Brand, Meer, Sandkorn, Stein: Antoine Wauters

Antoine Wauters’ Roman „Haute-Folie“ (Gallimard, 2025) erzählt die Geschichte von Josef, der in eine bäuerliche Familie voller Brüche, Schweigen und Tragödien hineingeboren wird und sein Leben lang gegen die unsichtbaren Lasten seiner Herkunft kämpft. Ausgangspunkt ist ein verheerender Brand, der Hof und Tiere zerstört und eine Kette von Verlusten, Verrat und Tod auslöst, die schließlich in Gewalt, Selbstmord und Schuld mündet. Josef wächst im Schatten dieser Katastrophen auf, zwischen stummen Erwachsenen, zerstörerischen Wiederholungen und dem Zwang, die verdrängte Familiengeschichte mit sich zu tragen – womit sich die Frage verbindet, ob das Aufschreiben eine Form von Befreiung oder eine Wiederholung des Schmerzes darstellt. Wauters’ Prosa arbeitet dabei immer wieder mit lyrisch verdichteten Passagen, die Erinnerungen, Stimmen und Orte ineinanderfließen lassen und die Erfahrung von Verrücktheit (folie) als poetische wie existentielle Grenzerfahrung erfahrbar machen.

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Welt im Taumel: Emmanuel Carrère

Emmanuel Carrères „Kolkhoze“ (P.O.L., 2025) ist ein Familien- und Geschichtsepos, das sich über vier Generationen erstreckt. Es verbindet die russisch-georgischen Wurzeln des Autors mit seiner französischen Identität und stellt persönliche Schicksale in den Kontext großer politischer Umbrüche: von stalinistischer Gewalt und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Carrère verwebt autobiographische Reflexion, Genealogie, politische Philosophie und Geschichtsschreibung, wobei er die Spannung zwischen Erinnern und Verschweigen, Wahrheitssuche und Mythos, privater Intimität und historischer Katastrophe zum literarischen Verfahren erhebt. – Im Zentrum steht die Metapher der Kolchose – historisch Symbol für stalinistische Zwangskollektivierung, im Roman aber zugleich Bild für die Familie als Kollektiv, in dem Wahrheit, Identität und individuelle Freiheit unter kollektive Narrative von Herkunft und Geschichte gedrängt werden. So wird die Familiengeschichte, insbesondere das Schweigen um den kollaborierenden Großvater von Carrère, zum Spiegel für die Mechanismen von Verdrängung und Uchronie in totalitären Systemen. – Die Interpretation arbeitet heraus, wie Carrère die sowjetische Praxis der Geschichtsverfälschung und das Fortleben solcher Mechanismen in Putins Russland thematisiert. Der Roman bindet die Realität des Ukrainekriegs direkt ein und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit heute militärisch wie symbolisch fortgeführt wird. Carrère schildert Putins Regime als „gigantische Dystopie“, in der die Propaganda eine perverse Umkehrung der Realität betreibt. Damit verbindet sich auch ein Bruch mit der Nachsicht gegenüber seiner Mutter, Hélène Carrère d’Encausse, die lange glaubte, Putin sei brutal, aber rational: Der Roman insistiert auf einer klaren moralischen Position, die Aggression und Imperialismus als solche benennt. Schließlich betont der Aufsatz, dass „Kolkhoze“ über die Familienchronik hinaus ein Buch über die Fragilität europäischer Identität ist. Frankreich wird als Gegenpol eingeführt – Ort offizieller Ehrung und Integration –, während Georgien durch Carrères Cousine Salomé als Hoffnung auf Selbstbestimmung gegen imperiale Ansprüche erscheint. „Kolkhoze“ ist eine doppelte Erkundung: genealogisch und politisch, intim und historisch, ein Plädoyer für die Suche nach Wahrheit und moralischer Klarheit im Angesicht einer von Mythen und Gewalt geprägten Vergangenheit.

