pole – das führt zu einer moralischen Komplikation, die Dumas’ klare Schuldzuweisung auflöst.

Metaphorik: Feuer, Spiegel, Maske

Dumas arbeitet mit klaren Chiffren: das weibliche Verführungsmotiv, der Spiegel der Eitelkeit, die Maske der Intrige. Seine Metaphorik ruft archetypische Bilder hervor, die Funktionalität über Individuum stellen.

Clermont-Tonnerre rekombiniert diese Metaphern: Feuer wird zu Reinigungs- wie Zerstörungsmotiv (Brand von Sansay als kathartischer wie traumatischer Moment), Masken gewinnen ambivalente Bedeutung (Überlebensstrategie, Schutz, Identitätspiel), der Spiegel fungiert nicht nur als Spiegel männlicher Begierde, sondern auch als Instrument weiblicher Selbsterkenntnis. Sprachlich entsteht eine Dichte, in der Bildlichkeit psychologisch fundiert ist: die Metaphern dienen Erzählung und Ethik zugleich.

These 7

Die Metaphorik in Je voulais vivre ist reflexiv: Bilder dienen nicht nur der Darstellung, sondern auch der Revision.

Wie hängen die Romane zusammen – Intertextuelle Mechanik

Die Beziehung beider Romane ist nicht die eines bloßen Zitats; sie ist dialogisch und korrigierend: Clermont-Tonnerre nutzt Dumas’ Figurenkonstellation, zentrale Motive (Ehebruch, Buckingham, Felton, der Prozess in Armentières) und narrativen Wendepunkte als Gerüst; sie füllt das Gerüst mit Kontext, Innenleben und historischen Vor-/Nachgeschichten – und verweist explizit auf Dumas, lobt ihn, kritisiert ihn, nimmt ihn ernst. Diese Form des intertextuellen Dialogs ist produktiv: Dumas bleibt Referenzpunkt, aber nicht Urteil; Je voulais vivre liest den Klassiker kritisch. Die Autorin selbst schreibt: Dumas habe „einen Kontinent von Unbekanntem“ umrissen, habe die Figur angedeutet, sie aber nicht „angefasst“ – dies ist programmatisch für das ganze Projekt.

These 8

Die Romane stehen in einer asymmetrischen Interdependenz: Dumas liefert das dramatische Setting; Clermont-Tonnerre liefert die historische Psychologie und ethische Neubewertung.

Von der Verurteilung zur Verständigung

Warum verdient Je voulais vivre den Prix Renaudot 2025? Drei Gründe sind m.E. zentral:

Formale Kühnheit und handwerkliche Virtuosität

Die Autorin verbindet historischen Roman, psychologisches Porträt und intertextuelle Kritik ohne fragmentarische Zerstreuung; die Narration ist stringent, die Montage willkürlich erscheinender Episoden ist ästhetisch begründet. Der Roman rekonstruiert literarische Traditionen und formt sie neu.

Ethik und Gegenwart

Clermont-Tonnerre bringt die Frage von Gewalt an Frauen, Besitzansprüchen und narrativer Zuschreibung in einen literarischen Diskurs – ein politisches Anliegen, das literarisch stimmig bleibt. Gerade in einer Zeit, in der kulturelle Narrative neu verhandelt werden, ist die literarische Rekonstruktion einer marginalisierten Stimme kulturell relevant.

Intertextuelle Reflexivität

Der Roman lässt den Klassiker nicht verschwinden; er liest ihn, korrigiert, unterhält einen erhellenden Dialog. Dadurch erweitert sich der Kanon, er wird nicht attackiert, sondern produktiv neu gelesen – ein Akt literarischer Humanität, der preiswürdig ist.

Diese drei Dimensionen – ästhetische Handwerkskunst, zeitgenössische Relevanz, produktive Intertextualität – sind Kriterien, die die Jury eines großen Preises ansprechen. Je voulais vivre ist nicht nur eine originelle literarische Leistung, sondern ein kultureller Beitrag zur Revision von Erzählungen über Geschlecht und Gewalt.

Die Gegenüberstellung zeigt: Dumas hat Milady als dramatisches Prinzip gebraucht; Clermont-Tonnerre macht aus ihr eine historisch situierte, psychologisch kohärente Figur. Das ist kein bloßes Update, sondern eine ethisch-ästhetische Intervention: Sie fordert, dass Literatur Verantwortung für ihre Projektionen übernimmt. Je voulais vivre stellt Fragen, die Dumas angrenzend antizipierte, aber nicht beantwortete – und tut dies in einer literarischen Sprache, die sowohl dem historischen Roman wie der feministischen Revision gerecht wird. Insofern ist die neue Milady weder nur Heldin noch nur Opfer: sie ist ein Prüfstein für Lesarten und ein Spiegel unserer literarischen Kultur.

Der Titel Je voulais vivre ist in Clermont-Tonnerres Roman keine bloße Formel existentieller Sehnsucht, sondern der komprimierte Einspruch einer Figur gegen ihre literarische Vernichtung. Er ist als direktes Zitat aus dem innersten Kern des Textes zu lesen: Milady selbst bilanziert kurz vor ihrem Tod die Lebensformen, die ihr entzogen wurden – Lust, Mutterschaft, politisches Engagement – und beendet diese Anklage mit dem schlichten Satz: „J’étais femme. J’étais mère. Je servais la France. Et je voulais vivre.“ In diesem Augenblick tritt sie erstmals als Subjekt auf, das nicht durch die Perspektiven von D’Artagnan, Athos oder Richelieu gefiltert wird, sondern seine eigene stumme Vergangenheit in Sprache verwandelt. Der Titel ist damit performativ: Er spricht an Stelle der Figur, der das Sprechen im Kanon verwehrt blieb, und rehabilitiert sie noch im Moment des endgültigen Erzählschlusses. Er benennt ein im Roman omnipräsentes Paradox – Milady wird von der Literatur verherrlicht und zugleich hingerichtet; ihre Körperlichkeit wird von männlichen Blicken besessen und zugleich ausgelöscht. Ihr „Ich wollte leben“ meint deshalb auch: Ich wollte anders erzählt werden. Das Buch selbst wird zur Antwort auf diesen Wunsch, indem es die kanonische Erzählung umschreibt und die Figur vom Objekt des Urteils zum Subjekt des Erinnerns macht.

Anmerkungen
  1. „Voici venu le temps d’écarter la légende pour rencontrer la femme.“>>>

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