Inhalt
Poetik der Kälte, Ort des Nichts
Der Titel Adieu Kolyma ist programmatisch für die zentrale Thematik des Romans, die sich mit der Nachgeschichte des Stalinistischen Gulag befasst. Das „Adieu“ markiert den historischen Moment der Handlung in den Jahren 1956/57, als die Lager formal aufgelöst wurden. Es symbolisiert den formellen Abschluss des totalitären Systems. Gleichzeitig verweist der Titel auf eine tiefe Ironie und Aporie, da die Logik der Kolyma – des Ortes der schlimmsten Lager und der „unwiderruflichen Verdammnis“ („irrémédiable damnation“) – ungebrochen in die Gegenwart der Figuren hineinwirkt. Die Kolyma bleibt das Gravitationszentrum, zu dem alle Figuren am Ende zurückkehren müssen: „tous les personnages se retrouveront là où pour eux tout a commencé et tout devra finir: à Magadan, cœur de la Kolyma“. Der Abschied wird zu einer zirkulären Wiederbegegnung mit der Gewaltstruktur.
Antoine Sénanques historischer Roman Adieu Kolyma analysiert die fortwirkende Gewaltstruktur, die über den eigentlichen geografischen und zeitlichen Rahmen des stalinistischen Gulag hinausreicht. Der Roman, angesiedelt in der unmittelbaren Nachzeit des Stalinismus und der ungarischen Revolution, wählt einen historischen Moment des Übergangs ohne tiefgreifende Transformation. Sénanque erzählt Geschichte nicht als abgeschlossenen politischen Zeitraum. Stalins Tod liegt drei Jahre zurück, Amnestien sind in Kraft, aber weder ein moralischer noch ein sozialer Neuanfang ist möglich.
Tout cela était sans importance. Pour Pal Vadas, cette petite guerre n’avait été que le décor d’une journée d’hiver en apparence banale qui avait marqué le début de son accomplissement. Au matin du 1er janvier 1957, une prison s’était ouverte dans la banlieue de Budapest, pour la sortie d’un homme qui y croupissait depuis neuf ans. Son frère, qu’il avait maudit. […] La liberté, en particulier, que le sang des jeunes Hongrois avait défendue quelques jours. […] Les patrouilles sillonnaient les rues, l’armée était partout. Seul manquait le bruit de la guerre pour ne plus croire à la fin de l’insurrection, les nuits hachées de balles traçantes, les charges tirées des batteries de la citadelle pilonnant le vieux palais et le vol bas des Migs en flèches au-dessus de la ville. […] Sur les façades, les habitants grattaient encore les graffitis : « Ruski damoï », « Russes dehors » et les drapeaux troués en leur centre pour en arracher l’étoile rouge des communistes avaient été décrochés des fenêtres. Sage précaution. Les descentes de l’AVO, la police secrète hongroise, étaient fréquentes dans ces quartiers pauvres. Et ces hommes à l’uniforme verdâtre, crânes coiffés de chapkas, avaient soif de sang. […] On les avait chassés dans les rues de Budapest, avant l’arrivée des chars, comme tous les traîtres à la solde des Russes. L’un d’eux avait été pendu par les pieds sur cette avenue après avoir été lynché par les « fascistes », comme il était prudent d’appeler les révolutionnaires de 56. Aujourd’hui, ils régnaient à nouveau en maîtres dans la ville.