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Koloniale Schatten Indochinas und eine entzweite Familie: Adrien Genoudet

Adrien Genoudets Roman „Nancy-Saïgon“ (Seuil, 2025) beginnt mit der Entdeckung eines traditionellen indochinesischen Gewandes und eines Kartons voller Briefe, die nach der Einäscherung seiner Großmutter Simone Sanzach die Verbindung zwischen Nancy und Saïgon offenbaren. Der Erzähler taucht in die Korrespondenz seiner Großeltern, Simone und des Offiziers Paul Sanzach, ein, die ein „jeu de dupes“ voller Lügen und Ungesagtem enthüllt und durch die rätselhafte Figur Tilleul, dessen Rolle Verlangen und Verbrechen verknüpft, noch komplexer wird. Diese Suche deckt eine tief gespaltene Familiengeschichte auf, geprägt von Pauls moralischem Verfall und Simones zunehmender Einsamkeit, sowie der tragischen Marginalisierung ihrer Tochter Édithe, die als „la fille de trop“ missverstanden und abgelehnt wird. Hiermit entfaltet Genoudet eine vielschichtige Interpretation kolonialer Vergangenheit und persönlicher Traumata, im Verlauf dessen der Erzähler die verborgenen Wahrheiten seiner Familie entschlüsselt und das Gewicht des Schweigens und der Geschichte beleuchtet.

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Nachtgeschichten: Laurent Mauvignier

Laurent Mauvignier lässt viele seiner Bücher im fiktiven La Bassée spielen, so auch das für diesen Bücher-Herbst 2025 angekündigte und für die französischen Literaturpreise hoch gehandelte „La maison vide“ (2025). Zur Vorbereitung lesen wir seine Nachtgeschichten aus dem Jahr 2020, an dessen Tatort Mauvignier mit seinem neuen Buch zurückkehrt. Laurent Mauvigniers Roman „Histoires de la nuit“ (2020) entfaltet sich in dem isolierten Weiler „L’écart des Trois Filles Seules“, wo die Malerin Christine als Nachbarin des Bauern Patrice, seiner Frau Marion und ihrer Tochter Ida lebt, deren vermeintlich idyllisches Landleben durch die Vorbereitungen zu Marions 40. Geburtstag eine trügerische Fassade erhält. Diese Ruhe wird jäh zerstört, als Marions Ex-Partner Denis, frisch aus dem Gefängnis entlassen und von jahrelanger Rachsucht getrieben, mit seinen Brüdern Christophe und Bègue auftaucht, um Marion für ihren vermeintlichen Verrat und die vorenthaltene Tochter zu bestrafen, was in der brutalen Tötung von Christines Hund Radjah und der Geiselnahme der beiden Frauen gipfelt. Im Verlauf des Abends enthüllt sich Marions gewaltvolle Vergangenheit, während Patrice, der die Wahrheit über seine Frau lange verdrängt hat, zusammen mit Marion einen verzweifelten Kampf um das Überleben ihrer Familie und die Bewahrung ihrer Tochter in einer Nacht blutiger Konfrontationen führt, die tief sitzende Traumata und familiäre Abgründe offenbart.

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Silikonimplantat und Kriegsprothese: Arno Bertina

Arno Bertinas Roman „Des obus, des fesses et des prothèses“ („Granaten, Hintern und Prothesen“, éd. Verticales, 2025) entwirft ein ebenso groteskes wie aufschlussreiches Panorama menschlichen Leidens und Überlebens an einem unwahrscheinlichen Ort: einem luxuriösen Hotelpalast in Gammarth, unweit von Tunis, angesiedelt ein bis zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis und inmitten des libyschen Bürgerkriegs. Auf der einen Seite beherbergt das Hotel schwer verstümmelte Männer, Überlebende des brutalen Libyen-Krieges, deren Körper von Granaten und Kugeln gezeichnet sind. Auf der anderen Seite finden sich Frauen ein, die sich ästhetischen Operationen unterzogen haben und nun, von Verbänden und Hämatomen gezeichnet, ihre Genesung abwarten. Diese beiden Gruppen, deren Körper auf unterschiedliche Weisen „beschädigt“ oder „modifiziert“ wurden, begegnen sich am Rande eines stillgelegten Swimmingpools, was eine Atmosphäre des Unbehagens, der Absurdität und einer stillen Konfrontation schafft, die über die gesamte Erzählung hinweg schwebt.