All das war unwichtig. Für Pal Vadas war dieser kleine Krieg nur die Kulisse eines scheinbar gewöhnlichen Wintertages gewesen, der den Beginn seiner Erfüllung markierte. Am Morgen des 1. Januar 1957 wurde in einem Vorort von Budapest ein Gefängnis geöffnet, um einen Mann freizulassen, der dort seit neun Jahren schmachtete. Seinen Bruder, den er verflucht hatte. […] Vor allem die Freiheit, für die das Blut junger Ungarn einige Tage lang vergossen worden war. […] Patrouillen durchstreiften die Straßen, die Armee war überall. Es fehlte nur noch der Lärm des Krieges, um nicht mehr an das Ende des Aufstands zu glauben, die von Leuchtspurgeschossen zerrissenen Nächte, die Geschosse aus den Batterien der Zitadelle, die den alten Palast beschossen, und der tiefe Flug der Migs, die wie Pfeile über die Stadt schossen. […] An den Fassaden kratzten die Bewohner noch immer die Graffitis ab: „Ruski damoï“, „Russen raus“, und die Fahnen, in deren Mitte Löcher gestanzt worden waren, um den roten Stern der Kommunisten herauszureißen, waren aus den Fenstern genommen worden. Eine kluge Vorsichtsmaßnahme. Die Razzien der AVO, der ungarischen Geheimpolizei, waren in diesen Armenvierteln häufig. Und diese Männer in grünlichen Uniformen, mit Chapkas auf dem Kopf, waren blutrünstig. […] Vor der Ankunft der Panzer waren sie wie alle Verräter im Sold der Russen aus den Straßen Budapests vertrieben worden. Einer von ihnen war auf dieser Allee an den Füßen aufgehängt worden, nachdem er von den „Faschisten“ gelyncht worden war, wie man die Revolutionäre von 1956 vorsichtshalber nannte. Heute herrschten sie wieder als Herren über die Stadt.
Dieser Abschnitt situiert die Haupthandlung in Budapest, kurz nach der blutigen Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch sowjetische Panzer. Für Figuren wie Pal Vadas ist dieser historische Umbruch lediglich eine „kleine Szenerie“ („petit décor“) für private Rachepläne, ausgelöst durch die Freilassung seines Bruders Lazar. Die ungarische Revolution selbst, die kurze Zeit der Freiheit, wird als blutiger Fehlschlag dargestellt. Die totalitäre Machtstruktur hat ihre Träger gewechselt: Nach den Nazis herrschen nun die Russen, und die ungarische Geheimpolizei AVO regiert wieder. Die posttotalitäre Zeitlichkeit ist damit eine Zeit ohne echten Bruch, in der sich die Gewalt lediglich reproduziert. Die „Straße des Blutes“ (Budapest) und die „Straße der Knochen“ (Kolyma) sind funktional austauschbare Schauplätze derselben fortwährenden Gewalt. Die revolutionären jungen Leute, die die Freiheit verteidigt hatten, sind naive „Märtyrer“, während die alten Mechanismen von Verrat, Rache und Unterdrückung unverändert fortbestehen.
Die Gewalt verlässt den extremen geografischen Raum Sibiriens und diffundiert in neue soziale und räumliche Konstellationen, insbesondere in die Clanstrukturen der Transylvanier Vadas und in die privaten Beziehungen der Überlebenden in Budapest, Moskau und Magadan. Diese historische Erzählweise ist an eine spezifische Zeitstruktur gebunden, in der die Chronologie durch Erinnerungsfragmente, Rückblenden und erzählerische Stillstellungen unterlaufen wird. Die Vergangenheit sickert unaufhörlich in die Gegenwart ein. Die Kolyma ist weniger erinnerter Ort im klassischen Sinne, sie ist innerer Zustand der Figuren und als strukturierendes metaphysisches Prinzip.
Les enfants ne comptaient pas. Ils restaient toujours au-dessous des espérances et s’il leur arrivait, par un mauvais hasard, de les dépasser, ils devenaient des ennemis à abattre. Il n’attendait pas d’affection de la part des siens. Il dirigeait le clan le plus puissant de Hongrie. Il avait éduqué sa progéniture à la manière transylvanienne, qui clouait dans la mémoire les valeurs essentielles : la fidélité au clan et la loyauté absolue envers tous ses membres. Les sentiments ne lui avaient jamais paru nécessaires. Pour les autres ou pour lui-même. Les émotions qui les accompagnaient étaient liquides et gelaient au froid de la Kolyma. L’amitié, l’amour, l’humanité, tout ce qui aux yeux de Pal Vadas semblait s’écouler finissait par durcir et se briser sur le sol gelé des routes qui menaient aux mines. Preuve que les sentiments ne résistaient pas aux conditions extrêmes. Or, la vie se trouvait là. Au bout de la terre sibérienne, plus dure, plus coupante, plus repoussante que n’importe quelle autre au monde. Là où le froid était plus polaire que celui de l’Arctique, les souffrances à subir plus intolérables et l’impression d’absurdité plus déchirante.
Kinder zählten nicht. Sie blieben immer hinter den Erwartungen zurück, und wenn sie durch einen unglücklichen Zufall diese übertrafen, wurden sie zu Feinden, die es zu vernichten galt. Er erwartete keine Zuneigung von seinen Angehörigen. Er führte den mächtigsten Clan Ungarns. Er hatte seine Nachkommen nach transsilvanischer Art erzogen, die ihnen die wesentlichen Werte einprägte: Treue zum Clan und absolute Loyalität gegenüber allen seinen Mitgliedern. Gefühle schienen ihm nie notwendig gewesen zu sein. Weder für andere noch für sich selbst. Die damit verbundenen Emotionen waren flüchtig und gefroren in der Kälte der Kolyma. Freundschaft, Liebe, Menschlichkeit – alles, was in den Augen von Pal Vadas zu verfließen schien, verhärtete sich schließlich und zerbrach auf dem gefrorenen Boden der Straßen, die zu den Minen führten. Ein Beweis dafür, dass Gefühle extremen Bedingungen nicht standhalten konnten. Doch das Leben fand sich dort. Am Ende der sibirischen Erde, härter, schärfer, abstoßender als irgendwo sonst auf der Welt. Dort, wo die Kälte polarer war als die der Arktis, die Leiden unerträglicher und das Gefühl der Absurdität herzzerreißender.
Dieser Auszug beschreibt die innere Verfassung von Pal Vadas, dem Anführer des mächtigen transsilvanischen Clans, und verdeutlicht die Logik der posttotalitären Machtstruktur. Obwohl der Stalinismus formal zusammenbricht, überdauert die durch ihn geformte Gewaltökonomie in den Clanstrukturen. Pal Vadas verkörpert eine radikale Funktionalisierung der Kälte. Die Kälte der Kolyma dient ihm als Metapher und als tatsächliche Kraft, die Emotionen wie Liebe, Freundschaft und Menschlichkeit verflüssigt und schließlich auf dem gefrorenen Boden zerbrechen lässt. Gefühle sind in dieser Nachgeschichte nicht nur unnötig, sondern gefährlich, da sie den extremen Bedingungen der sibirischen Erde – der „Welt am Ende der Welt“ – nicht standhalten. Die einzigen gültigen Werte sind Loyalität und Treue zum Clan, was die archaischen Strukturen widerspiegelt, die totalitäre Systeme nicht auflösen, sondern instrumentalisieren. Die Gewalt der Lager wird hier in die Logik einer kriminellen Organisation überführt, die ihren Reichtum weiterhin auf der Ausbeutung dieses extremen Ortes aufbaut.
Der Roman etabliert eine Poetik der Kälte. Die Kolyma, beschrieben als „Ort des Nichts“ („lieu du rien“), bringt dem menschlichen Leben nichts als „Dunkelheit, Kälte und Negation“. Der Permafrost lässt die Toten nicht verrotten, er konserviert sie als „unreine Eisstücke“, wird zur Metapher für eine historische Situation, in der es keine Erlösung und keine Verwesung gibt. Schuld, Gewalt und Erinnerung bleiben eingefroren und unverändert. Die Kolyma wird als Ort absoluter Immanenz und ohne transzendenten Sinn dargestellt, im Gegensatz zu Erzählungen, die im Leiden noch eine Chance auf Erlösung sehen.
Dieser radikale Ansatz steht im programmatischen Dialog mit der Lagerliteratur, insbesondere mit Warlam Schalamow, dessen Skepsis gegenüber jeder Sinnstiftung übernommen wird. Die Zeugen der stalinistischen Schreckensherrschaft, Schalamow und Solschenizyn, verstanden sich nicht: Während Solschenizyn im Gulag einen Ort der Knechtschaft sah, wo Erlösung möglich blieb, fand Schalamow in der Kolyma nur eine Hölle zur unwiderruflichen Verdammung. Der Roman positioniert sich klar auf Schalamows Seite, der die Notwendigkeit betonte, die Rolle der Truands (der kriminellen Clans) im System der Lager zu verstehen.