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Semionaut des Untergangs: Mathieu Larnaudie

Mathieu Larnaudies „Trash Vortex“ (2024) erzählt in scharfer Satire vom Niedergang einer globalen Elite, die sich angesichts ökologischer und politischer Krisen in Bunkerträume, libertäre Fantasien und zynische Profitstrategien flüchtet. Im Zentrum steht Eugénie Valier (alias Liliane Bettencourt), Erbin eines Industrieimperiums, die ihr Erbe nicht an ihren Sohn weitergibt, sondern einer Stiftung zur Reinigung der ozeanischen Müllstrudel vermacht – ein Akt zwischen utopischem Gestus und familiärem Rachefeldzug. Der Roman entfaltet so ein Panorama von Macht, Gier und Verfall, in dem die Faszination für den eigenen Untergang das letzte verbindende Narrativ einer erschöpften Zivilisation bildet.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Lemaire

Philippe Lemaires Roman „L’Arpenteur de rêves“ (2021) lässt sich nicht als bloße Biographie oder historischer Bericht über den Dichter Arthur Rimbaud lesen. Der Text präsentiert vielmehr eine poetische Konstruktion, die auf verschiedenen Ebenen mit der Figur spielt: Rimbaud wird zugleich erzählt, beschworen und neu erfunden. Schon der Titel verweist auf eine doppelte Bewegung: der „Vermesser der Träume“ ist jemand, der das Unmessbare kartographiert, der das Unmögliche in Sprache fasst und zugleich in der Schwebe belässt. Lemaire erzählt Rimbaud, indem er ihn fiktionalisiert, um sein Bild für den Leser neu sichtbar zu machen.

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Rimbaud-Fiktionen: Alain Blottière

Alain Blottières Roman „Azur noir“ (2020) lässt sich als „Rimbaud-Fiktion“ interpretieren, in der der Protagonist Léo eine obsessive und transformative Verbindung zum französischen Dichter Arthur Rimbaud eingeht. Rimbaud ist für Léo nicht bloß eine literarische Figur, sondern wird zu einem zentralen Element seiner persönlichen Erfahrung, seiner Wahrnehmung der Welt und seiner kreativen Entfaltung, insbesondere in einem apokalyptischen Szenario des „Endes der Welt“. Der Roman entfaltet eine reiche Intertextualität, die sich auf biographische Details, poetische Konzepte und thematische Parallelen erstreckt. Die Erzählung ist in einem Kontext eines Endes der Welt („fin du monde“) angesiedelt, geprägt von extremen Hitzewellen, Bränden, Überschwemmungen und Umweltkatastrophen. Léo empfindet diese Gegenwart als unerträglich, und die „Rimbaud-Fiktion“ wird zu seinem „ultime refuge“. Rimbauds Welt, so wie Léo sie in seinen Visionen wahrnimmt, ist ein „Paradies“ ohne die Schrecken der Gegenwart – ein Paris vor der Industrialisierung, voller Pferde, sauberer Luft und unberührter Natur.

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Rimbaud-Fiktionen: Philippe Besson

Philippe Bessons Roman „Les jours fragiles“ (Julliard, 2004) geht von den letzten Lebensjahren des Dichters Arthur Rimbaud aus und zeichnet ein intimes Porträt aus der Perspektive seiner Schwester Isabelle. Der Roman ist eine suggestive Rimbaud-Fiktion, die die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie und Isabelles innere Welt beleuchtet, während sie sich dem Mythos ihres Bruders nähert.

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Rimbaud-Fiktionen: Jean-Michel Lecocq

„Le squelette de Rimbaud“ von Jean-Michel Lecocq ist eine Kriminalgeschichte, die sich um die rätselhafte Entdeckung von Arthur Rimbauds Grab dreht und dabei in die Legenden und das Erbe des Dichters eintaucht. Der Roman spielt in Charleville-Mézières, der Heimatstadt Rimbauds, die in einer Phase kultureller Trägheit und wirtschaftlicher Sparsamkeit verharrt. Diese Lethargie wird jäh unterbrochen, als Georges Hermelin, der kulturverantwortliche stellvertretende Bürgermeister, eine gewagte und provokante Idee vorschlägt: die Erweiterung des Rimbaud-Museums um eine spezielle Ausstellung, deren Herzstück Rimbauds Schenkelknochen sein soll. Der Schock ist jedoch unermesslich, als bei der Öffnung des Sarges festgestellt wird, dass das darin befindliche Skelett beide Beine intakt besitzt und somit nicht Rimbaud gehören kann.

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Partnerschaft und Gewalt im Roman: Nathacha Appanah

Der Titel „La nuit au cœur“ (2025) des neuen Romans von Nathacha Appanah spiegelt die zentralen Themen: Gewalt, Angst, Isolation, Trauma, aber auch Widerstand und die Suche nach Sinn und Erinnerung. Die Struktur des Romans gliedert sich in fünf Teile, die zwischen der persönlichen, autofiktionalen Erzählung der Autorin und den rekonstruierten Schicksalen von Emma und Chahinez wechseln, wobei eine „imaginäre Kammer“ als Ort der Begegnung und Reflexion dient. Der Roman dekonstruiert Feminizide nicht als isolierte Vorfälle, sondern als Ausdruck eines tief verwurzelten patriarchalen Systems, das sich über Kulturen und Zeiten erstreckt. Der Roman kritisiert scharf die patriarchalen Gesellschaften, insbesondere in Algerien und auf Mauritius, wo Frauen mit Scheidung stigmatisiert werden und ihre Autonomie eingeschränkt ist. Die parallele Erzählung der drei Frauen – einer Überlebenden und zwei Opfern – unterstreicht die universelle Gefahr, der Frauen ausgesetzt sind, und die erschreckende Ähnlichkeit der Täterprofile und Gewaltmuster (Kontrolle, Eifersucht, Isolation, physische und psychische Misshandlung).

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Rimbaud-Fiktionen: Samuel Benchetrit

Der Roman „Le coeur en dehors“ (Grasset, 2009) von Samuel Benchetrit führt uns in die Welt von Charlie Traoré, einem zehnjährigen Jungen malisch-schwarzer Herkunft, der in einer französischen Banlieue-Siedlung, einer „Cité“, aufwächst. Sein tägliches Leben ist geprägt von der Zuneigung seiner Mutter Joséphine, seiner Schwärmerei für Mélanie, der Freundschaft zu seinen Kameraden und der Sorge um seinen drogenabhängigen älteren Bruder Henry. Die Handlung setzt dramatisch ein, als Charlies Mutter von der Polizei festgenommen wird, da ihre Papiere nicht in Ordnung sind. Der Roman schildert daraufhin einen einzigen, prägenden Tag in Charlies Leben, während er durch seine Cité streift, um seinen Bruder Henry zu finden und die Geschehnisse um die Verhaftung seiner Mutter zu ergründen. Diese Odyssee führt ihn durch die nach Dichtern benannten Türme, verfallene Einkaufszentren und trostlose Viertel seiner Umgebung. – Charlie selbst kann als eine Art moderner „Seher“ (voyant) im Rimbaud’schen Sinne verstanden werden, auch wenn er selbst keine Verse schreibt.