Sylla Bach: Zentrum der Gewalt und somatische Präsenz
Die Erzählstränge des Romans sind polyphon, doch sie ordnen sich um die Figur Sylla Bach, die als Gravitationszentrum fungiert. Ihre Lebensgeschichte dient als Paradigma für die historische Poetik des Textes. Sylla Bach verkörpert eine radikale Form des Überlebens nach neun Jahren in der Kolyma, wo sie als „tueuse de chiennes“ (Hündinnen-Killerin) die rechte Hand der Truands und der NKVD-Männer während der Großen Säuberungen war. Ihre Biografie besteht aus Fragmenten, die durch die Lagererfahrung neu zusammengesetzt wurden. Ihre frühe Geschichte – die Aufnahme im Kaukasus durch den Bolschewiken Varlam, ihre Ausbildung in Gewalt – zeigt einen Prozess der Anpassung an ein System extremer Bedingungen.
Die Kolyma hat ihre Wahrnehmungs- und Affektstrukturen neu programmiert. Ihre Emotionslosigkeit und ihre Indifferenz gegenüber Schönheit sind nicht psychologische Abstumpfung. Gefühle sind für Sylla potenzielle Gefahrenquellen; sie frieren in der Kälte der Kolyma ein und zerbrechen auf dem gefrorenen Boden der Straßen. Die Vergangenheit ist in ihr Muskelgedächtnis und ihre Reflexe eingeschrieben. Sichtbare Zeichen sind die Narbe aus ihrer Kindheit am linken Unterarm, eine Verbrennung durch Ätzkalk, die ihre „Pakt mit dem Teufel“ besiegelte, und ihre Tätowierungen der Vory v Zakone (der „Diebe im Gesetz“), zu denen auch die „Tränen aus Blut“ über den Strahlen des Kriminellensterns gehörten.
Syllas Umgang mit Gewalt ist funktionalisiert. Sie tötet ohne Zorn und ohne Lust. Als Pal Vadas sie zwingt, ihm die Details der Ermordung seiner Tochter zu beschreiben (eine Tat, die Sylla auf Befehl von Lazar beging, ohne die wahre Identität des Opfers zu kennen), fragt er, wie der Körper war – „steif? verkrampft? schlaff?“. Syllas Fähigkeit zu dieser „kalten Präzision“ beweist, wie der Gulag Gewalt von jeder moralischen Dimension entkoppelt hat.
Die Musik, die in ihrem Namen „Bach“ anklingt, bildet einen Gegenraum zur Gewalt. Musik ist für Sylla ein Mittel, um Struktur und Ordnung zu erfahren, besonders wenn ihre Finger auf unsichtbaren oder stummen Klaviaturen tanzen. Sie bleibt aber nur eine Erinnerung an eine andere Möglichkeit des Menschseins, die fragil bleibt und die historische Barbarei nicht aufheben kann.
Das Netzwerk der Überlebenden und Täter
Die Figurenkonstellation wird genutzt, um unterschiedliche Modi historischer Erfahrung sichtbar zu machen.
Die Brüder Vadas (Pal und Lazar)
Die Transylvanier Pal und Lazar Vadas sind die Anführer eines mächtigen Clans, der von Drogenhandel auf den Goldabbau in der Kolyma umgestiegen ist. Sie verkörpern die Fortsetzung einer Gewaltökonomie, die sich mühelos an neue historische Kontexte anpasst. Pal Vadas ist der mächtigste Mann der Kolyma, da er die Ausbeutung des Goldes über den Dalstroï (den NKVD-Trust zur Goldförderung) kontrolliert und die Truands zu seinem Vorteil einsetzt. Pal lebt nach der Philosophie, dass „die Emotionen flüssig waren und in der Kälte der Kolyma gefroren“. Für ihn zählen nur die Treue zum Clan und die absolute Loyalität zu seinen Mitgliedern. Er baut seinen Reichtum buchstäblich auf dem Blut und Schweiß der Häftlinge auf der „Straße der Knochen“ („route des os“) auf. Pal sieht in Sylla die Tochter, die er sich gewünscht hätte, und verurteilt sie nach ihrer vermeintlichen Verrats-Tat (der Ermordung seiner Tochter Elia) zu einem „winzigen, einsamen, sterilen Leben“. Diese Strafe — „Ich habe dich nicht getötet, aber ich habe dich zu einer einsamen Frau, einer Waise des Lebens, gemacht“ — ist grausamer als der Tod.