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Was wirklich neu war in Literatur, Malerei und Musik: Jacques Rivière

Anlässlich seines hundertsten Todestages wird Jacques Rivière in die Sammlung Bouquins aufgenommen, mit einem Band, der sein Werk als Schriftsteller, Kritiker und Essayist beleuchtet, herausgegeben von Robert Kopp in Zusammenarbeit mit Ariane Charton, mit Vorwort von Jean-Yves Tadié. Jacques Rivière (1886–1925), oft als ein „Kritiker von Genie“ beschrieben, der „durch andere lebte“, war eine zentrale …

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Roman choral eines Tals im Périgord: Renaud de Chaumaray

Renaud de Chaumarays Roman „Quitter la vallée“ (Gallimard, 2025) fügt sich in eine Tradition ein, die man im Französischen „roman choral“ oder als „polyphonen Realismus“ bezeichnen könnte: ein literarisches Projekt, das mehrere Stimmen, Lebensläufe und Perspektiven miteinander verschränkt, um daraus ein überindividuelles Bild einer Region, eines Milieus oder einer Epoche zu gewinnen. Mitten im Périgord, genauer in der Vallée de la Vézère, entfaltet Chaumaray drei zunächst voneinander unabhängige Erzählstränge, die sich allmählich berühren, verschränken und überlagern. Der Roman evoziert Landschaft, Geschichte und Gewalt, Erinnerung, Liebe und Flucht, sodass er nicht allein als Ensemble von Einzelschicksalen gelesen werden kann, sondern als eine Art Fresko, in dem sich individuelle Existenz und kollektive Erfahrung untrennbar verbinden.

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Rimbaud-Fiktionen: Pierre Michon und William Marx

In „Rimbaud le fils“ (Gallimard, 1991) verfolgt Pierre Michon nicht das traditionelle Ziel eines Biografen, neue Fakten über Arthur Rimbaud zu enthüllen oder bestehende Studien zu ergänzen. Vielmehr dringt er in die Persönlichkeit und Intimität des Schreibens des Dichters ein, um letztlich zu seiner eigenen schriftstellerischen Stimme zu finden. William Marx (Minuit, 2005) betrachtet das Schweigen Rimbauds als einen Punkt, an dem sich eine Ära des Glaubens an die absolute Macht der Literatur endgültig schließt und die moderne Literatur in eine existenzielle Krise gerät, aus der sie bis heute nicht vollständig herausgefunden hat. – Das bedeutet, dass Michons Buch selbst zu einem Objekt der Marx’schen Analyse werden könnte: als ein Werk, das die „Mythologisierung“ Rimbauds fortsetzt und so zur Aufrechterhaltung des Diskurses über das „Adieu à la littérature“ beiträgt, auch wenn es dies auf eine persönlich-künstlerische und nicht auf eine historisch-soziologische Weise tut.

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Rimbaud-Fiktionen: Yves Bonnefoy

Yves Bonnefoys Werk „Rimbaud“, dessen erste Ausgabe 1961 erschien und 1994 neu aufgelegt wurde, ist gewiss mehr als eine konventionelle Biografie; es ist eine Interpretation von Arthur Rimbauds Leben und Schaffen, die sich auch als „Rimbaud-Dichtung“ verstehen lässt. Bonnefoy verfolgt das explizite Ziel, Rimbauds ureigene „Stimme wiederzufinden, seinen Willen zu entschlüsseln, seinen Akzent wiederzubeleben“.

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Jetzt werden wir Marokko machen: Gilbert Sinoué

Gilbert Sinoués „Au couchant, l’espérance“ (Gallimard, 2025) inszeniert die Entstehung nationaler Unabhängigkeit als Spiegel und Gegenfolie eines individuellen Freiheitskampfs. Der Roman koppelt die politische Befreiung Marokkos an die innere Rekonstruktion seines Protagonisten Hussein Chaoui: Was sich politisch am 16. November 1955 mit der Rückkehr des Sultans Mohammed V und am Ende mit der Unabhängigkeit erfüllt, erscheint erzählstrategisch als späte Antwort auf eine biografische Kette von Verlusten, Verwundungen und Sprachlosigkeiten. Der Roman verschränkt zwei Semantiken der Erlösung: nationale Souveränität und personale Entlastung aus Trauma und Schuld. Die Poetik des Romans besteht darin, diese beiden Linien nicht zu harmonisieren, sondern sie als spannungsvolle Parallelbewegung zu montieren, die von Diskontinuitäten, asymmetrischen Zeiterfahrungen und gebrochener Kommunikation gezeichnet ist.

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Rückkehr nach Athen: Laurent Gaudé

Laurent Gaudés „Zem“ (Actes Sud, 2025), die direkte Fortsetzung zu „Chien 51“ (2022), führt in die dystopische Megalopolis Magnapole zurück, wo das globale GoldTex-Konsortium die radikale soziale Spaltung zwischen den Zonen 1, 2 und 3 verschärft, und erzählt die Wandlung des desillusionierten Ex-Polizisten Zem Sparak. Dieser Band enthüllt die Existenz einer „Zone 4“ in Kreta, die auf Ausbeutung und Sucht beruht, und verdeutlicht, wie globale Konzerne angesichts globaler Klimaprobleme ganze Nationen zur Rohstoffgewinnung und menschlichen Ressource degradieren. Diese Besprechung analysiert, wie Gaudé mit seiner analytisch kühlen und liturgisch verdichteten Sprache universelle Fragen nach Erinnerung, moralischer Integrität und individueller Handlungsmacht in einer konzern-dominierten Welt verhandelt, während Zems Rückkehr nach Athen seine persönliche Suche nach Identität und Widerstand gegen das Vergessen symbolisiert.

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Alain Pacadis als Ikone der Pariser Underground-Szene: Charles Salles

Charles Salles‘ Roman „Alain Pacadis, Face B“, veröffentlicht im Jahr 2023, zeichnet ein vielschichtiges Porträt des französischen Journalisten und der „Glam-Punk-Ikone“ Alain Pacadis. Das Buch beleuchtet Pacadis‘ Leben, das exemplarisch für die radikalen gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der Nachkriegszeit in Paris steht. Es begleitet ihn von seiner Jugend in ärmlichen Verhältnissen und seiner ersten politischen Manifestation im Jahr 1968, die seine Desorientierung und Suche nach Identität offenbart, über seine prägenden Erfahrungen mit Drogen, Sexualität und der Pariser Underground-Szene der 1970er Jahre, bis hin zu seinem tragischen Tod im Jahr 1986. Der Roman erforscht die tiefere, komplexere Persönlichkeit jenseits der Oberfläche: seine Familiengeschichte, seine jüdischen und griechischen Wurzeln, persönliche Traumata wie den Tod des Vaters und den Suizid der Mutter sowie seine tiefen Unsicherheiten. Diese weniger sichtbaren, intimen Schichten seines Wesens bilden seine „B-Seite“.

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Rimbaud-Fiktionen: Victor Kathémo

Der Roman „Le descendant africain d’Arthur Rimbaud“ von Victor Kathémo erzählt die Geschichte des Ich-Erzählers Racho, der in Äthiopien, genauer gesagt in Dirédoua nahe Harar, geboren wurde. Sein Leben nimmt eine unerwartete Wendung, als seine Identitätspapiere gestohlen werden und der Dieb bei einem Unfall ums Leben kommt. Rachos Familie, die sich auf die Adresse in den gestohlenen Dokumenten beruft, hält den Toten für Racho selbst und veranstaltet eine Beerdigung zu seinen Ungunsten. Von seinen Angehörigen als „Wiedergänger“ oder „bösartiger Geist“ missverstanden und gefürchtet, verlässt Racho sein Dorf und begibt sich auf eine schwierige Reise, die er als sein „Kreuzweg“ bezeichnet. Im Verlauf seiner Odyssee entdeckt Racho, dass er ein entfernter Nachfahre Arthur Rimbauds ist. Seine Ururgroßmutter, eine Amhara-Frau und Gewürzhändlerin, hatte in Harar eine „kurze und diskrete Liaison“ mit Rimbaud, aus der nach dessen plötzlicher Abreise ein Kind hervorging.

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rentrée littéraire
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