Lazar Vadas, der ältere Bruder, wird durch seine Freilassung 1957 in Budapest zum Auslöser der Handlung. Er versucht, seine Ehre wiederherzustellen und zu beweisen, dass Pal Vadas ihn durch den inszenierten Mord an Elia Vadas verraten hat, um die Führung des Clans zu übernehmen. Lazar beweist wahre Loyalität und Freundschaft, etwa zu seinem Zellengenossen Nicolaï, einem jüdischen Kämpfer, der sich im Auftrag Lazars selbst geopfert hat, um den „Deutschen“ (den Liebhaber von Kallabs Frau) in der Haft zu töten, damit Lazar seine Freiheit und die Unterstützung des rumänischen Truands Kallab erhält.
Varlam, das paradoxe Subjekt
Die Figur Varlam oszilliert zwischen Ideologie, Groteske und Erinnerung. Er ist ein Bolschewik der ersten Stunde, ein Überlebender der Kolyma und dennoch ein treuer Anhänger Stalins, dessen Grausamkeit er entweder ignoriert oder als Verrat seiner Untergebenen abtut. Seine Gedanken sind von Wodka getränkt, und er trägt die Zeichen der Lagererfahrung (Skorbut, Fußdeformität, die ihn zum „Bruder“ Stalins macht). Er verkörpert die Absurdität einer Ideologie, die ihre eigenen Opfer überlebt hat. Varlams paradoxe Treue zur Gewalt, die ihn geformt hat, zeigt eine historische Erfahrung, die in beschädigter Humanität mündet.
Varlam handelt aus verzerrter Väterlichkeit heraus: Er adoptierte Sylla und bildete sie aus. Doch als Pal Vadas Sylla sucht, verrät Varlam sie, indem er das Versteck ihrer Geliebten Kassia an Pal weitergibt, um Sylla selbst vor Pal zu „schützen“. Sylla erkennt den Verrat anhand eines Kinderfähnchens aus dem Városliget, einem Ort, den Varlam nicht besucht haben konnte. Sie verschont ihn, tötet aber den Rattenkönig „Vaillant“ in seinem Atelier, ein Symbol für den Tod seiner loyalen Wächterrolle und die Vergebung, die Varlam Kassias Existenz verdankt.
Kassia und die aporetische Liebe
Kassia, Syllas Geliebte, ist eine Krankenschwester, die ebenfalls im Frauencamp Elguen in der Kolyma interniert war. Dort verlor sie ihr Kind. Ihre Beziehung zu Sylla im Lager, wo sie einander im Angesicht des Todes Trost spendeten, war der Beginn einer existenziellen Bindung. Für Kassia war es „nicht der Tod, dem Sylla in der Kolyma begegnet war, sondern das Leben“.
Kassia verkörpert die Suche nach dem Leben selbst, das älter und loyaler sei als die Liebe, die nur wie ein „Parasit“ darauf sitzt. Ihre Fähigkeit, sich an das Lagerleben anzupassen (z.B. indem sie Hautfragmente und tote Kakerlaken isst, um zu überleben), beweist eine enorme Resilienz. Als Sylla nach neun Jahren der Trennung wieder auftaucht, konfrontiert Kassia sie mit der harten Wahrheit: Syllas ständige Überwachung war kein Schutz, es war Verlassenheit („abandon“). Kassia diagnostiziert bei Sylla, dass sie „zu spät geheilt“ wurde und der Tod sie genommen hat, sodass keine Liebe mehr überleben kann. Syllas Existenz belegt damit die Unmöglichkeit eines versöhnenden Erzählens.
Entmythologisierung und Fazit
Dans une correspondance avec Alexandre Soljenitsyne, après la lecture d’ Une journée d’Ivan Denissovitch, décrivant le quotidien d’un prisonnier dans un camp de travail soviétique, Varlam Chalamov lui demandait : « Où est ce camp merveilleux ? En mon temps, j’y aurais bien passé ne fût-ce qu’une petite année. » Les deux témoins les plus célèbres de la terreur stalinienne ne se comprenaient pas. Quand Soljenitsyne voyait dans le Goulag un lieu d’asservissement où la rédemption restait possible, Chalamov n’y trouvait qu’un enfer construit pour une irrémédiable damnation. […] On dit que c’est un chat qui détermina son refus. Ce chat, qu’il avait vu passer, bien portant, dans une des pages du roman, l’aurait convaincu que leurs expériences ne pouvaient s’accorder. Selon lui, le chat d’Ivan Denissovitch aurait été dévoré par les bagnards de la Kolyma et aucun animal, autre que les chiens du NKVD, n’y aurait survécu.
In einem Briefwechsel mit Alexander Solschenizyn fragte Varlam Schalamow ihn nach der Lektüre von Ein Tag im Leben des Ivan Denisowitsch, in dem der Alltag eines Häftlings in einem sowjetischen Arbeitslager beschrieben wird: „Wo ist dieses wunderbare Lager? Zu meiner Zeit hätte ich gerne auch nur ein kleines Jahr dort verbracht.“ Die beiden berühmtesten Zeugen des stalinistischen Terrors verstanden sich nicht. Während Solschenizyn den Gulag als Ort der Unterwerfung sah, an dem Erlösung möglich war, empfand Schalamow ihn als Hölle, die für eine unabänderliche Verdammnis geschaffen worden war. […] Man sagt, dass eine Katze ausschlaggebend für seine Ablehnung war. Diese Katze, die er auf einer der Seiten des Romans wohlbehalten vorbeilaufen sah, soll ihn davon überzeugt haben, dass ihre Erfahrungen nicht miteinander vereinbar waren. Seiner Meinung nach wäre die Katze von Iwan Denissowitsch von den Sträflingen der Kolyma gefressen worden, und kein Tier außer den Hunden des NKWD hätte dort überleben können.
Obwohl dieser Abschnitt als Vorwort dient, ist er programmatisch für die historische Poetik des Romans. Er etabliert die Hierarchie des Leidens im Gulag-System, indem er den Unterschied zwischen Solschenizyns Gulag und Schalamows Kolyma hervorhebt. Die Kolyma ist für Sénanque der Ort der „unwiderruflichen Verdammnis“ („irrémédiable damnation“), an dem jede Chance auf Erlösung oder Sinnstiftung ausgelöscht ist. Die Freiheit, die nach der Auflösung der Lager folgt, ist daher keine Erlösung, sondern eine Fortsetzung des Grauens. Die Metapher des gut genährten und überlebenden Katers im Roman Solschenizyns kontrastiert mit der Realität der Kolyma, wo selbst Tiere als Nahrungsmittel für die Häftlinge enden mussten. Durch diese Referenz positioniert sich Adieu Kolyma klar in der Tradition Schalamows, der die radikale Skepsis gegenüber jeder narrativen Bewältigung teilt. Die Welt nach der Kolyma ist eine ohne moralischen Restwert, in der das Überleben selbst keine moralische Zeugenschaft mehr verbürgt.
Der Roman arbeitet konsequent mit einer Entmythologisierung historischer Sinnangebote. Obwohl mythische Motive (Unterwelt, Opfer, Wiederkehr, Schicksal) vorhanden sind, verweigert der Text jegliche Transzendenz. Die Kolyma ist ein Ort radikaler Immanenz, wo Geschichte keinen höheren Sinn und keine Erlösung kennt.
Die Verschiebung von der staatlichen Gewalt zur Clan- und Unterweltökonomie (Vadas) folgt der Logik, dass der Totalitarismus nicht endet, er wechselt lediglich seine Träger. Pal Vadas wird schlussendlich vom Clan verstoßen und verliert seine Macht und seinen Status. Er wird durch die Hand des Impassiblen („L’Impassible“) getötet, eines stummen, seelenlosen Mörders, der Sylla nach Magadan begleitet hat, um den Pakt der Gerechtigkeit im Namen Lazars zu erfüllen.
Adieu Kolyma insistiert auf der Fortdauer des Zerstörerischen. Die posttotalitäre Zeitlichkeit ist ohne Zukunftshorizont, in der Erinnerung zwanghaft als „Körperwissen“ und „kalte Präzision“ zurückkehrt. Die Schichten der Gewalt lagern sich sedimentär übereinander, ohne sich aufzulösen. Der Roman ist ein Text der Nachgeschichte, der zeigt, dass das Ende des Totalitarismus nicht das Ende seiner Welt bedeutet.